Hoch über Tirol
Sechs Tage, 140 Kilometer, 18.000 Höhenmeter – und 12 Seiten zum Staunen und Träumen. Die Hoch-Tirol ist die vielleicht atemberaubendste Skiroute der Ostalpen. Erst recht, wenn der legendäre Steve House die Spur für dich zieht.
Florian Scheimpflug für das Bergweltenmagazin Jänner 2019
Skitouren weisen meist zwei Gemeinsamkeiten auf: Der Ausgangspunkt ist gleichzeitig der Endpunkt. Und die Tour dauert einen Tag – bestenfalls mit einer Hüttenübernachtung dazwischen. Wenn man dann, unten angekommen, einen letzten Blick nach oben wirft, stellt man sich manchmal die Frage: Wie würde es sich wohl anfühlen, die eigene Spur weiter über Grate wandern zu lassen, sie quer über die schneebedeckten Flächen endloser Keese zu legen und von Gipfel zu Gipfel zu ziehen, bis die Skispitzen den Horizont berühren?
Mit dem amerikanischen Extremalpinisten Steve House und seiner Frau, der gebürtigen Klagenfurterin Eva, kann ich als Teil einer kleinen Gruppe motivierter Skibergsteiger diesem Gefühl eine Woche lang auf den Grund gehen: Von Kasern in Südtirol aus auf der schönsten Skitraverse Österreichs, der Hoch-Tirol.
Steve House ist in Bergsteigerkreisen ein klingender Name. Wer House hört, der denkt zumeist an den Nanga Parbat (8.125 m) im Himalaya. Zusammen mit Vince Anderson gelang Steve im September 2005 die Anderson/House, eine grimmige, 4.100 Meter lange Neuroute durch den zentralen Teil der Rupalflanke, der größten Wand der Welt.
Bahnbrechend war diese Begehung wegen ihrer schieren Dimension und weil sie im Alpinstil durchgeführt wurde: also ohne vorbereitete Zwischenlager, ohne Träger, ohne Flaschensauerstoff. Um so schnell wie möglich zu sein, beschränkten sich Steve und Vince auf so wenig Material, dass der kleinste Fehler fatale Folgen gehabt hätte. Die Rucksäcke, die sie auf der anspruchsvollsten Route ihres Lebens mit hatten, waren kaum größer als unser Hoch-Tirol-Marschgepäck.
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Eva findet Steve
Wie Steve weiß auch seine Frau Eva seit früher Jugend, was es heißt, sich mit den Elementen zu messen, auch wenn deren Aggregatzustand in ihrem Fall oft ein anderer war. Statt in Schnee und Eis war Eva meistens im Wasser unterwegs und holte mehrere Staatsmeistertitel im Kajakfahren. In den Bergen ist die top-fitte Kärntnerin aber genauso sattelfest.
Wie die Klagenfurterin und der Amerikaner zusammenfanden? „Ich hab ihm einfach geschrieben, weil ich eine Frage zu seinem Buch hatte“, erzählt Eva mit einem Lächeln auf den Lippen, „und Steve hat rasch geantwortet.“ Nicht aller Anfang muss also schwer sein. Und wenn man sieht, mit welcher Freude die beiden ihre Leidenschaft teilen und leben, wundert es nicht, dass es zwischen den beiden schnell gefunkt hat.
Seither pendelt das Paar im Halbjahresrhythmus zwischen dem amerikanischen Bundesstaat Colorado und Kärnten. Daher scheint es nur logisch, dass Eva mit ihrem Steve auch die heimatlichen Berge entdecken will. Und dafür ist die Hoch-Tirol natürlich perfekt.
Wer sich auf diese „Expedition vor der Haustür“ einlässt, hat sich viel vorgenommen. Auf den ersten Blick vielleicht zu viel, denn die Zahlen sind hart. Mehr als 18.000 Höhenmeter verteilen sich auf 140 Kilometer Wegstrecke, und das in sechs bis sieben Tagen. Mit anderen Worten: 18 Skitouren normaler Dosierung und etwas mehr als drei Marathons in einer Woche.
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Nicht ohne Gute-Nacht-Stamperl
Angesichts solcher Angaben kann man schon vor dem ersten Schritt weiche Knie bekommen. Keine Angst, wir sprechen hier vom Höchstmaß, die mildernden Umstände sind noch nicht eingerechnet. Letztlich gelten diese Zahlen nur, wenn man alle Gipfel am Weg, vom Großen Geiger (3.360 m) über den Großvenediger (3.657 m), die Granatspitze (3.086 m) und den Stubacher Sonnblick (3.088 m) bis zum Großglockner (3.798 m), mitnimmt.
Wie bei jedem Jackpot braucht es bei diesem Fünferpack Glück. Denn die Launen des Wetters sollten mitspielen.
Eine solide Grundlagenausdauer ist natürlich die Basis, ein Ironman braucht man aber nicht sein, um auf der Hoch-Tirol Spaß zu haben. Denn jede Etappe endet an einer bewirtschafteten Hütte. Es muss also keiner ohne eine ausgiebige warme Mahlzeit und ein Gute-Nacht-Stamperl ins Bett.
