Piz Palü: Ästhet in den Ostalpen
Der Traum vom Piz Palü: Wie es sich anfühlt, auf den vielleicht schönsten Berg der Ostalpen zu steigen. Und warum der Schweizer Bergführer Jan Caspar, der schon über hundert mal am Gipfel war, vom Fliegen träumt.
Vollmond, fast jedenfalls. Immerhin genug Licht, um unseren Stirnlampen am flachen Stück des Gletschers eine wohlverdiente Pause zu gönnen. Seit drei Uhr früh leuchten sie uns schon den Weg, selbst für einen großen Gipfel und hochmotivierte Bergsteiger eine unchristlich frühe Zeit. Aber der Wetterbericht zwingt uns zum frühen Aufbruch, ab Mittag soll der Regen kommen und wir wollen heute noch ganz, ganz unbedingt einen Gipfel machen. Und zwar nicht bloß irgendeinen, sondern einen mit Namen: Den Piz Palü, 3.900 Meter hoch.
Allzu viele Berge gibt es in den Alpen sicherlich nicht, die es in Sachen Aussehen, Ästhetik und klingendem Namen dem „Palü“ gleichtun. Wie ein unnahbarer Halbgott thront er über dem Oberengadiner Dörfchen Pontresina. Der Kenner, in diesem Falle also meistens ein Schweizer, betont hier wohlgemerkt den ersten Vokal, dabei schön langziehen. „Ja, der Paaalü ischt scho a b’sondriger Berg“, meint auch Jan Caspar, blondes Haar, forschender Blick, Bergführer aus Schmitten in Graubünden. „Wunderschön und imposant, aber gleichzeitig relativ einfach und dadurch für viele möglich.“
Relativ einfach also, 1.500 Höhenmeter und 6 Stunden? Kann nur einer behaupten, der mit vier Jahren seine ersten 1.000 Höhenmeter gemacht hat und mit sieben seinen ersten Dreitausender. „Aber das war schon ein riesiges Abenteuer, das erste Mal am Palü. Wir wussten damals nicht, ob wir oben ankommen, ob wir das überhaupt schaffen können“. Wie alt er dabei war? 14. Sein Partner? 12. Alles klar.
Zurück auf dem Gletscher werden unsere Mondschatten langsam fahler, im Osten fängt es an zu dämmern. Seit Stunden hören wir nur ein monotones Knirschen, unsere Steigeisen bohren sich Schritt für Schritt in das langsam tauende Eis des Pers-Gletschers. Sonst eine dämpfende Stille, nur hin und wieder reißt uns ein lauter Wumms aus dem Trott: Von einem der vier Hängegletscher hat sich mal wieder ein Sérac gelöst und kommt fast tausend Meter weiter unten pulverisiert zum Stillstand. Der Berg gähnt, scheint langsam zu erwachen. Wir versuchen es ihm mit dem Sonnenaufgang gleich zu tun.
„Das Spannende am Palü ist für mich mittlerweile nicht mehr der Gipfel, den erreichen wir immer, wenn die Verhältnisse passen. Das Spannende für mich als Bergführer ist es, den Gästen am Gipfel zu gratulieren und den Stolz in ihren Augen zu sehen. Das ist für mich das beste Feedback, da weiß ich, ich hab’ meine Arbeit richtig gemacht.“
Für Jan Caspar hat sich der Piz Palü vom absoluten Abenteuer hin zu ein bisschen Alltag verwandelt. Für uns ist der Berg aber trotzdem noch absolutes Abenteuer, wir sind ja zum ersten Mal hier, so wie Jan mit 14. Und stolz am Gipfel sein, das haben wir uns auch fest vorgenommen. Also weiter, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe in den Schnee tretend. Wie durch ein Labyrinth tastet sich unser Weg weiter bergwärts durch die Spaltenzone. Von einer Schneebrücke erhascht man manchmal einen Blick ins Innere des Gletschers: Tiefblaues Eis, und zwar solange, bis es weit, weit unten einfach Schwarz wird. Man kann nur mutmaßen, wie sich die Erstbesteiger 1866 mit ihrer damaligen Ausrüstung gefühlt haben müssen. „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ (1929, Prädikat: Alpinhistorisch sehenswert) bleibt uns jedenfalls erspart, wir umgehen die Spalten gekonnt.
Endlich oben an der Scharte, Blick hinunter nach Italien, Rucksackdepot. Der finale Anstieg zum Gipfel ist nochmal so richtig steil, das Herz pumpt, die stolze Höhe macht sich jetzt auch physisch bemerkbar. Die letzten Meter am spitzen Firngrat balancieren, und dann stehen wir oben, auf 3.880 Metern über dem Meeresspiegel, Piz Palü Ostgipfel. Ein Jauchzer, Umarmungen, der Stolz in den Augen, jetzt ist er da. Die geplante Überschreitung weiter über den Haupt- und Westgipfel müssen wir auf das nächste Mal verschieben, die Wolken färben sich bereits gefährlich grau. Egal, genug Stolz für heute, und runter müssen wir auch noch.
„Der nächste Schritt am Palü“, sagt Jan später beim Tee auf der Diavolezza-Hütte, „ist für mich ein Tandemflug vom Gipfel. Stell dir vor, du gehst gemütlich rauf, hebst oben ab und sitzt 20 Minuten später unten in Pontresina bei einer Pizza und schaust zurück hoch zum Gletscher.“ Fliegen ist also anscheinend noch so eine Fertigkeit, mit der man in den Engadiner Bergen aufwächst. „Mein Vater war Schweizer Meister im Gleitschirmfliegen, und ich schon in der Luft, bevor ich überhaupt laufen konnte. Das schlägt halt über.“ So wird der Piz Palü also auch für den Bergführer, dessen Gipfelbucheinträge bestimmt schon dreistellig sind, wieder vom Alltag zum Abenteuer: Raufgehen, runterfliegen. So einfach geht das.
Service: Piz Palü
- Der Piz Palü ist eine der schönsten und lohnendsten Hochtouren in der Berninagruppe im Grenzgebiet zwischen dem Schweizer Kanton Graubünden und der italienischen Provinz Sondrio.
- Der Normalweg erfolgt von der Bergstation der Diavolezza (2.973 m) vorbei am Piz Cambrena über den zerklüfteten Persgletscher. Die Hochtour ist technisch unschwierig, allerdings konditionell anspruchsvoll und sehr spaltenreich. Kundiger Bergführer empfohlen.
Tourentipps
- Die fortgeschrittene und noch eindrucksvollere Variante ist die Piz Palü Traverse, bei der alle drei Gipfel des Massivs überschritten werden. Hier kommt am Spinas- und Fortezzagrat Felskletterei im UIAA-Grat 2-3 (je nach Verhältnissen bei Eis sprunghaft schwieriger) und ca. weitere 3 Stunden Zeitaufwand hinzu. Beim Abstieg kann man entweder zur Diavolezza zurückkehren oder über den Morteratschgletscher zur Bovalhütte queren.
- Und dann gibt es natürlich noch den Bumiller-Pfeiler, aber der ist dann wirklich den Alpin-Experten vorbehalten.
Video zur Piz Palü Besteigung
Salewa - Timeline | Facebook
Despite the bad weather we had fun days in Pontresina. #salewagetvertical
Die Reise erfolgte im Zuge der SALEWA BaseCamp Experience.
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