Linas erster Gipfel, der Rittisberg
Die Geschichte einer Erstbesteigung: Wie meine Tochter Lina mit dreieinhalb Jahren den 1.582 Meter hohen Rittisberg bezwang. Plus der Geheimtipp für das Wandern mit den Kleinen.
Stefan Wagner für das Bergweltenmagazin Februar 2016
Unsere erste Papa-Lina-Expedition war ein Jahr her und ein Misserfolg. Lina war damals zweieinhalb, also eigentlich eh höchste Zeit, wenn man in Sichtweite vom Schneeberg wohnt, dachte ich an jenem Sonntagvormittag. Ich checkte den Fahrplan der Schneebergbahn und den Wetterbericht, steckte zwei Bananen, eine Wasserflasche und eine Kinderpelerine in Linas Rucksack und gab der Mutter für den Nachmittag frei.
Lina mochte die ruckelnde Bergfahrt mit der Zahnradbahn sehr. Und als wir bald nach der Bergstation der Schneebergbahn den Gipfel sahen, höchstens ein paar Schritte entfernt, sagte ich:
„Schau, Lina, da gehen wir jetzt rauf.“
Weil ich so gut gelaunt war und um mit Linas Kräften ein wenig hauszuhalten, bot ich ihr an, sie ein Stückchen auf meinen Schultern zu tragen. Und um mit ihrer Laune ein wenig hauszuhalten, ging ich nach rechts, wenn mich Lina am rechten Ohr zog, und nach links, wenn sie am linken Ohr zog.
Das war dumm. Ich hätte das wissen müssen. Denn Lina ist nicht nur ausdauernder als ich darin, Dinge dieser Art unterhaltsam zu finden. Sie ist auch schnell im Ableiten von Gewohnheitsrechten.
Mit der Zeit bekam die Anordnung „Kinderrucksack – Kind – eigener Rucksack – ich“ etwas gefühlt Bremer-Stadtmusikanten-Artiges. Lina zeigte keinerlei Anstalten, selbst auch nur einen einzigen Schritt zu gehen, im Gegenteil, jeder meiner entsprechenden Vorstöße wurde unwirscher abgewiesen. Lina wurde schwerer und schwerer, meine Ohren taten vom gezogen werden schon weh. Ich bockte.
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„Ich mag keinen Kreis mehr gehen, Lina.“ (Sie hatte längst entdeckt, was passiert, wenn sie länger an einem Ohr zieht.)
„Kreis gehen, Papa!“ (Lina zerrte mit Nachdruck.)
„Lina, ich mag das Ohrenziehspiel jetzt gar nicht mehr spielen. Außerdem, geh bitte ein paar Schritte selber.“
„Papa! Tragen!“ (Vielleicht haben Sie schon bemerkt: Lina ist gut im Imperativ.) „Nein. Echt, Lina, du bist doch schon ein großes Mädchen. Und schau mal: Alle Kinder gehen.“
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Ich versuchte sie von meinen Schultern zu wringen. Lina begann zu schreien. Rund um uns waren viele Wochenendausflügler aus Wien, die sehr entspannt geländegängige Goretex-Buggys vor sich herschoben. Manche sahen mich mitleidig an, wahrscheinlich wegen der Schweißperlen auf meiner Stirn oder weil Lina mit den Fersen wütend gegen meine Brust trommelte. Manche sahen mich empört an, wahrscheinlich weil Lina brüllte, als hätte ich sie gerade geprügelt.
Ich fand es alpinistisch und pädagogisch fragwürdig, Lina so zum Gipfelsieg zu verhelfen. Ich glaube, wir fuhren mit demselben Zug wieder runter, mit dem wir raufgekommen waren. Das war unsere erste gemeinsame Expedition.
Gehen wie Nähmaschine
In unsere zweite Expedition, ein Jahr später, gingen wir konservativer vorbereitet. Ich hatte eine maßgeschneiderte Herausforderung recherchiert und den Rittisberg in Ramsau am Dachstein gefunden, einen Berg mit Kinderspielplatz bei der Hütte an der Sessellift-Bergstation, mit einer Sommerrodelbahn und breiten, gemütlich zu begehenden Wegen mit Märchenfiguren an den Rändern.
Ich googelte „Wandern mit Kindern“ und bekam eine Menge Tipps. Den wichtigsten aller Tipps aber, den kriegt man nicht im Internet, den kriegt man nur hier und jetzt, und der stammt von mir. Der wichtigste Tipp lautet: Man muss einen Niko dabeihaben.
