Ein Balkon mit Seeblick: Der Rochers de Naye
Foto: Herbert Zimmermann
Im Osten des Genfersees gelegen, misst der Rochers de Naye nur dezente 2.042 Meter. Dafür beeindruckt der „Balkon der Riviera“ als Wetterprophet, Sportarena und Aussichtsberg.
Mia Hofmann für das Bergwelten-Magazin April/Mai 2020 für die Schweiz
Die Rockhymne „Eye of the Tiger“ der US-Band Survivor scheppert aus der rustikalen Steinhütte. „Die Musik der 1980erJahre gehört einfach dazu“, erklärt Kristell Le Quenven mit einem verschmitzten Lächeln. Die Pächterin der Buvette de Jaman steht in der Tür, die Arme verschränkt, und blickt hoch zum 2.042 Meter hohen Gipfel des Rochers de Naye.
Die Buvette liegt auf 1.742 Metern über Meer und damit rund 1.700 Meter höher als die Heimat der bretonischen Gastgeberin. „Ich war hier in den Ferien und habe mich sofort in den Ort verliebt!“, erzählt Le Quenven. Die hellblauen Augen stechen im braun gebrannten Gesicht geradezu hervor.
Bergliebhaberin sei sie schon immer gewesen, sagt sie, und „hier habe ich mit dem Genfersee sogar einen Meer-Ersatz!“ Auch eine Stadt ist in der Nähe, wenn’s der Frohnatur auf dem Berg einmal zu ruhig wird. Nach Feierabend schwingt sich Le Quenven in den Mountainbikesattel, schnürt die Laufschuhe oder steigt in die Bahn und taucht ins vibrierende Stadtleben von Montreux oder Lausanne ein.
Die Lage des Rochers de Naye ist einmalig: Majestätisch erhebt sich die markante Felsformation über dem östlichen Ende des Genfersees, direkt oberhalb der Jazzstadt Montreux. Der markante Felskopf in den Waadtländer Voralpen ist von weitherum sichtbar und wird von den Einheimischen liebevoll „Balkon der Riviera“ genannt.
Mit seinen rund 2.000 Höhenmetern ist er der erste Wolkenfänger für von Westen über die Schweiz ziehende Wolken – und somit der ideale Wetterindikator. Am Morgen reicht den Bewohnern von Montreux ein Blick zum Gipfel: Ziehen die Wolken darüber hinweg, wird’s schön; bleiben sie hängen, kann es schon bald regnen.
Nächster Halt: Aussichtsterrasse
In 50 Minuten überwindet die Zahnradbahn auf einer Strecke von 10,3 Kilometern die 1.575 Höhenmeter von Montreux bis zur Bergstation auf 1.967 Metern. Wer will, kann zehn Minuten vorher bei der Buvette de Jaman aussteigen.
Die Bahnwagen rattern rund zwei Meter vor der Fassade vorbei, die Geleise führen sogar zwischen den Tischchen der Aussichtsterrasse durch. Alle halbe Stunde sollten die Gäste deswegen ihre Ellbogen besser einziehen. Selbstverständlich fährt der Zug nur im Schritttempo – und Le Quenven hat ihre Gäste ständig im Blick.
„Ich liebe es, hier in dieser idyllischen Bergwelt einen Betrieb ganz nach meinem Gusto zu betreiben“, erklärt sie mit einem ansteckenden Lachen. Sie mischt bretonische mit regionaler Küche: Neben dem Burger helvétique mit Rösti und Raclette stehen Muscheln auf dem Tisch, nach dem Fondue de Jaman gibt es Tarte au caramel et beurre salé oder hausgemachtes Beeren-Glacé.
Mit den Geschichten über das traditionsreiche Fondue könnte man ein ganzes Buch füllen. Es besteht je zur Hälfte aus Vacherin und aus dem Käse, der auf der nahegelegenen Alp auf dem Col de Jaman (1.511 m) produziert wird. Dieser wenig bekannte Passübergang liegt auf der historischen Käseroute von Gruyère nach Lyon.
