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Auf Skiern von Innsbruck durchs Karwendel

Aktuelles

8 Min.

28.02.2019

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Vier Freunde wollten anderthalb Gebirgsstöcke durchqueren, im Winter des Jahrtausends. Es hätte eine einfache Sache werden sollen. Dann kam es anders. Eine herrliche Skitouren-Odyssee in vier Lektionen.

Text: Christian Thiele, Fotos: Hans Herbig

Das fängt ja gut an: Mit ausgebleichten Rucksäcken standen die zwei gerade noch in der Nordkettengondel. Faltige, schmale Gesichter, die schon lange keinen Lichtschutzfaktor mehr verwenden, von so neumodischem Zeugs wie Skihelmen wollen sie auch nichts wissen. Der Inbegriff von zähen, erfahrenen Skitourengehern.

Natürlich sind sie an uns vorbeigestürmt, waren ruckzuck in der Bindung. Und jetzt, wo auch wir so langsam mal die Rucksäcke festgezurrt, die Helme aufgesetzt und uns vorsichtig an die Einfahrt in die Rinne herangerutscht haben, stehen sie im Krisenmodus da, keine 50 Höhenmeter unter uns. Der eine hat den Ski verloren, der andere versucht ihm in die Bindung zu helfen – und jetzt sind wir dran: Das gähnend steile Kar nördlich der Hafelekarspitze, 40, vielleicht auch an die 45 Grad, Felsen links, Felsen rechts, der Schnee wohl irgendwo zwischen verblasenem Bruchharsch, Eisplatten und gelegentlichen Pulvernestern. Erstmal gemütlich einfahren, Kontakt zum Schnee finden – das ist hier nicht drin, es geht gleich in die Vollen! Durchschnaufen, Stöcke fest umgreifen, Knie gegen den Hang aufstellen und los geht‘s mit den beherzten ersten Sprüngen und Schwüngen.


Du brauchst einen guten Plan…

Die Ausgangsidee ist relativ simpel: Caja kommt aus Ohlstadt, hat für ihr Studium ein paar Jahre in Innsbruck gelebt und fährt für ihr Leben gern Ski. Zwischen beiden Orten liegt das Karwendel und dann das Estergebirge. Also steigen und fahren wir auf Skiern von Innsbruck nach Ohlstadt. Das ist wie gesagt die Ursprungsidee. Relativ simpel. Leider ist das Leben meist etwas komplizierter. Doch dazu später.

Jedenfalls wollen Caja, ihr Nachbar und Bergführer Luggi Karrasch, Fotograf Hans Herbig und ich auf Ski von Innsbruck nach Ohlstadt. Wir haben ein großzügiges Zeitfenster eingeplant, es war bei vier Leuten schwer genug, überlappende Termine zu finden. Aber für Skiabenteuer gelten im Kalender eigene Prioritäten.

Die Schneelage ist top, die Wettervorhersage halbscharig, die Schneeverhältnisse müssen wir uns anschauen. Bergführer Luggi meint schon in der Gondel: „War ganz schön windig hier die letzten Tage, das gefällt mir gar nicht. Hoffentlich wird es nicht zu lawinös!“ Morgen soll es außerdem schneien. Schlechter Schneedeckenaufbau, Neuschnee, schlechte Sicht: Das sind genau die Bedingungen, die wir für unsere Durchquerung nicht gebrauchen können. Aber warten wir’s ab.

Die erste Abfahrt haben wir hinter uns, beim Blick zurück ins Kar erscheint es schon gar nicht mehr sooo steil. Felle unter die Ski, ein Schluck Wasser aus der Flasche, und auf geht’s – gen Osten, Richtung Mandlscharte und Stempeljoch. Für lange Pausen ist heut keine Zeit. Wir pressen kurz ins Isstal hinab, bewundern den großen Lafatscher aus der Nähe und dann geht es gleich wieder hinauf zum Lafatscher Joch. Erst im späten abendlichen Licht, nach einer weiteren rassigen Abfahrt durch ein felsiges Couloir, kommen wir am Hallerangerhaus an.