Niko ist der Sohn guter Freunde, acht Jahre alt, Linas bester großer Freund / erste kleine Liebe, aber vor allem ist Niko eine Respektsperson, wie sie ein Papa nie sein kann, denn Niko geht schon in die Schule und ist Besitzer eines Star-Wars-Lichtschwerts, das im Dunkeln bunt leuchtet. Ausgeschlossen also, sich vor einem Niko eine Blöße zu geben.
Wie entscheidend das war, zeigte sich schon am Fuße des Rittisbergs, als Lina die Arme hob und sagte: „Tragen! Schultern!“
Ich duckte mich unter der ungewinnbaren Diskussion schlau weg: „Niko, was sagst denn DU, wenn Lina sich tragen lässt, statt selber zu gehen?“
Niko sagte so was wie „tz-tz-tz“, schüttelte konspirativ den Kopf. Das reichte. Lina klemmte die Daumen unter die Rucksackriemen und begann zu marschieren.
Bald zeigte sich: Niko ist nicht nur deutlich mehr Respektsperson als ich, sondern auch der deutlich bessere Bergführer, ein brillantes Gesamtpaket aus Entertainer, Konditionswunder und Einser-Trick. Der geht so: Niko läuft vor bis zur nächsten Wegkehre, hält an ihrem Scheitelpunkt inne, von einem Erlebnis offenbar galaktischer Großartigkeit überrascht, um mit aufgerissenen Augen zu rufen „Boaah! Eine Froooschkönigfigur! Lina!“
Und Lina: wie eine Nähmaschine zur nächsten Kehre.
Nikos Trick nützte sich nicht ab. Funktionierte mit Schneewittchen, Rotkäppchen, bösem Wolf, egal. Lina marschierte, dass einem das Herz aufging.
Mein einziger Beitrag in der nächsten ungefähren Stunde: Ich musste Linas Rucksack übernehmen. Ich hatte mich mit der Frage eingemischt, ob die Jacke nicht zu warm sei in der Sonne. Lina hatte den Kopf geschüttelt, „Mein Rucksack ist zu warm“ gesagt und ihn mir wortlos gereicht, um einem neuen Ruf Nikos zu folgen: „Roootkäääppchen!“
SCHULTER! TRAGEN!
Irgendwann kam ihr die Leichtfüßigkeit ein wenig abhanden, man hätte Angst haben können, dass sie bei einem Kieselstein einfädelt. Noch eine halbe Stunde bis zur Hütte („Da ist der Spielplatz, Lina, der Spielplatz!“, Niko war gut gebrieft), und es wäre sich auch ausgegangen, da kam ein SMS der Mutter, es war genau 10.52 Uhr.
„Geht’s euch gut? Nicht vergessen: Bis 11 unbedingt was zum Essen geben, sonst HUNGERAST.“
Die Versalien hinterfragt niemand, der Lina je in angeschlagener Laune erlebt hat, zumal wenn Hunger im Spiel ist. Weil wenn Lina hungrig ist, wird sie nicht nur unausstehlich, sondern dann mag sie auch nicht essen, wird also noch hungriger und so weiter.
Ich hatte eine Jausenbox mit getrockneten Maulbeeren, Nüssen und Früchteriegeln mit, alles Sachen, die Lina eigentlich mag, aber um 10.54 Uhr: „Mag nicht.“
Lina saß auf einer Bank am Wegesrand, die beiden Männer in ihrem Leben knieten vor ihr, steckten sich Beeren und Nüsse in den Mund und waren verzückt, wie toll das alles schmeckte, aber: „Ich mag nicht.“
10.58. 10.59. 11.00.
Ich will über die nächste Dreiviertelstunde nicht viel sagen, außer vielleicht: Lina saß auf meinen Schultern, sagte „Runter!“, ich ließ sie runter, für bestenfalls zwei trotzige Schritte, ehe sie sich mit verschränkten Armen auf den Weg setzte, „Schulter! Tragen!“, ich hob sie wieder rauf, dabei waren wir jetzt an den landschaftlich richtig schönen Stellen, mit Blick auf den Dachstein, der Himmel makellos blau, aber wenn du so drauf bist, dass dir sogar die Heidi am Wegesrand egal ist, da kann dir der Papa mit seinem Dachstein und dem Himmel gestohlen bleiben.