Wandern in Italien am Lago di Molveno
Es muss nicht immer der Gardasee sein: Der Lago di Molveno im Herzen des Brenta-Massivs ist ein echter Geheimtipp, der dem berühmten Bruder gehörig Konkurrenz macht.
Sissi Pärsch für das Bergweltenmagazin April/Mai 2020
Wieder ein abrupter Stopp und ein Fingerzeig in die Bergwelt. Giordano Faletti gestikuliert links und rechts in die Bergwelt, erzählt von Gipfeln, Wänden und Legenden. Der Campanile Basso hat es dem Bergführer besonders angetan – er ist einer der markantesten und bekanntesten Klettertürme der Dolomiten. Die dünnen Felsnadeln drängen sich hier dicht neben den mächtig Eindruck schindenden Brenta-Bastionen „Der höchste, das war einmal die Cima Tosa“, erklärt der 36-Jährige, „aber seine Eiskappe ist abgeschmolzen und hat ihn schrumpfen lassen.“ Jetzt ist „der mit dem gelben Fleck in der Mitte“, die Cima Brenta, mit 3.152 Metern höher.
Egal in welche Richtung man blickt, die Brenta ist so, wie sie klingt: breit und wuchtig. Die Gebirgsgruppe liegt im Trentino, westlich des Etschtals, durch das die Brennerautobahn in Richtung Gardasee verläuft. Noch vor Trient zweigt man rechts ab und schraubt sich von der mit Plantagen und Reben überzogenen Ebene hoch in die alpine Welt von Paganella im Osten und Brenta im Westen – bis man genau dazwischen einen Punkt erreicht, an dem man nicht mehr weiterwill, weil der Anblick des türkis-blau funkelnden Lago di Molveno gar so schön ist.
Man kann sich kaum ein vorzüglicheres Basislager vorstellen: Der zweitgrößte See des Trentino hat eine ausgezeichnete Wasserqualität, mediterranes Flair mit Sandstrand, alpine Ausblicke, einsame Steinbuchten und das entspannte wie hübsche Örtchen Molveno an seinem Ufer.
Ganz tief rein
Durch schmale Gassen steigen wir zur kleinen Gondelstation, um uns auf das Plateau von Pradel (1.367 m) tragen zu lassen. Keine 500 Höhenmeter später sind wir mitten zwischen den Felsriesen angekommen. „Bei uns kannst du die Berge schnell berühren“, sagt Giordano, während er uns tiefer und tiefer in die Dolomiti di Brenta führt. Hinten blinzelt der Molvenosee herauf, vor uns erhebt sich ein mächtiger Gipfel nach dem anderen. „Bei uns ist alles so nah und alles da“, betont Giordano, „Kletterrouten, hochalpine Touren, leichte Familienwanderungen.“
Beliebt auf Bergwelten
Wir liegen mit unserer Tour ins Valle delle Seghe im östlichen Teil des Massivs irgendwo dazwischen. Entspannt windet sich der Sentiero delle Grotte in den Gebirgsstock. An einem Felstunnel stoppt Giordano wieder abrupt und meint mit ernster Miene und in wunderbar verdrehtem Deutsch: „Manchmal, wenn wir sehr, sehr glücklich sind, dann finden wir hier Fossilien im Sedimentgestein.“ Prüfend wendet er eine Steinplatte in seinen Händen. Wir mögen in diesem Fall kein Glück haben, aber sehr glücklich sind wir dennoch.
Umzingelt von gewaltigen Türmen und Pfeilern, wandern wir auf schmalen Pfaden am Fuße des Campanile Basso, queren steinige Hänge und gluckernde Bäche, bis wir schließlich auf die kleine Hütte der Spellinis stoßen. Das Rifugio Croz dell’Altissimo hat sich ein herrlich lauschiges Plätzchen gesucht. Ab und zu lüftet ein Windstoß das Blätterdach des Buchenwäldchens und gibt den Blick frei auf weißen Fels.
