Unter Giganten: Unterwegs im Yosemite-Nationalpark
Foto: William Widmer
Wandertage, die nicht lang genug sein können. Wege und Gipfel, so schön, dass man es kaum fassen mag. Stefan Heuer war in Yosemite, dem ältesten und berühmtesten Nationalpark Amerikas, unterwegs.
Text: Stefan Heuer, Fotos: William Widmer
Wenn nur die Kamera mehr Weitwinkel hätte, um den Blick auf ein gewaltiges Tal einzufangen, das wie eine sattgrüne Schüssel zwischen großen Granitwänden eingebettet ist und durch das sich der Merced River als goldenes Band schlängelt. Wenn sie nur die Gischt erhaschen könnte, die gleich mehrere Regenbogen in die Klamm auf dem Weg zu den Upper Yosemite Falls zaubert. Wenn nur die kalifornische Sonne ein wenig länger scheinen würde, um sich nach vier Stunden ununterbrochenen Aufstiegs auf rund 2.000 Metern noch weiter in die Nadelwälder hinter dem Yosemite Point vorzuarbeiten.
Auch wenn es erst weit nach 20 Uhr dämmert und sich Knie und Beinmuskeln deutlich bemerkbar machen, ist ein Wandertag im ältesten und berühmtesten Nationalpark Amerikas nie lang genug. Zum Glück geht der Abstieg in das bereits im Abendschatten liegende Tal schnell voran, sodass man bald ins Lagerfeuer starren und müde, aber glücklich Pläne für den nächsten Tag schmieden kann. Wohin also morgen wandern, sobald der wolkenlos blaue Himmel wieder lockt?
Tage ohne Anfang und Ende
Der über 3.000 Quadratkilometer große Nationalpark bietet mehr Wanderwege und Gipfel, Wälder und Wiesen, Bäche, Wasserfälle und Seen, als man sich vorstellen kann. Und er ist nur das Filetstück der Region, umgeben von einer Handvoll mindestens ebenso fantastischer Naturschutzgebiete, deren Namen die Herzen eingefleischter Outdoor-Enthusiasten genauso höherschlagen lassen: Emigrant Wilderness, Stanislaus National Forest, Hoover Wilderness, Humboldt-Toiyabe und Inyo National Forests. Im zentralen Hochgebirge der Sierra Nevada kann man notfalls wochenlang abtauchen.
„Die Großartigkeit von Yosemite lässt sich leichter fühlen als erkennen oder gar erklären. Die Dimensionen der Felsen, Bäume und Gewässer stehen in solcher Harmonie zueinander, dass man sie fast nicht wahrnimmt. Ein fruchtbarer Tag, an dem weder Anfang oder Ende gemessen wurde. Eine irdische Ewigkeit. Das Geschenk eines gütigen Gottes.“ So vertraute es John Muir, der in Schottland geborene Naturkundler und erste große Liebhaber des Tals, am 20. Juli 1869 seinem Tagebuch an.
Ohne Muir gäbe es den Nationalpark, der seit 1984 auch UNESCO-Weltnaturerbe ist, nicht. Und seiner Euphorie, sich als Mensch klein und zugleich eins mit der gewaltigen Natur zu fühlen, lässt sich wenig hinzufügen.
„Es ist schlicht ein Traum, hier zu wandern und am Ende – wenn man ganz oben angekommen ist – auch noch zu klettern“, schwärmt Vedant „Wade“ Desai. Er ist angehender Arzt, 29 Jahre alt und kommt aus Pittsburgh am anderen Ende der USA. An diesem milden Abend steht er dünn und drahtig, barfuß und mit schwarzem Rauschebart im legendären Camp 4, Treffpunkt der Kletterhelden seit den 1960er-Jahren und inspiziert seine Ausrüstung. Mit fünf Freunden hat Desai fast ein Jahr an dem kühnen Plan gefeilt, eine 30 Meter lange Slackline zwischen Yosemite Point und einer davor aufragenden Felsnadel namens Lost Arrow Spire anzulegen. Das Kunststoffband wollen sie als ultimativen Hochseilakt überqueren.
Das neue Klettern
„Slacklining ist heute so revolutionär wie vor zwei Generationen das Klettern in einem Naturpark. Man eckt an bei den etablierten Kletterern, bei den Nationalpark-Rangern. Und man stößt an seine eigenen Grenzen, um sie zu überwinden“, berichtet Desai mit einem unverhohlenen Funkeln in den Augen und wickelt 30 Meter Band sorgfältig auf.
