Schneeschuhwandern am steirischen Zirbitzkogel
Foto: Philipp Horak
Beim Aufstieg auf den Zirbitzkogel, den höchsten Gipfel der Seetaler Alpen, wird einem gut warm. Wer dennoch kalte Füße bekommt, ist möglicherweise in einem Bach gelandet.
Wolfgang Wieser für das Bergweltenmagazin Dezember/Jänner 2019/20
Plötzlich versinke ich bis zur Hüfte im Schnee. Noch bevor ich wieder festen Boden unter meinen Füßen habe, weiß ich, was jetzt gleich passieren wird. Die nächsten Augenblicke erlebe ich wie in Zeitlupe. Meine Vorahnung erfüllt sich. Erst dringt es in meinen rechten Schuh, dann füllt es den linken, schwappt über meine Knöchel und steigt rasend schnell hoch bis zu den Waden: Wasser, eiskaltes Wasser. Mir verschlägt es den Atem. Ich bin eingebrochen.
Ich stehe in einem Bächlein, das vom Kleinen Winterleitensee talwärts gluckst. Natürlich bin ich selbst schuld. Bin wohl ein bisschen zu beschwingt die verschneiten Hänge runtergehüpft. Die Sonne strahlte mit mir um die Wette. Der Himmel leuchtete blau. Und mein erster Schneeschuhausflug rund um den gefrorenen Großen Winterleitensee (1.843 m) war so gelungen, dass ich eine glückliche Leichtigkeit verspürte. Was mich allerdings nicht leicht genug für die schmale Schneebrücke machte, über die Elisabeth, Silvia, Anna und Verena vor mir spaziert waren. Ich stemme mich in die Höh’, jemand reicht mir einen Stock – geschafft!
Jetzt sitze ich auf der Terrasse der Winterleitenhütte (1.782 m), die Hose bis zu den Oberschenkeln hochgekrempelt, und lasse meine Füße in der Sonne trocknen. In der linken Hand halte ich einen Zirbentrieb. „Er hat immer fünf Nadeln. Jede ist im Querschnitt betrachtet dreieckig“, sagt Elisabeth. Hier im Herzen des steirischen Zirbenlandes, rund 25 Kilometer südwestlich von Spielberg, nahe der Grenze zu Kärnten, ist dies Basiswissen.
Doch wer glaubt, dass der Name des Berges etwas mit den an seinen Flanken reichlich vorhandenen Zirben zu tun haben könnte, irrt. Der Name dürfte auf das slowenische „Zirbiza“ zurückzuführen sein, was sich mit „Rote Alm“ übersetzen lässt und ein Hinweis auf das üppige Almrausch-Vorkommen am Zirbitzkogel ist. Elisabeth Zienitzer kennt sich in der Gegend aus. Gemeinsam mit Silvia Sarcletti hat sie Österreichs größtes Schneeschuhfestival erfunden.
An insgesamt zehn Tagen im Jänner erfahren die Teilnehmer alles übers Schneeschuhwandern: „Es begeistert viele – einfach, weil die Menschen sich gerne bewegen.“Stimmt. Und es macht Spaß, selbst Schneeschuh-Novizen wie mir.
Das Prinzip ist einfach. Die Schuhe werden mit einer Ratsche fixiert, ein Stock links, ein Stock rechts – die Griffe beinahe in Brusthöhe – und schon spaziere ich schleifenden Schrittes über das glitzernde Weiß. Der richtige Rhythmus ist schnell gefunden. Die Hänge des Zirbitzkogels erscheinen mir mit jedem Schritt freundlicher, und schlussendlich springe ich mit Jauchzen durch den aufstiebenden Schnee – bis ich im eiskalten Bächlein lande.
Von der Winterleitenhütte führt einer der drei klassischen Wege auf den Zirbitz, wie die Einheimischen ihren Berg, den 2.396 Meter hohen Zirbitzkogel, nennen. Ich halte ihn für harmlos. Ein Irrtum. Das werde ich tags darauf erfahren. Noch lache ich. Freue mich auf den Gipfelsieg. Jetzt nehme ich die Rodel. Abwärts natürlich.
