Alpenüberquerung: Heimkehren nach 60 Tagen und Nächten unter freiem Himmel
Ana hat ihre letzte Etappe hinter sich gebracht und berichtet uns von der Schwierigkeit des Heimkehrens in die Stadt. Haben ihre Wanderschuhe nach 1.900 km Weg auch viel an Profil verloren, sie selbst hat als Mensch einiges an Profil dazugewonnen. Und an Erinnerungen, die sie hier mit uns teilt.
Die französischen Alpen sind in herbstliche Farben getaucht. Die Luft ist voll Laub und es riecht nach Erneuerung. Mir kommt es wunderbar passend vor, dass ich in meiner letzten Etappe im Herbst ankomme, denn der Herbst ist „meine“ Jahreszeit. Ich bin im Herbst geboren und komme somit irgendwie auch bei mir an. Ich liebe die herbstliche Luft und die Farben, am liebsten würde ich ständig bunte Blätter und Kastanien sammeln.
Die letzte Etappe war von Abschied geprägt. Und von Erinnerung natürlich. Abschied, weil mir jeder Moment vorkam als würde ich ihn festhalten müssen und mir seine Vergänglichkeit dadurch umso deutlicher wurde. Abschied auch, weil meine Kraft nachgelassen hat und mein Körper mich verlangsamt als wolle er mich darauf vorbereiten, dass ich mich bald noch viel weniger bewegen werde. Als wolle auch er hier verweilen und jeden Moment auskosten.
Abschied aber auch, weil sich hier der Sommer verabschiedet. Allerdings auf eine so bunte Art, dass es eine Freude ist. Auch meine letzte Nacht draußen war wunderschön und ich bemühe mich darum, mehr Freude über das Erlebte als Traurigkeit über das Ende der Tour zu empfinden. Aber Mühe kostet mich das schon.
Ich sitze am Flughafen von Lyon und warte auf den Flug nach München. In der einen Hand halte ich immer noch eine kleine Kastanie, die sich glatt und warm in meine Handfläche schmiegt. Mein Uhr sagt ich bin auf 202 m. Ich glaube so weit unten war ich schon sehr lange nicht mehr. Ich habe Kopfschmerzen von der Luft hier und vermutlich auch von der Luft vorher in der Stadt. Die Tastatur liegt auf meinem angewinkelten Bein, es ist keine besonders bequeme Position. Ich gucke auf meine Schuhe und sehe wie wenig Profil noch darauf ist. Sie haben 1.900 km „unter den Hacken“ und ich finde da darf man als Schuh schon Profil verlieren, solange der Träger an Profil gewonnen hat. Und das habe ich. Es ist so unsagbar viel, was ich erlebt habe. Und ich bin so vielen Menschen begegnet, die mich in ihrer Art inspiriert haben und denen ich zu Dank verpflichtet bin.
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Zwischen Wehmut und Weisheit
Wenn ich an den Triglav denke, sehe ich immer noch vor allem weißen Fels und weiter unten die klaren und einladenden blauen Seen vor mir. Es war heiß. Eine Tatsache die mir später in eiskalten Nächten voll Schnee manchmal eingefallen ist. Es war so heiß, dass das Gehen anstrengend war, besonders weil es weiter oben so wenig Wasser gab.
Nie vergessen werde ich die Steinböcke in den Julischen Alpen. Klein, stämmig und völlig furchtlos. In meiner vorletzten Nacht habe ich (aus Wassermangel vermutlich) von einem Wasserfall geträumt. Als ich aufgewacht bin, war zwar da kein Wasserfall, aber sehr deutlich das selbe Geräusch: im Mondlicht stand, keine zwei Meter von meinem Schlafsack entfernt, ein Steinbock. Und pisste. Ich habe ihn Igor getauft. Warum weiß ich nicht.
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Inzwischen sitze ich im Flugzeug. Laut meiner Uhr sind wir gerade auf 945m. Kann es denn sein, dass ich oft wesentlich weiter oben geschlafen habe, als dieses Flugzeug gerade fliegt? Ich bin nachts manchmal von dem „Lärm“ eines Flugzeugs aufgewacht, das über mir flog. Dann dachte ich oft an die Menschen, die da oben in dem Flieger sitzen und vielleicht gerade aus dem Fenster schauen. Ich habe mich amüsiert gefragt, ob sie sich vorstellen können, dass ich da unten liege und sie „sehe“. Jetzt schaue ich selber aus dem Fenster und denke an die Leute die in den Bergen gerade versuchen einzuschlafen und vom Lärm „meines“ Flugzeugs davon abgehalten werden…
In den Karnischen Alpen war der Tag besonders beeindruckend, als ich mit Katalin (meiner Mutter) zusammen den ganzen Tag oben auf dem Grat entlang gewandert bin. Katalins Begeisterung über die Ausblicke und winzige Details auf dem Weg, über Blaubeeren, Wolkenformationen, Felsmuster und Seen hat mich angesteckt und so konnte ich mich doppelt freuen. Es war ein tiefes warmes Gefühl, all die Schönheit die mir so wichtig ist mit ihr teilen zu können und wahrzunehmen wie viel das auch ihr bedeutet.