Wo könnte der Eingang sein? Ist der Kamin überhaupt frei? Nicht, dass wir am Ende den Ofen einschüren und uns selbst ersticken? Irgendwann ist der Eingang gefunden und freigeschaufelt, der Kaminabzug gesichert. Und wir können Caja von ihren Zucchini befreien, die sie extra mitgeschleppt hat. Die Winterraumgnocchi werden damit zu einer echten Delikatesse.

Wer seinen Rucksack nicht mit einer Hand hochheben kann, hat ein Packproblem. Oder ein Bizepsproblem. Ich habe vermutlich beides: Hier noch mal ein extra Paar Socken, da noch eine zusätzliche Packung Mannerschnitten, den massiven Pickel statt dem leichten… Mit der Zeit summiert sich das. Zumindest habe ich schon was für die nächste Durchquerung gelernt.

Auf der Abfahrt im oberen Samertal kann es manchmal mitten im Schwung zwischen Pulver und Eisplatten wechseln


…und einen noch besseren Plan B

Der Blick aus dem Fenster ergibt: nichts Gutes. Dichtes Schneetreiben. Die Lawinengefahr ist gestiegen, die Chancen, den nächsten Übergang zu finden, sind gesunken.

Der Blick auf Luggi ergibt: nichts Gutes. Schon gestern Abend hat er einen Tee nach dem anderen getrunken, hat sich eine Daunenjacke nach der anderen übergezogen, aber er friert, und er greift immer wieder zur linken Brust: ein Herzproblem? Das alles hat keinen Zweck, zumindest hier und heute nicht, deshalb brechen wir ab. Hinterlassen den Nachfolgern – hoffentlich nicht den Mäusen – im Winterraum ein paar Packungen Nudeln. Und, das stellen wir erst später fest, ein paar ziemlich neue Spitzenkompressionssocken – aber wir haben gerade ein kleines Gut-Wetter-Fenster, das nutzen wir, um so schnell wie möglich ins Tal zu kommen.

Wetter checken, um Hilfe rufen: Dazu braucht man ein Funknetz. Wie wir auf der Abfahrt feststellen, gibt es das aber erst in ziemlich großem Abstand zur Hütte. Einer im Sommer ziemlich viel begangenen Hütte, wohlbemerkt. „KRASS“, sagt Caja, „da bist du einfach nur in einem Karwendeltal im Winter und fühlst dich schon so abgelegen wie irgendwo in Kamtschatka“.

Könnte dieser Übergang klappen? Caja und der Autor studieren die Karte

Im Tal stellt sich heraus: Die Wettervorhersage für die nächsten drei Tage hat sich über Nacht deutlich verschlechtert, die Orientierungsmöglichkeiten wären gering und die Gefahr von frischen Triebschneelawinen wäre ziemlich hoch gewesen. Die Herzschmerzen bei Luggi waren nur ein Problem der Brust-/Schultermuskulatur, aber der Infekt ein ganz schön hartnäckiger. Gut also, dass wir so schnell abgebrochen haben.

Jetzt muss ein Plan B her für unser Projekt. Alles nochmal von vorne? Klappt weder von der Schneelage noch von den Terminkalendern her. Verschieben auf nächsten Winter? Will auch keiner so recht. In unserer WhatsApp-Gruppe geht es hin und her. Mal macht einer ein günstiges Schnee- und Wetterfenster für in fünf Tagen aus, dann schreibt wer anders: „Kann leider nicht!“ oder „Wetter wird doch schlecht :-(“

Also fokussieren wir uns: Was sind die Highlights der geplanten Durchquerung? Welche Abschnitte haben die wenigsten von uns schon gemacht, wo ist die Sehnsucht am größten? Und wer hat wann Zeit? So wird daraus ein Plan B, eine Durchquerung in Etappen. Und mit wechselnder Besetzung.