Die monumentale Westwand der Cima Croz dell’Altissimo steigt direkt hinter dem Haus Hunderte von Metern senkrecht auf. Die Hütte steht hier seit bald 60 Jahren. Anfang der 1960er-Jahre, erzählt Stefania Spellini, wurden ihre Großeltern beim Bergsteigen von einem Unwetter überrascht. „An dieser Stelle stand eine verfallene Baracke, in die sie flüchten konnten.“ War es die Dankbarkeit über den Unterschlupf oder die Gewitterromantik – Stefania weiß es nicht, auf jeden Fall kam das Paar auf die Idee, seinen Lebensmittelpunkt hierher, auf 1.480 Meter Höhe, zu verlegen.
Kaum zurück im Tal, gingen sie zu den Behörden, erstanden das Land und bauten ihr Rifugio. Es verwundert nicht, dass Felice Spellini, Stefanias Vater, am Fuße der Brenta-Wände zu einer alpinen Berühmtheit heranwuchs: Bergführer, Bergsteiger, Bergrettungsausbilder, Kletterlegende – als Mensch und als Alpinist kannte und kennt man Felice weit über die Brenta hinaus. Er hat zig Routen eröffnet, und nicht nur ein Klettersteig ist nach ihm benannt. Stefania nickt bestätigend. Einen Fehler habe ihr Vater jedoch gehabt, wirft sie ein: „Er ist zu früh verstorben.“
Auch beliebt
Nun führt sie das kleine Rifugio gemeinsam mit ihrem Bruder Nicola und Mutter Fabiola, die den Sommer über durchgehend auf der Hütte lebt. Ganz selbstverständlich war es für die Geschwister, das Haus weiterzuführen. „Alles, woran ich mich erinnere, ist hier passiert, all meine Erfahrungen habe ich hiergemacht“, sagt Nicola und ergänzt: „Auf jedem Stein hier findest du ein Stück von meinem Knie.“
Stefania bewirtet am liebsten Bergsteiger „oder einfach Menschen, die mit den Bergen zufrieden sind“. Ihnen tischt sie dann vorzugsweise Risotto Teroldego auf, bei dem die typische Traube des Etschtals den Reis tiefviolett färbt.
Wenn Adler klettern
Am nächsten Tag machen wir uns auf der anderen Talseite zur Cima Roda auf, der höchsten Erhebung des zwischen Molveno und Trient gelegenen Paganella-Massivs. Hübsch anzusehen ist der von Sendemasten übersäte Gipfel nicht, dafür bietet er atemberaubende Aussichten: Gardasee im Süden, Brenta und Ortler-Berge im Westen, die Pala-Gruppe im Osten. Besonders spektakulär und tief blicken aber lässt die Via Ferrata delle Aquile.
Der Adlerklettersteig führt auf schmalem Tritt und über schwankende Seilbrücken entlang der Südwand der Paganella. Die Tour ist extrem luftig, mit einigen kniffligen C/D-Passagen. Giordano ist bestens gelaunt, klickt sich flink durch die Senkrechte und versucht gleichzeitig, auch noch den kleinsten Lago im Valle dei Laghi, dem Seental unter uns, aufzuzählen. An einer besonders exponierten Stelle schließen wir zu einem verunsicherten Pärchen auf. Während der Mann vor uns den Herrn im Himmel anruft, lässt sich Giordano in seinen Gurt plumpsen und zückt sein Handy, um den Namen eines Mini-Lagos herauszufinden. Auf über 2.000 Metern hängen wir, auf knapp 200 Metern liegt Trient direkt unter uns. Giordano strahlt.
Auch auf die Teroldego-Reben haben wir vom Klettersteig aus ein Auge geworfen. Im Rifugio La Roda, der obligatorischen Einkehr auf dem Paganella-Plateau, steht die Flasche schon auf dem Tisch, bevor wir uns setzen können – geordert von unserem fürsorglichen Bergführer. Der Wein ist hier hausgemacht, genauso wie die Wurst, das Brot und die Pasta.
Wir blicken Richtung Monte Baldo und Gardasee, der Molvenosee hingegen versteckt sich rechter Hand im Tal. Vielleicht ist das ganz gut so. Vielleicht kann er sich mit seiner zurückgezogenen Lage zwischen den mächtigen Gebirgsstöcken seinen Geheimtipp-Status bewahren – und so weiterhin als vorzügliches Basislager dienen.