Schon im Mittelalter zogen die Käser aus dem Greyerzerland zu Fuß los, um ihre Ware auf dem Markt von Vevey zu verkaufen. Von dort wurde er nach Frankreich und in die ganze Welt verschifft. Hätten die Käser ihre Ware nicht über den Col de Jaman gebuckelt – wer weiß, ob der Gruyère heute eine der bekanntesten Schweizer Käsesorten wäre.
Keuchend erreichen zwei Bergläufer die Buvette de Jaman, reduzieren kurz die Geschwindigkeit und laufen ohne Pause weiter. Gut möglich, dass sie für den jeweils am ersten Sonntag im Juli stattfindenden Berglauf von Montreux auf den Rochers de Naye trainieren.
Vier Deltasegler haben zwischenzeitlich ihre langen Pakete von der Lastfläche der Bahn gehievt und bauen nun ihre Fluggeräte zusammen. Im Hintergrund hört man Bienen summen, ein Hirte treibt seine Schafherde vorbei, Alpendohlen stoßen ihre arttypischen Pfeiflaute aus.
Der Blick Richtung Nordwesten bleibt an einer hohen Felswand hängen. So erschließt sich auch der Name: Les Rochers de Naye bedeutet nichts anderes als „die Felsen von Naye“. Spätestens jetzt wird klar: Wer den Gipfel dieses Berges erreichen will, muss dieses Felsband irgendwie überwinden.
Drei Wege zum Gipfel
Die sportlichste Variante, um das Felsband zu überqueren, ist der Klettersteig. Die Via Ferrata hat der Sportkletterpionier und Alpinhistoriker Claude Remy in den Kalkfels gebohrt. Mit seinem Bruder Yves bildet der heute 67-Jährige eine der bekanntesten Schweizer Seilschaften.
Gemeinsam gelangen ihnen über 1.500 Erstbegehungen, die Zahl der von ihnen erschlossenen Routen geht mittlerweile in die Tausende. Die Mehrzahl davon in der Schweiz, aber auch auf verschiedenen griechischen Inseln. 2008 hat der Waadtländer zusammen mit dem Spezialisten für Hochseilgärten, Jean-Claude Hefti, den Verlauf der Route am Rochers de Naye festgelegt.
Einmal im Jahr durchsteigt Claude die Via Ferrata seither. Heute sind zehn Personen in der Wand unterwegs, die man aus der Distanz nur als farbige Punkte erkennt, die sich langsam, aber stetig nach oben bewegen. Am entspanntesten erreicht man den Gipfel natürlich mit der Bahn. Durch zahlreiche Tunnels und Galerien schlängelt sich das Bahntrasse seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts den Berg hoch.
Die Schutzwälle lassen die Schneemassen im Winter erahnen. Im Winter steigen auch viele Schneesportler in die Zahnradbahn: Ab der Station La Perche führt eine Naturpiste bis nach Haut-de-Caux, sogar drei Skilifte sind dann in Betrieb. Niklaus Mani, seit 38 Jahren bei der Montreux-Berner Oberland-Bahn (MOB) tätig, erinnert sich: „Als man sie noch ganz öffnen konnte, stürzten sich die Skifahrer morgens aus den Fenstern, um als Erste durch den Powder sausen zu können!“
Ursprünglich aus dem Saanenland, hat er vor gut zwanzig Jahren mit Frau und Kindern in Montreux eine neue Heimat gefunden. Auf seinem Hausberg findet Mani in erster Linie Entspannung. Wenn ihm die Hektik im Tal unten zu viel wird, dann übernachtet er mit dem Schlafsack oben auf dem Berg – am liebsten in den Sternschnuppennächten im August.
Die dritte Variante, das Felsband zu überwinden, bietet den größten Abenteuerwert: Sie führt durch die Grottes de Naye, eine langgezogene, natürliche Höhle. Wer keine rutschfesten Schuhe trägt, Stirnlampe und Handschuhe vergessen hat, kann auch auf dem Wanderweg und über Metalltreppen hochsteigen.