Du musst fix sein können…

Srrrrr, krrrsch, huiiiii: Wir führen gerade neue Töne in unser Repertoire als Skitourengeher ein, denn wir sind heute mit den E-Bikes unterwegs – geliehen, gemietet oder auf irgendwelchen noch dubioseren Wegen hergeschafft. Denn die Forststraße zum Karwendelhaus ist ein ewiger Hatscher, aber nur über sie kommen wir auf die Birkkarspitze, den höchsten Gipfel im Karwendel, und auf den wollen wir. Also haben wir uns E-Bikes organisiert, und so surren jetzt unsere Motoren die Forststraße hinauf, der Schotter knirscht unter den Reifen, der Fahrtwind pfeift uns um die Ski.

Das Neunerkar, auch eine lohnende Tour, lassen wir rechts liegen, wir wollen zum Karwendelhaus. Geht's noch eine Kurve weiter, oder ist ab hier schon durchgehend Schnee? Wir scouten uns nach und nach nach oben, und 100 Höhenmeter unterhalb der Hütte ist dann auch wirklich Schluss. Radl abgesperrt, Skischuh angezogen, Lawinenpieps gecheckt – „und auf geht’s“, treibt uns Luggi an.

„Aaauf geeeeeehts!“ Luggi ist Deutschlands jüngster Bergführer, sonst eher ein stiller, bedächtiger Typ, aber jetzt drängelt er: Der Mond steht an einem stahlblauen Himmel über uns, die Nacht war klar, doch für den Tagesverlauf sind zweistellige Plusgrade bis weit hinauf angesagt und der sausteile Gipfelhang liegt ab dem späten Vormittag in der Sonne, sprich: Wir müssen schnell sein, um den Nassschneelawinen zu entkommen. Zwei Nürnberger rutschen uns entgegen, sie haben hier im Winterraum übernachtet, aber ihnen ist der Schnee schon jetzt zu sumpfig. Na toll!

„Wir probieren den schattigeren Aufstieg, da ist es noch hart“, entscheidet Luggi, und schon geht es Spitzkehre um Spitzkehre bergan durch das Schlauchkar.

„Handschuhe an! Dallidalli!“ Wir sind im steilsten Stück angelangt, ein paar Spitzkehren fehlen noch bis zur Einsattelung zwischen Öd- und Birkkarspitze, aber wer jetzt mit nackten Händen auf dem eisigen Hang wegrutscht, hinterlässt eine Blutspur. Deshalb auch hier die klare Ansage vom sonst so zurückhaltenden Luggi. Hier noch einen kleinen Ratsch an der Biwakschachtel, dort noch ein Gipfelfoto, da ein Päuschen im Abstieg vom Grat, jenen Schwung noch mal nachdiskutieren: So könnte man die Tour auch machen und würde dabei Viertelstunde um Viertelstunde vertändeln. Dafür ist heute keine Zeit. Ski aus, rauf zum Gipfel, kurzes Abklatschen, runter zum Skidepot, rein in die Bindung, ab durchs Schlauchkar. Wer von Frühjahrstouren heil und vollständig zurückkommen will, muss auch mal fix sein können.

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…und du musst chillen können

Rechts muss ich einen Ast aus der Bahn drücken, links will sich mir ein Strauch in den Weg stellen: Die Stirnlampe leuchtet uns einen kleinen Tunnel des Sehens frei, wie Glühwürmchen bewegen wir uns durch den oberbayerischen Dschungel. Hoffentlich töten wir mit den Kanten unserer Ski, hoch am Rucksack montiert, keine Eichkatzerln!

Der Hahn hat noch nicht gekräht, vom Eschenloher Kirchturm hat es gerade fünf geschlagen. Wir haben uns für heute das Kistenkar vorgenommen, ein absoluter Frühjahrsklassiker, der Endpunkt unserer Unternehmung. „Ich kann das von mir daheim aus sehen, seit Jahren will ich da rauf“, sagt Caja. Wer von Murnau aus nach Süden schaut, sieht das Kistenkar den ganzen Winter aus locken, dieses riesige weiße Betttuch unter der massiven Felskrone der Hohen Kisten. Da soll man raufkommen – und vor allem auch wieder runter?, habe ich mich schon oft gefragt. Jetzt sind wir zumindest schon mal auf dem Raufweg.