Ingesamt ist der Karnische Höhenweg eine wundervolle Strecke für alle, die Aussicht und Gratwege lieben. Auch wenn die Etappen zum Teil lang sind, halten sie kaum technische Schwierigkeiten bereit. Man kann aber unterwegs von den Hütten aus viele schöne Klettersteige machen.
Jetzt bin ich in meiner leeren neuen Wohnung in München. Angekommen bin ich nicht. Es ist fast Mitternacht und trotzdem kann ich nicht schlafen. Nur mit dem Rucksack in diese Wohnung zu kommen hat sich richtig angefühlt. Als erstes habe ich meine Matte und meinen Schlafsack auf dem Balkon ausgebreitet, doch diese Zeit ist jetzt vorbei. Das macht mich traurig und ich fühle mich ähnlich leer wie die Wohnung. Zum Glück kommen morgen um 9 Uhr die Umzugshelfer und ab dann wird es so viel zu tun geben, dass ich keinen Platz mehr für Leere haben werde.
Die Dolomiten werden oft als die schönste Region der Alpen beschrieben. Ich habe auch sehr starke Erinnerungen an sie. Aber die Dolomiten sind auch die Region, die ich als am meisten überlaufen in Erinnerung habe. Sicherlich lag das vor allem daran, dass ich ausgerechnet in der Hochsaison der italienischen Ferien dort durchgewandert bin. Die Popularität tut der Region nicht gut, was schade ist. Die Hütten sind oft groß, häufig sehr kommerziell geführt und (außer auf der Büllelejochhütte) habe ich kaum eine urige und freundliche Atmosphäre erlebt.
Zunächst ging es bei mir durch die Sextener Dolomiten, dann durch die Puez Gruppe und schließlich weiter nach Westen bis zum Rosengarten. Besonders eingeprägt hat sich mir die Imposanz der spitzen Zacken, welche die felsigen Berge der Dolomiten nicht nur in der Region der Drei Zinnen ausmachen. Der Fels ist hell und schroff und streckt sich gegen den Himmel als wolle er ihn piksen. Wenn Berge eitel sein könnten, dann wären es die Dolomiten.
Erst in der Puez Gruppe wurde es dann ruhiger. Ein paar landschaftliche Situationen haben sich mir besonders eingeprägt. Einmal war da das magische Licht kurz vor Sonnenuntergang hinter der Schlüterhütte. Ganz tief beeindruckt war ich auch von der Mondlandschaft die mich oben neben der Pisciadúhütte überrascht hat, als ich aus dem Klettersteig kam. Geradezu surreal und still lagen dort auf der großen Ebene die Felsbrocken. Ich spüre noch jetzt die Ruhe, die sie in mir ausgelöst haben.
Jetzt sitze ich in der schon einigermaßen wohnlich eingerichteten Wohnung. Alles ist so schnell gegangen und ich habe noch immer das Gefühl kaum angekommen zu sein. Die Luft in der Stadt bereitet mir Kopfschmerzen und ich bin froh, dass ich diese Wohnung als Rückzugsort habe und nicht viel raus muss in den chaotischen Alltag. Meinen Kleiderschrank einzuräumen hat sich absurd angefühlt. Ich kann nicht fassen, dass ich so viel besitze und ich verstehe auch nicht wozu das alles da sein soll. In den nächsten Tagen werde ich sicher nochmal ordentlich aussortieren. Andererseits: es ist schön, dass alle Sachen einfach sauber sind. Ich glaube das von Hand waschen in Gebirgsbächen ist eines der wenigen Dinge, die mir nicht fehlen werden.
Die Etappe durch die Region von König Ortler war sicher meine liebste Etappe auf der ganzen Tour. Das hat viele Gründe: Die anspruchsvollere Art des Bergsteigens, die Einsamkeit, die Höhe, die Vielfalt der Farben im Gestein und die von mir so geliebten Gletscher spielen eine wichtige Rolle. Die Erfahrung meines ersten Absturzes will ich ebenso wenig vergessen wie diese unbändige Energie, die ich körperlich empfunden habe. Auch habe ich dort eine der schönsten Biwaknächte erlebt. Die Besteigung und das Erlebnis des Ortlergipfels war ebenso sehr ein Höhepunkt wie die Begegnungen mit den Vinschgauern, bei denen ich mich wohler gefühlt habe als bei mir zu Hause.
Auf der Straße hier in der Stadt grüßt man sich nicht. Ich muss über mich selber schmunzeln, wenn ich merke, dass mir das sehr seltsam vorkommt. Und ich grüße manchmal einfach alle Menschen die mir begegnen, auch wenn sie überrascht darüber sind. Warum nicht?