24 Stunden später hat sein Team die schwere Ausrüstung auf 2.000 Meter getragen, zwei Nylonbänder in schwindelerregender Höhe über das Tal gespannt und doppelt und dreifach abgesichert. Bevor sich die Pittsburgher auf ihre Slackline vorwagen können, müssen sie eine Nacht unter einem gewaltigen Felsblock am Rande des Abgrunds biwakieren. Der Abendwind rüttelt und schüttelt so sehr an ihrem dünnen Band, dass es Geräusche wie eine heulende Peitsche von sich gibt. Fast drei Meter schwankt es nach oben und unten, als Desai und sein Kletterkumpan Bronson Lockwood am nächsten Vormittag endlich über dem Tal der Täler balancieren.
Bestaunt werden sie von Wanderern, die auf Felsvorsprüngen oberhalb der Yosemite Falls den Atem anhalten. Ein unerwartetes zusätzliches Spektakel nach dem bereits grandiosen Naturschauspiel des Wasserfalls, der über Granitklippen in die Tiefe donnert – allerdings ohne die üblichen Geländer, Warnschilder und Touristen-Selfies. „So viel Arbeit für 30 Minuten Zeit zum Spielen auf der Highline. Dann baut man alles wieder ab, während man sich schon wieder aufs nächste Mal freut“, scherzt der künftige Notarzt. „Ohne Frage ist Yosemite das aufregendste Naturerlebnis meines Lebens.“
Der verschwundene Ranger
Wer Augen und Ohren offen hält, erlebt auf seinen Wanderungen durch Yosemite immer wieder solche magischen Momente. Aufgrund der enormen Größe des Nationalparks erstreckt sich das Terrain von rund 600 auf bis knapp 4.000 Höhenmeter und deckt fünf unterschiedliche Vegetationszonen ab: von Sumpfwiesen und Eichenwäldern über gigantische Redwoods und die Chaparral-Landschaften mit ihrem typischen Unterholz aus immergrünen Eichenbäumen und intensiv duftendem wildem Salbei bis hinauf zu den kargen hochalpinen Felslandschaften, von denen der Blick bis weit in die blassgelben Gebirgswüsten des Nachbarstaates Nevada reicht.
Wer eine Vorstellung vom wilden Hinterland dieser Region bekommen will und davon, was selbst erfahrenen Rangern passieren kann, sollte das packende Buch „The Last Season“ von Eric Blehm lesen. Es beschreibt, wie der erfahrene Ranger Randy Morgenson, der in Yosemite aufgewachsen war, nach 28 Jahren im Außendienst an einem Julitag 1996 in der Sierra Nevada auf Patrouille ging und bis heute spurlos verschwunden ist.
Königswege und Präsidenten-Klippen
Oder man sucht sich ein kleines Stück der beiden Königswege durch diese wilde Welt aus und erkundet es an einem Tag mit der gebührenden Ehrfurcht. Der John Muir Trail, der in 46 Jahren harter Knochenarbeit angelegt und 1938 eingeweiht wurde, misst 340 Kilometer und passiert dabei zehn markante Gipfel. Der von Kanada bis Mexiko verlaufende Pacific Crest Trail bringt es sogar auf 4.265 Kilometer und verläuft im Norden Kaliforniens deckungsgleich mit dem John Muir Trail.
Ein guter Abschnitt des gemeinsamen Weges beginnt an Tuolumne Meadows im Herzen des Parks und führt durch blumenübersäte Wiesen vorbei an Gebirgsseen bis zum Fuß des jäh aufragenden Cathedral Peak. Eine mindestens ebenso gute Perspektive bietet die Wanderung zum Taft Point und weiter zum Glacier Point im Süden. Am besten beginnt man die Tour am frühen Morgen, bevor die Sonne zu hoch steht und sich zu viele andere Besucher über die Serpentinen aus dem Tal geschraubt haben. Dann steht man unvermittelt auf der 2.287 Meter hohen Felsformation, die nach US-Präsident William Howard Taft benannt wurde, und blickt in einsamer Stille hinüber zu den legendären Wänden, zu Half Dome und El Capitan.
Bis ein anderer Frühaufsteher um ein Foto bittet. Nach seiner Promovierung ist Daniel Maser aus Colorado fast drei Monate mit Auto und Rucksack unterwegs, klappert Nationalpark um Nationalpark in einer Handvoll Bundesstaaten ab, bevor er einen Job an der Ostküste antritt. „Drei Tage in Yosemite zu wandern ist eines der großen Highlights meiner Reise. Diese Aussicht…“, schnauft Maser leicht außer Atem, bevor er die Sonnenbrille geraderückt, wieder ins Tal der Giganten blickt und auch verstummt.
Infos und Adressen: Yosemite-Nationalpark, Kalifornien
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