Von klein an hinauf
Am nächsten Morgen treffe ich Astrid, Hans und Peter bei der Waldheimhütte (1.614 m). Wir wollen mit Tourenski zum Zirbitzkogel-Schutzhaus, das nur 20 Meter unterhalb des Gipfels liegt. Was sie nicht wissen: Ich bin nicht nur Schneeschuh-Novize, sondern auch noch nie eine Skitour gegangen. Das erzähle ich aber erst, als wir schon unterwegs sind. Langsam steigen wir eine breite Wiese hinauf. Die Sonne scheint, es ist warm. „Der Zirbitz ist unser Hausberg“, sagt Peter.
„Früher hat man sich beim Kirchengehen getroffen, heute trifft man sich am Berg.“ Wann die Kinder das erst Mal raufgehen? „Mit einem halben Jahr“, lacht der Peter, „in der Kraxn hinten am Buckel.“ Irgendwann versiegen die Gespräche. Der Tour fehlt definitiv die Leichtigkeit der gestrigen Schneeschuhwanderung. Gerade haben wir die letzten Bäume hinter uns gelassen. Der Wind pfeift. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und schreite schweigend voran.
Astrid, Hans und Peter scheint das nichts auszumachen. Sie plaudern munter weiter. Erzählen bar jeder Atemlosigkeit von einem kranken Freund, den sie einmal im Jahr im Schlitten auf den Gipfel ziehen. Meine Achtung wächst. Vor mir liegt das letzte Stück des Weges.
Das Schutzhaus knapp unterhalb des Gipfels kann ich bereits sehen. Es wurde am 9. Oktober 1870 nach nur vier Monaten Bauzeit eröffnet und ist die älteste Schutzhütte der Steiermark. Doch zuvor stehen noch rund 170 Höhenmeter an, die es in Serpentinen zu überwinden gilt. Astrid, Hans und Peter habe ich hinter mir gelassen, obwohl – oder eher weil – sie mir konditionell überlegen sind: Franz, der das Schutzhaus am Zirbitzkogel mit allem im Winter Notwendigen beliefert, hat mich ein Stück des Weges auf seinem Ski-Doo mitgenommen.
Das war zwar weniger anstrengend, aber nicht minder abenteuerlich. Auf den eisigen Rinnen drohte der Motorschlitten zu kippen und mein junges Tourengeher-Dasein abrupt zu beenden. Jetzt beiße ich in einen Müsliriegel, hoffe, dass mir der klebrige Zucker Kraft für die letzten Meter gibt. Langsam steige ich bergan. Schritt für Schritt. Mein Atem pufft stoßweise Wölkchen in die kalte Luft. Ich bin schweißgebadet. Schließlich erreiche ich die Hütte.
An der Wand hängt ein altes „Zirbengeist“-Plakat. Es zeigt einen weißhaarigen Wanderer mit knorrigem Stab, der Richtung Gipfel eilt. Ich lese einen gerahmten Sinnspruch: „Große stille Lehrmeister sind die Berge: Wer sie verstehen lernt, erfährt dort oben nie gekannte Erfüllung, wer ihre Sprache nicht spricht, für den bleiben sie immer und ewig aus Stein!“ Vorsichtshalber schweige ich, löffle meine heiße Suppe und lasse den Werner Grillitsch, genannt Zirbitz-Werni, reden, der hier seit 40 Jahren das Kommando führt.
Er wirft einen Blick durchs Fenster, zeigt auf einen schmalen, kaum erkennbaren Weg und sagt: „Der ist nur im Sommer begehbar. Wenn du abrutscht, bist du unten.“ Was er damit meint, glaube ich in seinem Blick lesen zu können. Astrid, Hans und Peter treffen ein. Ob der Berg wirklich gefährlich ist, frage ich, noch bevor sie aus ihren Jacken geschlüpft sind. „Es gibt keinen harmlosen Berg“, sagt Peter, „aber am Zirbitz muss man es schon herausfordern.
“Bevor die Sonne verschwindet, schenkt der Werni ein Schnapserl ein. Was wir da getrunken haben, habe ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass es intensiv und erdig und nicht unbedingt nach Wiederholung geschmeckt hat. Draußen schnallen wir die Ski an. Der Wind bläst eisig. Die Böen haben den Schnee brettlhart gepresst. Wir fahren los. Ich hole noch einmal tief Luft. Ich weiß, der Zirbitz wird mich atemlos machen. Gleich jetzt.
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