Eine gewaltige Schneewanne
Allerdings sollte man sich von diesen Annehmlichkeiten an den Tagesrändern nicht täuschen lassen: Die Erholungsmomente sind auf dieser Tour dünn gesät. Die Tage beginnen früh und enden spät. Im Idealfall liegt die Gehzeit zwischen sechs und acht Stunden.
Addiert man Höhe, Wind und die Anstrengung des Vortages hinzu, steht da schon einiges auf der Rechnung. Und wer einmal erlebt hat, wie abrupt das Wetter im Hochgebirge umschlagen kann, weiß auch, wie schnell guter Rat trotz Hüttennähe wertvoll werden kann.
Die Essener-Rostocker Hütte liegt am zweiten Tag schon lange hinter uns, als wir durch die gewaltige Schneewanne des immer steiler werdenden Maurertals in Richtung des Großen Geiger stapfen. Dann wird plötzlich ein Schalter umgelegt: Kuppen, Grate und Gipfel, die Sonne, der Himmel und der zart leuchtende Mond – die ganze Welt, die uns die letzten Stunden umgeben hat, ist ohne jede Vorwarnung verschwunden. Verschluckt von reinstem, undurchdringlichem Weiß, das sich wie im Zeitraffer über uns stülpt.
„Ha, das ist ja genau wie am Denali“, höre ich Steve sagen, der als Bergführer oft auf dem höchsten Berg Nordamerikas war und ihn wie seine Westentasche kennt. Na wenigstens hat einer seinen Spaß. Doch wie sollten wir unter diesen Bedingungen die Abseilstelle am Maurertörl finden? Wie wird sich uns der Weg durch das spaltige Labyrinth des Obersulzbachkees erschließen, damit wir uns dann den letzten Anstieg zur Kürsinger Hütte hochkämpfen können? Mit anderen Worten: Wie ein Debakel verhindern?
Als Alpinist erster Güte hat Steve darauf sofort eine Antwort: natürlich mit Karte, Höhenmesser und Gspür! Und Geduld, sollte man hinzufügen, denn Navigationsarbeit kostet immer Zeit, erst recht im Sturm. Bis die Konturen der Kürsinger Hütte in der Dämmerung auftauchen und wir mit geröteten Wangen und tauben Fingern neben dem Ofen Platz nehmen können, vergehen lange Stunden.
Auch am nächsten Morgen hat der Wind nichts von seiner Stärke eingebüßt und lässt das Haus vibrieren, als würden in dessen Keller die gewaltigen Turbinen eines Kraftwerks unter Volllast arbeiten. Die Windspitzen am Großvenediger sollten in der darauffolgenden Nacht bis zu 160 km/h erreichen.
Irgendwann ist der Spuk vorüber. Ein gewaltiger Sternenhimmel schmückt die Kürsinger Hütte, und in der Früh herrscht endlich Ruhe statt Furor. Jedes Molekül scheint jetzt an seinem Platz zu sein. Das Obersulzbachkees ist ein Meer weißer Stille, der Himmel um die Bergspitzen tiefblau, und behutsam schiebt sich das sanfte Morgenlicht die Flanken hoch.
Für uns heißt es damit: Time to-go! Die folgenden Stunden entschädigen für den kräfteraubenden Irrlauf des Vortages, und die Höhenmeter verfliegen so unbemerkt wie die Zeit. Die Schlüsselstelle vor dem Großvenediger in Form eines schmalen Schneegrates wartet keine 30 Meter vom höchsten Punkt entfernt. So manchem Gipfelstürmer haben diese Meter bereits den Wind aus den Segeln genommen, und nicht bloß eine Skitourenpartnerschaft ist genau hier in die Krise geraten. Denn auf beiden Seiten dieses Grates geht es sehr tief hinab.
Das Highlight dieser so gemächlich beginnenden, jedoch so zackig endenden Hoch-Tirol-Etappe ist zweifellos die Abfahrt: Über 2.000 Höhenmeter taucht man durch Gletscherbrüche und fußballfeldgroße Hänge bis auf den Talboden hinunter. Wie im Rausch kurven wir dahin bis ins Innergschlöss, das dieser alpinen Reise den nächsten Fünfsternemoment draufsetzt – märchenhaft schön ist der Talschluss hier.
Wir genießen die Landschaft und atmen tief durch.
Like Himalaya, only smaller
Nach allem, was man von ihm weiß, könnte Steve die Hoch-Tirol eigentlich auf die leichte Schulter nehmen. Wer acht Tage lang in der größten Wand des Himalaya unterwegs war, für den muss eine Skitraverse wie diese wohl Peanuts sein: eine nette Bergwanderung im Winter.