Für alle anderen gilt: Ab in den Bergschlund! Kalt weht einem der Wind beim Einstieg entgegen, den Rucksack trägt man platzsparend am Bauch, dann geht’s auf allen vieren hoch auf den feuchten und rutschigen Felsen. Wer am Kraxeln Spaß hat, wird doppelt belohnt:
Die Höhle weitet sich immer mehr, bis sie im oberen Teil an eine Kathedrale erinnert. Die Stimmen hallen wider, und im Schein der Stirnlampe lassen sich filigrane Felsformationen erspähen. Kurz nach dem Ausstieg ist der Grat überschritten, und die Bergstation ist in Sichtweite.
Bis vor kurzem lebten in den sieben großen Gehegen am Berg verschiedene Murmeltierarten aus der ganzen Welt. Aktuell ist nur noch das Gehege unmittelbar neben dem Restaurant von einheimischen Murmeli bewohnt. Niklaus Mani erklärt: „Die Kolonien starben langsam aus – und heute geht der Trend sowieso in Richtung mehr Natürlichkeit.“
Mani empfiehlt deshalb, am Berg die Augen offen zu halten: „Hier im Tal leben rund 35 wilde Murmeltiere, am Dent de Jaman wohnt eine Gämsenkolonie, und ab und zu schaut auch das Bartgeier-Paar aus Les Diablerets vorbei.“ Eine Funk-Antenne, ein Triangulationspunkt und die Aussichtsplattform markieren den höchsten Punkt des frei stehenden Bergs.
Entsprechend beeindruckend ist auch das Panorama: Der Blick reicht von den Weinbergen des Lavaux bis nach Evian am französischen Ufer des Genfersees und von Les Diablerets, Eiger, Mönch und Jungfrau zum Montblanc. Innehalten und staunen.
Diesem atemberaubenden Ausblick verdankt der Rochers de Naye seine Beliebtheit: An schönen Tagen fahren bis zu 800 Personen mit der Bahn hoch. Verpflegen können sie sich im Selbstbedienungsrestaurant sowie im „Plein Roc“, das direkt in den Fels gehauen ist.
Das Restaurant wird eindrucksvoll über einen 200 Meter langen Gang erreicht und gibt den Blick auf den Genfersee frei. Rund um den Rochers de Naye verteilen sich Wanderer, Bergläufer und Ausflügler auf den verschiedenen Wanderwegen oder besuchen den Alpengarten „La Rambertia“. Die Verantwortung für den schon 1896 gegründeten Jardin Alpin trägt Anne-Catherine Monod.
Obwohl sie heute mit Mann und Hund den freien Tag genießt, kann sie die Arbeit nicht ruhen lassen: Monod sammelt Samen, die sie später in die ganze Welt verschicken wird – natürlich mit kantonaler Bewilligung. Die Botanikerin erklärt: „Typische Alpenpflanzen sind normalerweise klein, behaart, und ihre Blüten leuchten intensiv.“ Erstgenanntes zum Schutz vor garstigem Wetter, Letztgenanntes, um die Insekten anzulocken.
Das Spezielle an dem traditionsreichen Alpengarten: Er schmiegt sich auf beiden Seiten an den Fels und bietet so Süd- und Nordlage. Auch deshalb wachsen hier über tausend verschiedene Pflanzenarten. Im Aufsichtshäuschen des Gartens sitzt Milo Genasci. Unter der Brille im schmalen Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab. „Die meisten Leute wollen vor allem rasch ein Edelweiß sehen!“
Er zeigt auf zwei weiße Blumen: „Diese zwei Exemplare stammen aus China. Wir haben sie extra hierhin gepflanzt – die einheimischen blühen gerade nicht.“ Es gebe andererseits aber auch Menschen, die sich viel Zeit nehmen für den Gartenbesuch. So komme es zu besonderen Begegnungen: „Eines Tages tauchte ein Medizinmann aus Madagaskar auf“, erzählt Genasci.
„Er wollte von allen Pflanzen die Wirkung wissen – da stieß ich dann an meine Grenzen“. Auf der Fahrt mit der Zahnradbahn sticht ein Schild ins Auge: „Vers chez Claude“ steht weiß auf blau am Bahnhof von Haut-de-Caux. Es gilt Claude Nobs, dem 2013 verstorbenen Gründer des Montreux Jazz Festivals, das jeden Sommer tausende Musikliebhaber an die Riviera lockt.