Wie schwer der Abschied von Mals und der ganzen Region um den Ortler war, das habe ich immer noch sehr deutlich in Erinnerung. Aber die Begegnung mit dem Jäger Andi, der mich noch zum Abendessen in seine Alpe einlud, eröffnete in der Graubünden Etappe wieder ein neues Land. Und dann ging es durch den unfassbar schönen Schweizer Nationalpark, hinüber und hinauf zur Chamanna d’Es-Cha, wo ich mit Wirt Michel schweigend einer Föhnwalze dabei zusah, wie sie sich vor der Kulisse der Bernina im Sonnenaufgang über eine Gebirgskette schob. Ihre Kraft und Ruhe trug ich in mir, als ich auf den Piz Kesch kletterte. Diese Hochtour, die ich alleine gemacht habe, zählt zu meinen größten und tollsten Herausforderungen und ich werde das Gefühl nie vergessen.
Die Etappe durch das Tessin war von schlechtem Wetter geprägt. Schnee und Hagel, Kälte und Graupelsturm. Aber trotzdem habe ich die Etappe geliebt. Die Seen, die Einsamkeit, die Wildheit der Landschaft, der Nebel. Und die Sehnsucht nach der Hochtour auf den Basódino, die ich nicht machen konnte. Seit dem Tessin war ich meistens ganz allein unterwegs und bin kaum anderen Menschen begegnet.
Heute ist eine Woche vergangen, seit ich wieder im Tal bin. Seit ich wieder hier bin regnet es. Ich fühle mich verstopft. Oft habe ich das Gefühl nicht richtig Luft zu bekommen. Natürlich ist es schön manche Menschen hier wiederzusehen. Aber ich habe auch das Gefühl, dass mich hier niemand verstehen kann. Auch das Interesse hält sich sehr in Grenzen, aber das finde ich gar nicht so schlimm. Deswegen erzähle ich wenig. Ich will mein Erlebnis nicht verschwenden und was soll ich auch kurz sagen, wenn jemand fragt „Und? Wie war’s?“
Das Wallis ist in meiner Erinnerung leider stark von den Unfällen und dem damit verbundenen Gefühl etwas zu verpassen geprägt. Hier muss ich unbedingt noch einmal zurückkehren und alles Liegengelassene nachholen. Die Region ist auch im Sommer wirklich toll und die großen Höhenunterschiede an jedem Tag sind eine reizvolle Herausforderung. Mitte September war aber einfach schon sehr spät für viele Touren. Die meisten Hütten, die man aufgrund der großen Höhendifferenzen als Basis braucht, hatten schon geschlossen – der frühe Wintereinbruch hat sein Übriges getan.
Aber auch im Wallis bin ich mit unvergesslichen Begegnungen gesegnet worden. Drei Tage habe ich mit Dan, dem Wirt der Cabane des Dix, seiner Freundin Laura, der Mutter Edith und natürlich mit Nanouk, dem kleinen Husky, verbringen dürfen. Ich erinnere mich an diese Menschen als würde ich sie schon immer kennen. Es war auch traumhaft schön auf fast 3.000 m endlich wieder draußen unter dem Sternenhimmel schlafen zu können.
Am Montag beginnen die Proben für unser neues Theaterstück. Die Arbeit ist für mich immer noch sehr weit weg, aber ich muss mich jetzt darauf einlassen. Mir wird das auch gelingen. Aber ich wünsche mir auch, dass es mir dabei gelingt, die innere Ruhe, die ich aus den Bergen mitgenommen habe, bewahren zu können.
Die letzte Etappe durch den Nationalpark La Vanoise und am Rand des Nationalparks Les Écrins war ein würdevoller und farbenfroher Abschluss meines Wegs nach Westen. Ich hatte mein Handy meistens ausgeschaltet, habe mir Zeit genommen und mich den Erinnerungen an alles was in den letzten zwei Monaten passiert ist hingegeben. Immer wieder sind mir Details eingefallen, die ich zwischenzeitlich vergessen hatte. Es gab viele Situationen in denen ich breit lächelnd allein über Bergwege gewandert bin. Oft begleitet von den Brunftrufen der Hirsche oder den ausgelassen herumtobenden Murmeltieren, die einen skurrilen Soundtrack zu meinen Erinnerungen lieferten.
In La Grave hat sich dann auch der Plan für das nächste Projekt konkretisieret. Ich will im Winter eine mehrtägige Splitboardhouchtour durch die Region um den Grand Pic de la Meije machen. Es war schön die Tour mit der Aussicht auf ein neues Projekt zu beenden.
Fest steht: Ich werde weiter gehen. Und ich werde weiter schreiben. Ich freue mich, wenn ihr mich weiter lesend begleitet – hier auf Bergwelten.com und auf meinem eigenen Blog!
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