Doch wer so denkt, denkt falsch. „Ich begegne jeder Tour mit dem gleichen Respekt“, erklärt Steve. „Egal ob die Expedition 10.000 Kilometer weit weg ist oder vor der Haustür liegt.“
Diese Einstellung sieht man gleich bei der Besprechung der nächsten Etappe. Aus den Höhenlinien, Knoten und Symbolen der Karte filtert Steve stückchenweise routenrelevante Informationen: Spaltenzonen hier, Umgehungsvarianten da, einladende Hänge, die im Nebelfall zur Nebelfalle werden. Es geht akribisch zur Sache, und man merkt, Steve House, Alpinist, Pionier und Bergführer, ist in seinem Element.
„Im Prinzip“, sagt Steve, „geht es hier wie im Himalaya zu, nur etwas überschaubarer. Ein Whiteout ist hier wie dort gleich undurchsichtig, und in eine Spalte zu fallen tut überall gleich weh.“ Das erfüllt einen schon mit Stolz, wenn man spürt, dass ein Kapazunder wie Steve House unsere Berge wertschätzt und mit solidem Respekt behandelt. Doch mit dem Stolz will ich mich nicht zufriedengeben. Ich beschließe, Steve insgeheim etwas genauer zu beobachten, um mir ein paar Tricks abzuschauen.
Wie geht er an die Sachen heran? Was für geheime Ausrüstungsprototypen hat er im Gepäck? Wo spart er Gewicht?
Das Zen des Packens
In einem seiner Interviews habe ich gelesen, dass Steve den Stiel seiner Zahnbürste absägt, um ein paar Gramm zu sparen. Deshalb durchforste ich eines Nachts seine Toilettentasche, bis ich seine Zahnbürste in der Hand halte. Aber Fehlanzeige, die Oral-B ist unauffällig.
Erst als ich ihn eines Abends dabei beobachte, wie er seinen Rucksack für die nächste Etappe packt, lerne ich eine Lektion: Alle Ausrüstungsgegenstände sind fein säuberlich ausgebreitet. Dann lässt Steve ein Stück nach dem anderen im Rucksack verschwinden, um es im Inneren mit sachtem Druck und Gegendruck in die gewünschte Position zu manövrieren.
Wenn die Konfiguration nicht passt, nimmt er das Teil wieder heraus, greift sich ein anderes und versucht es nochmals. Es ist ein minutiöser Prozess, ein Zen des Packens, bei dem kein Kubikzentimeter ungenützt bleibt.
Nach zehn Minuten ist die Zeremonie beendet. Die Außenhaut ist makellos, eine Oberfläche ohne Wölbungen, ohne Dellen. Dann schultere ich Steves Rucksack probeweise: Die Gewichtsverteilung ist perfekt, ich will ihn gar nicht mehr abnehmen.
Am Morgen geht die Reise vom Matreier Tauernhaus hinunter ins Landecktal und von da über die Granatscharte bis zur luxuriösen Rudolfshütte. Dann weiter auf die Granatspitze und in endlosen Schwüngen hinunter ins Dorfer Tal, wo der Gasthof Taurer zu einer Pause einlädt. Dort wird ein Taxi bestellt – und noch schnell zwölf Minuten zum Lucknerhaus hinübergefahren, dem Ausgangspunkt unserer letzten Etappe.
Für den Gang auf den „Dachfirst Österreichs“, der als großes Finale ansteht, ist Vittorio Messini ein entscheidender Faktor. Vitto ist ein Bergführer aus Kals, der ältesten Bergführergilde in den Ostalpen. Seit 1869 führen die Kalser Gipfelhungrige auf den Großglockner, und es gibt wohl niemanden, der diesen Berg besser kennt als sie. Dieses Wissen ist entscheidend, denn obwohl der Glockner pro Jahr tausendfach bestiegen wird, sollte man ihn und die Wetterbedingungen richtig einschätzen können.
Völlig frei und überm Nebelmeer
Stunden später wabert vor der Stüdlhütte der Nebel, die Sicht geht gegen null. Statt nach krönendem Abschluss am Gipfel sieht es nach unrühmlichem Abstieg aus. „Okay, lasst es uns versuchen“, sagt Vitto, „am Nachmittag soll es sich weiter oben auflockern. Wir könnten Glück haben.“
Wir stapfen durch den Nebel, der Schnee knirscht bei jedem Schritt wie Styropor. Wir gewinnen stetig an Höhe, doch die Sicht ändert sich nicht. Egal ob Ködnitzkees, Kampl oder Luisenscharte: Wir befinden uns im Blindflug, und allein Autopilot Vitto hält uns auf Kurs.
Am Anfang des Glocknerleitl wird der Nebel plötzlich heller, oben am Kleinglockner ist er nicht mehr als ein dünner Schleier, der sich schnell lüftet. Als wir kurz darauf den höchsten Punkt des Großglockner erreichen, stehen wir völlig frei über einem Nebelmeer. Doch was wir sehen, ist mehr als nur ein atemberaubendes Panorama, mehr als nur Gipfel, die vor uns aus dem Nebel ragen.
Als wir die richtigen Bergspitzen miteinander verbinden, können wir die Spur, die wir in den letzten Tagen durch diese grandiose Berglandschaft gezogen haben, ausmachen. „Von hier oben“, bemerkt Steve beeindruckt, „sieht Österreich unendlich groß aus.“