Graubünden: Wie ein Berg sein!
Im dritten Teil unserer begleitenden Serie zu Ana Zirners Projekt „Ana's Way West“ erzählt uns die Bergsteigerin aus dem bayerischen Chiemgau, wie es ihr in Graubünden auf der sechsten Etappe ihrer Alpenüberquerung ergangen ist.
Während im Außen das Wetter auf meiner sechsten Etappe von Scoul nach Davos turbulent war, sah sich auch mein Innen aufgewühlt. Schon der Beginn der Etappe verhieß Turbulenzen. Wegen des vielen Schnees musste ich die geplante Route abändern. Mich hat das beunruhigt, weil ich zum ersten Mal dachte, die Berge könnten sich mir mit unüberwindbarem Wetter in den Weg stellen. Am selben Tag habe ich erschrocken festgestellt, dass ich mich an die gewaltige Schönheit, die mich hier ständig umgibt, schon fast gewöhnt habe. Ich habe mich immer öfter dabei ertappt, wie ich mich auf dem Weg gedanklich schon mit der Zukunft beschäftige, wie ich auf dem Handy nach Netz suche, um wieder eine Nachricht zu schreiben und wie ich dabei manche Schätze in der Gegenwart verpasse.
Glücklicherweise haben mir ein paar Tautropfen, die wie Perlen an einem Grashalm aufgefädelt waren, und ein unbeschreiblich schöner Regenbogen wieder vor Augen geführt, dass es sich lohnt langsamer zu gehen, stehenzubleiben und genauer hinzusehen. Ich beschreibe hier im Blog ja nur einen Bruchteil dessen, was ich tagtäglich da draußen erlebe. Viele dieser Erfahrungen lassen sich nicht in Worte fassen, geschweige denn fotografieren. Sie sind ganz mein und setzen sich unteilbar in meinem Inneren fest. Dort schlagen sie hoffentlich Wurzeln und lassen mich an ihnen wachsen.
Es bringt hier nicht viel, weit über den nächsten Tag hinaus planen. Unvorhergesehene Vorkommnisse sowie die Launen des Wetters machen oft genug spontane Anpassungen erforderlich. Aber das planerische Denken ist durch meinen Alltag und unsere (mitteleuropäische) Zivilisation so tief in meinem Wesen verankert, dass ich noch jetzt – nach fünf Wochen in den Bergen – oft sinnlos Zeit damit verbringe die Wettervorhersage der nächsten Woche zu studieren. Wohl wissend, dass sie schon am nächsten Tag wieder ganz anders aussehen kann.
Ich habe festgestellt, dass mir das insbesondere dann passiert, wenn ich stehenbleibe. Wenn ich Pause mache. Wenn ich im Tal bin. Dann holt mich mein Alltagshirn ein, mein „Machen-Machen-Machen“-Gen. Dann geht es ums digitale Planen, mediale Teilen, Telefonieren. Alles Substitute, um die Stille zu vermeiden, die hier oben doch so wertvoll und nahrhaft ist. Noch immer hält dieser Drang mich fest und verengt meinen Fokus – zumindest temporär – auf einen 5x10 cm Bildschirm, anstatt die Weite des Moments zu atmen.
Bis dato kam aber meistens alles etwas anders als geplant. Und immer war es gut so. Diese Feststellung gibt mir Vertrauen. Wie oft denken wir, dass man jede Minute nützen muss. „Zeit ist kostbar“, heißt es. Oft nutzen wir diese kostbare Zeit aber nur dazu, die jeweils nächste Zeit zu planen. Wie selten ist es das Hier und Jetzt, die Gegenwart, die zählt. Ich kann hier nun nicht behaupten, dass es mir auf dieser Etappe schon gelungen sei, die Gegenwart bei jedem Schritt zu erleben. Aber es zu üben ist eine schöne Herausforderung für die kommenden Etappen. Andererseits empfinde ich schon deutlich Veränderungen in mir. Mir ist das in den letzten Tagen erst bewusst geworden. Insbesondere merke ich das an den Begegnungen mit anderen Menschen.
Zu Anfang meiner Tour habe ich viele Leute kennengelernt, mit jedem geredet und wieder und wieder von meinem Projekt erzählt. Nach und nach habe ich mich immer mehr in mich zurückgezogen, allerdings auf eine für mich wohltuende Art. Ich habe das ständige Reden fast als eine Verschwendung empfunden. In den Erzählungen manifestieren sich (wie in Fotos) die Erinnerungen. Dann kann es passieren, dass sie darin zu schnell wie in verzerrten Standbildern erstarren. Dann fehlt die Dynamik, der Fluss, der Wind, der Horizont jenseits der Bildränder. In der eigenen stillen Rückschau hingegen tauchen immer wieder neue Nuancen und Details auf. Diese Form der Verarbeitung von Erlebtem scheint mir jetzt sehr viel reichhaltiger und mehrdimensionaler. Auch sie verlangt nach Gegenwart und Erlaubnis für Stillstand.
Die Unterhaltungen, die ich jetzt führe, die passieren. Sie werden nicht angestoßen, sie ergeben sich. Ich habe festgestellt, dass es zumeist „Bewohner der Berge“ sind, mit denen ich zunehmend eine Sprache teile, bei der man nicht viel reden reden muss. Einfach sitzen und mit Michel, dem Wirt der Chamanna d'Es-Cha, den Sonnenaufgang über der Bernina beobachten oder schweigend dabei zusehen wie sich eine Föhnwalze über den Berg schiebt. Und wenn wir reden, dann über das Unmittelbare, das Hier und Jetzt. Die Berge. Man versteht sich.
Vor einiger Zeit ist mir dazu ein Zitat von Paul Emanuel Müller begegnet:
Wenn du die Zeit überholen willst, musst du alles Geschwinde vergessen und so wie ein Berg sein, geduldig und still, und alles geschehen lassen: Winde und Regen und Schnee und das Licht. – Und so wie ein Berg sein.
Und damit bin ich wieder bei der Herausforderung in der Gegenwart zu bleiben. Gerade hier in Davos tauchen erstmals Gedanken daran auf wie es sein wird, wenn diese Reise vorbei ist. Und ich merke, dass ich Respekt davor habe in 21 Tagen nach Hause zu kommen. Nichts hier oben macht mir Angst. Aber die Stadt und der Umstand, dass meine Tage hier oben verrinnen, das verursacht mir Unwohlsein. Aber es ist gut, das jetzt zu merken. Ich habe schließlich noch fast drei Wochen Zeit, um die Gegenwart so kennenzulernen, dass sie mir dann, nach Ende meines Projekts, wenn die Zukunft zur Gegenwart geworden ist, vertraut ist.
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Vorschau
Im vierten Teil der Serie lest ihr wie es Ana auf der siebten Etappe ihrer Alpenüberquerung ergangen ist.
- Bergwissen
Der 10-Schritte-Plan zum Lebenstraum