(2) Pitztal: Gletscherglück am Ende der Welt
Redakteurin Ina berichtet in ihrem zweiten Tagebuch-Eintrag von einem Ort am Ende der Welt, umzingelt von Dreitausendern mit einsamen Abfahrten, die sich wie Zungen vom Gletscher ins Tal ausrollen. Und: einer Skitour auf über 3.000 Metern.
Das Pitztal passiert einem nicht. Dorthin verschlägt es einen nicht per Zufall – und schon gar nicht auf der Durchreise. Imst klingt schon nicht nach Metropole. Das Pitztal zieht sich von dort noch einmal 50 Minuten lang weiter. Immer in Richtung Wildspitze, dem Dach Tirols – bis nach Mittelberg. Talschluss. Ende der Welt. Was man hier vergeblich sucht? Après-Ski-Wahnsinn, Apotheken, Supermärkte, Tankstellen, einen Ortskern. Mit Imst verlässt man die Zivilisation. Und begibt sich ins Reich der Berge und des Gletschers.
„Ab 1.500 Meter sind die Leute freundlich“, heißt es. Vermutlich ist dieser Sager im Pitztal entstanden. Meine Bergkumpanin Sophie und ich können uns das zumindest sehr gut vorstellen. Wir verbringen hier ein verlängertes Wochenende. Nebst Freeriden und Erkundungen im Gletscherskigebiet steht natürlich auch wieder eine Skitour am Programm. Mitnehmen wollen wir das Schönste, was das Pitztal zu bieten hat: Burkhard Auer, kurz: Bux. Die urigsten Pitztaler kommen abends in der Almbar Hexenkessl ins Schwärmen, wenn sie von Bux sprechen.
Der 33-jährige ist Bergführer und als solcher Teil der Bergführervereinigung Pitztal. Alle sechs Bergführer der Vereinigung sind gebürtige Pitztaler und kennen „ihren“ Gletscher in- und auswendig. Oft entstammen sie bereits regelrechten Bergführerdynastien, wo Vater, Großvater und selbst Ur-Großvater schon gegen ein Zubrot geführt haben. Auch Bux’ Vater war bereits Bergführer und darüber hinaus Hüttenwirt der Braunschweiger Hütte im hinteren Pitztal. Heute führt die Schwester die Hütte.
Wie das so ist in engen, von Bergen bedrängten und der Außenwelt abgeschnittenen Tälern: Hier gedeihen Originale. Jeder kennt jeden, die Pitztaler sind eine große Familie – zusammengehalten von ungezählten Dreitausendern rings ums Tal. Egal mit wem man spricht: Jeder steuert seine persönliche Geschichte bei, die nahezu immer untrennbar verflochten ist mit der Pitztaler Bergwelt. Und immer sind diese Geschichten wild.
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Nackt Schussfahren
Es sind Anekdoten aus der Kindheit, der Jugend. Buben, die nach der Schule von einer Felswand zur nächsten Schnüre spannen und sich daran entlang hanteln. Jungs, die 1.500 Höhenmeter lange Freeride-Abfahrten Schuss hinabrasen. Nackt. Gegeneinander. Um Zeit. Und jeder hat auch Geschichten von Verlust zu erzählen. Es gibt kaum jemanden, der niemanden aus dem engsten Umfeld am Gletscher verloren hat. Freude und Leid scheinen sich gleichermaßen am Berg zu verstärken.
Die Kulisse rund um den Pitztaler Gletscher gleicht dem Motiv einer übertrieben verkitschten Postkarte. Größe, Schönheit, Unberührtheit kommen hier in geradezu verschwenderischer Manier zum Einsatz. Wer glaubt, am Arlberg am Zenit angelangt zu sein, sollte dringend einmal ins Pitztal fahren. Mit einem entscheidenden Unterschied: Ist am Arlberg die Hölle los, strecken sich Pisten – so breit wie zehn Pistenraupen nebeneinander – in endloser Leere den Pitztaler Gletscher hinunter.
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„Stiefkindtal“, hören wir die Pitztaler über ihr Zuhause sagen. Und wir kommen nicht umhin, uns diebischerweise etwas darüber zu freuen. Denn: Wir sind am Tag unserer Skitour alleine im Gelände unterwegs. Und wie das so ist mit unverspurtem Pulver: Man wiegt sich – freilich fälschlicherweise – im Glauben, besonders zu sein. Vielleicht meldet sich da irgendein vermessener, archaischer Entdeckerdrang, der das Ziehen der ersten Spur mit dem Betreten von Neuland verwechselt.
Uns ist es egal: Uns dringt das Glück aus jeder Pore. Daran ändern auch die Minus 20 Grad Außentemperatur nichts. Auch Bux strahlt. Man hat uns bezüglich seiner Person übrigens nicht zu viel versprochen – aber das nur am Rande. „Ich könnte mir mein Berufsleben nicht schöner vorstellen“, sagt er. Und wir können das nur allzu gut verstehen.
Bald stehen wir am Gipfel des Linken Fernerkogels auf 3.264 Metern, die Sonne streut ihr Funkeln auf den unverspurten Gipfelhang – ein Koloss von einer Abfahrt liegt uns zu Füßen. Großes Jauchzen also, als wir mit unseren Brettern durch den Schnee segeln. Es ist wie Fliegen. Nur viel, viel schöner. Und ganz weit weg von der Zivilisation. Die ist uns übrigens auch keine Sekunde lang abgegangen.
Mehr Informationen rund ums Pitztal: Das Dach Tirols