Ganz schön abgefahren: Mit Skiern durchs Karwendel
Steile Aufstiege, weite Hänge: So nah an der Zivilisation, und doch kann es schnell ziemlich wild werden, wenn man von der Nordkettenbahn oberhalb Innsbrucks auf Skiern ins Karwendel zieht.
Christian Thiele für das Bergwelten-Magazin Dezember/Jänner 2018/19
Normal geht eine Skitour ja so los: Man trifft sich mehr oder weniger pünktlich am Parkplatz, legt mehr oder minder fix los, dann hat der eine hier was vergessen, dem anderen zwickt da was, dem Nächsten ist es zu kalt, weshalb er noch ein Paar dickere Handschuhe braucht, der Nächsten ist es zu warm, weshalb sie die dicke Jacke in den Rucksack kruschtelt und die dünne heraus, und irgendwann rollt die Sache dann.
Bei uns ist das anders. Gemütliches Einrollen, Kontakt zum Schnee finden – das geht gerade nicht, es geht gleich in die Vollen. Wir wollen von der Nordkettenbahn oberhalb Innsbrucks nach Norden, ins Herz des Karwendelgebirges. Und mir schlottern noch vor dem ersten Schwung die Knie.
Mit ausgebleichten Rucksäcken standen die zwei gerade noch in der Gondel. Faltige, schmale Gesichter, die schon lange keinen Lichtschutzfaktor mehr brauchen, von so neumodischem Zeugs wie Skihelmen wollen sie nichts wissen, der Inbegriff von zähen, erfahrenen Skitourengehern.
Natürlich sind sie an uns vorbeigestürmt, waren ruck, zuck in der Bindung. Und jetzt, wo auch wir so langsam mal die Rucksäcke festgezurrt, die Helme aufgesetzt und uns vorsichtig an die Einfahrt in die Rinne herangerutscht haben, stehen sie da im Krisenmodus, keine 50 Höhenmeter unter uns.
Der eine hat den Ski verloren, der andere versucht ihm in die Bindung zu helfen – und jetzt sind wir dran: Das gähnend steile Kar nördlich der Hafelekarspitze, 40, vielleicht auch an die 45 Grad, Felsen links, Felsen rechts, der Schnee wohl irgendwo zwischen verblasenem Bruchharsch, Eisplatten und gelegentlichen Pulvernestern.
Regler Richtung Abenteuer
Durchschnaufen. Stöcke fest umgreifen. Knie gegen den Hang aufstellen. Und dann beherzt in den ersten – Schwung? Nein, eher Sprung. Und noch einer. Und noch einer. Und schon geht’s los mit der wilden Fahrt, irgendwann ist es sogar etwas, was man entfernt als Skifahren bezeichnen könnte.
Caja hat für ihr Studium ein paar Jahre in Innsbruck gelebt, sie ist leidenschaftliche Skifahrerin, aber von der Nordkette ist sie bislang immer nur nach Süden hinuntergefahren, Richtung Innsbruck. Heute wollen wir – also Caja, ihr Nachbar, Spezl und Vertrauens-Bergführer Ludwig Karrasch, Fotograf Hans und ich – einmal in die wilde Seite des Karwendels eintauchen.
Die Schneelage ist bestens, die Wettervorhersage zumindest für diesen Tag kurz vor perfekt, die realen Schneeverhältnisse müssen wir uns anschauen, Genaues lässt sich nur vor Ort feststellen. Bergführer Ludwig meint schon in der Gondel: „War ganz schön windig hier die letzten Tage, das gefällt mir gar nicht. Hoffentlich wird es nicht allzu lawinös!“
Daher: Schau mer mal, dann seh mer schon. Die Felsen lehnen sich endlich zurück, der Hang wird weiter und flacher, auf den letzten 15, 20 Schwüngen wird die Abfahrt tatsächlich noch zum Skigenuss. Abschwingen, durchschnaufen – beim Blick zurück ins Kar erscheint es schon gar nicht mehr sooo steil.
Die beiden havarierten Skitourengeher sind längst an uns vorbeigezogen, also ziehen auch wir die Felle unter die Ski, ein Schluck Wasser aus der Flasche, und auf geht’s, Richtung Osten, Richtung Brandjöcher. Es gibt ja verschiedene Grade und Arten des Skitourengehens. Man kann auf der Piste hinaufhatschen, gemütlich im Restaurant jausnen und dann mehr oder weniger rassig die Piste hinabschwingen, ohne dass man sich um Lawinen oder so etwas einen Kopf machen muss.
Dann kann man Standardtouren gehen, häufig begangene Routen, die meist angespurt sind, wo die beiden Pole Abenteuer und Sicherheit noch in einer guten Balance sind. Wir schieben den Regler aber Richtung Abenteuer: Statt über die Arzler Scharte zurück zur Seegrube oder weiter ins Halltal zu gehen, den Spuren nach, verfolgen wir ein anderes Ziel: Wir wollen zum Hallerangerhaus.
Ludwig leitet uns nördlich der beiden Brandjöcher, er verspricht eine lohnende Abfahrt – dafür müssen jetzt die Ski an den Rücken, der Grataufschwung ist zu steil und zu schmal. So kommen wir kurz in den Genuss eines kleinen Abschnitts Möchtegernalpinismus. Schon bald lockt die Abfahrt, juchzend pflügen wir durch die Pulvernester, kurz vor der Pfeishütte wird wieder aufgefellt.
„Auf geht’s, gemma!“ Ludwig, Deutschlands jüngster Bergführer, sonst ein besonnener, stiller Mann, scheucht uns jetzt, denn wir haben noch relativ viel Tour und relativ wenig Tageslicht übrig. Also kurz ins Isstal hinabgepresst und gleich wieder hinauf zum Lafatscher Joch, und erst im späten abendlichen Licht, nach einer weiteren rassigen Abfahrt durch ein felsiges Couloir, kommen wir am Hallerangerhaus an. Wo könnte der Eingang sein? Ist der Kamin überhaupt frei? Nicht dass wir am Ende den Ofen einheizen und uns selbst ersticken! Irgendwann ist der Eingang gefunden und freigeschaufelt, der Kaminabzug gesichert.
Durst? Wasserhahn auf, Glas füllen, Wasserhahn zu, so geht das im Tal. Im Winterraum geht das anders: Anschüren. Noch mal anschüren. Schnee schaufeln, Schnee schmelzen, abwarten, nachschaufeln, nachschmelzen – und irgendwann ist das erste Glas dann auch mal voll.
Da muss man aufpassen, dass nicht die Müdigkeit den Durst vertreibt! Immerhin können wir Caja von ihren Zucchini befreien, die sie extra mitgeschleppt hat. Die Winterraum-Gnocchi: bei uns eine echte Delikatesse! Der Blick aus dem Fenster am nächsten Morgen ergibt: nichts.
Dichtes Schneetreiben. Die Lawinengefahr ist gestiegen, die Chancen, den nächsten Übergang zu finden, sind gesunken. Abwarten und Tee trinken? Bis sich die Lage beruhigt, dauert es sicher ein paar Tage. Also wählen wir die bequeme Variante und fahren aus dem Tal aus. Bei Caja daheim warten schließlich kühler Radler und heiße Waffeln. Außerdem sind die Berge, zumindest hier im Karwendel, keine Frösche – sie hüpfen nicht davon.