Heute ist Simon dabei, er hat gerade seine Abschlussarbeit fertig gemacht, das heißt, er hat viel Zeit – und er hat gefährlich viele Höhenmeter in den Beinen. Als wir aus dem Wald heraus sind und in die Ski einsteigen, piept sein Telefon. Eine SMS von seinem Vater: „Auf geht’s, zwei Drittel habt’s scho!“ Er ist die Tour x-mal gegangen, auch mit Simon, heute schaut er uns von unten per Fernglas zu. Betreutes Skitourengehen nennt man so was wohl.

Der Schnee, gestern nachmittags noch weichgeschmolzen, ist pickelhart, die Harscheisen unter unseren Bindungen halten die Ski zuverlässig auf Spur. Nach links, nach rechts, nach links, so geht es im Zickzack durch das Kar. Bis es zu steil und zu glatt wird und wir uns die letzten Meter mit Pickel und Steigeisen hinaufarbeiten. So beschert uns die Tour noch einen Schuss Alpinismus.

Nach Süden der Blick auf die Weilheimer Hütte, auf Krottenkopf und Bischof, alles noch im tiefen Weiß des Winters. Unten im Tal die braun-grünen Wiesen im Murnauer Moos, dann der Staffelsee. Nach Osten der Blick auf den Walchensee, südseeblau wie eine Lagune: „Was! Für! Ein! Pa! No! Ra! Ma!“, juchzt Caja.

Das einzige Problem: Wir waren schneller als gedacht, die Nacht war klarer als vorhergesagt, der Wind kühler als erwartet, sprich: das nordseitige Kar, durch das wir abfahren wollen, wird noch genauso pickelhart sein wie im Aufstieg. Wir aber wollen Firngenuss, also: chillen wir. Wir suchen uns eine windgeschützte Kuhle, legen uns auf die Rucksäcke und warten, dass die Sonne ihren Job macht. Ein einsamer Tourengeher kommt gerade hoch, „wartet’s ab“, rät er uns – dieser Empfehlung folgen wir gerne und machen es uns noch mal eine Viertelstunde bequem – bis uns doch der Hafer sticht.

Wo man gut rauf kommt, kommt man nicht immer gut hinab, und so eiern wir ziemlich über die steilen, eisglatten Felsplatten am Ausstieg aus der Rinne. Steigeisen an den Füßen, das wäre jetzt was – aber dafür war ich zu bequem. Schritt für Schritt taste ich mich bergab, bis ich endlich die Ski abnehmen und in die Bindung steigen kann. Wie viel Sicherheit einem die zwei Bretter geben!

Caja in der steilen Abfahrt von der Mandlscharte Richtig Pfeishütte

Stahlhartes Eis, fauliger Sumpf – und dazwischen ein paar Schwünge tragfähiger Firn, in den die Kanten wie das Messer in die Butter schneiden: Alle drei Meter ändert sich die Schneequalität. „Hoscht a Hirn, findschd an Firn“, hat man mir in meiner Heimat beigebracht, eine Gebirgskette weiter. Also suchen wir mit einer Mischung aus Intuition und Ausprobieren die besten Hangpartien, um unsere Durchquerung noch mit ein paar ordentlichen Schwüngen zu beschließen. Klappt mal besser, mal schlechter. Aber als Durchquerer ist man ja Kummer gewohnt.

Und wir wissen: In Cajas Garten warten kühler Radler und heiße Waffeln.

Die Story ist in einer gekürzten Fassung im Bergwelten Magazin (Dezember/Januar 2018/19) erschienen.

Christian Thiele ist Autor und leidenschaftlicher Skitourengeher. Er lebt in Garmisch-Partenkirchen – seine Heimatreviere sind das Karwendel, das Wettersteingebirge und die Ammergauer Alpen. Von ihm stammt das Buch „101 Dinge, die ein Skitourengeher wissen muss“ aus dem Bruckmann-Verlag.

Hans Herbig (Fotos) ist Bergwanderführer und hat als Bergfotograf schon öfter für das Bergwelten Magazin fotografiert.