Das große Jazz-Archiv
Gleich unterhalb des Hotel-Restaurants Le Coucou liegen seine zwei Chalets. Zu sehen sind von außen nur die graubraunen Schindeldächer. Laut Bähnler Niklaus Mani warten darin große Schätze: „Im Keller lagert das Archiv mit den Filmaufzeichnungen aller Konzerte des Jazzfestivals, alles ist voller Souvenirs – und im Erdgeschoss steht der Flügel von Freddie Mercury.“
Ein Stück Jazz findet man auf diese Weise auch auf dem Rochers de Naye: Während des Festivals gibt’s in der Zahnradbahn auch Jazzkonzerte auf der Fahrt zum Gipfel. Wie kein anderer Berg verbindet das Felsmassiv Rochers de Naye so Musik, Kulinarik und Naturattraktionen in einer prachtvollen Kulisse.
Damit ist und bleibt der 2.042 Meter hohe Berg in den Waadtländer Voralpen ein beliebtes Ziel für Jung und Alt, für Abenteurer, Natur- oder Musikliebhaber, aber genauso für Ruhesuchende, die den Sternschnuppenregen in lauen Augustnächten allein am Gipfel genießen.
1. Für Wasser-Freunde: Durch die Gorges du Chauderon
Stadt, Land, Bach gibt es auf dieser abwechslungsreichen Wanderung zu erleben: Von Haut-de-Caux geht es vorbei an den Chalets von Claude Nobs, dem ehemaligen Hotel Palace und dem einstigen Ferienhaus von Sisi nach Glion. Dort wechselt die Landschaft merklich: In der Schlucht Gorges du Chauderon folgt man dem Bachlauf und fühlt sich – umgeben von üppig wachsendem Farn, Moos und anderem Gewächs – wie im Dschungel.
2. Für Weitwanderer: Via Alpina - Etappe 19
Die Wanderung startet in Rossinière bei der historischen Brücke aus dem Jahr 1650. Von dort führt die Route hoch zum Col de Solomon. Nach dem Abstieg ins Hongrintal folgt ein erneuter Anstieg zum aussichtsreichen Col de Chaude (1.621 m). Von dort geht’s über einen attraktiven Grat weiter bergauf bis zur Bergstation der Zahnradbahn auf dem Rochers de Naye.
Via Alpina - Etappe 19: Rossinière – Rochers de Naye
3. Für Blumen-Liebhaber: Narzissenweg von Les Avants
Gut verbinden kann man das Erlebnisgebiet am Rochers de Naye mit den für seine Narzissen berühmten Les Pléiades (1.360 m): Gleich zu Beginn geht’s am Felskopf Dent de Jaman (1.874 m) vorbei. Man passiert den Col de Soladier (1.576 m) und gelangt über Les Mossettes durch moorige Gebiete zur Bergstation Les Pléiades. Am besten unternimmt man die Wanderung im Mai. Dann blühen die Narzissen am Schönsten.
Der Narzissenweg von Les Avants
4. Für Klettersteig-Geher: Via Ferrata Rochers de Naye
Fantastische Seesicht genießt man auf der Via Ferrata Rochers de Naye. Der rasante Klettersteig richtet sich an erfahrene Klettersteiggeher und ist mit D/E bewertet. Belohnung für die Mühen ist eine der schönsten Aussichten der Schweiz.
Rochers de Naye
5. Für Mountainbiker: Singletrailabenteuer mit Bahnunterstützung
Die Tour startet äußerst gemütlich: Mit der Zahnradbahn schaukelt man bequem auf den Berg. An der Bergstation warten 2.000 Tiefenmeter darauf unter die Stollen genommen zu werden. Der flowige Singletrail führt zunächst am Bergrücken entlang nach Creux à la Cierge (1.454 m). Dort rollt man ein kurzes Stück auf der Strasse hinab, um den rasanten Ritt auf einem Singletrail durch die Rebbergen oberhalb von Villeneuve und durch steiles bewaldetes Gelände nach Montreux fortzusetzen.
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