Berg und Sinn – Im Nachstieg von Viktor Frankl
Foto: APA Picturedesk
von Martin Foszczynski
Viktor Frankl ist als Begründer der Logotherapie und Überlebender von vier Konzentrationslagern weltberühmt. Dass der aus Wien stammende Psychiater, trotz Höhenangst, auch leidenschaftlich gerne in die Berge ging, wissen nur die wenigsten. Klaus Haselböck und Michael Holzer kletterten auf den Spuren des großen Sinn-Suchers von der Rax bis zu den Dolomiten. Ihr Buch „Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl“ ist am 15. Oktober 2019 erschienen – wir haben Klaus Haselböck aus der Bergwelten-Chefredaktion zum Interview gebeten.
Bergwelten: Warum war es dir und deinem Co-Autor Michael Holzer ein Anliegen, ein Buch über Viktor Frankl zu schreiben?
Klaus Haselböck: Wer, wie wir, oft in die Berge geht, beginnt sich Fragen zu stellen: Was suchen wir dort oben? Warum sind wir bereit ein Risiko einzugehen? Viktor Frankl hat uns als Arzt und Therapeut darauf Antworten gegeben. Er konnte uns Bergsteigern unser Tun erklären, auch, weil er selber ein begeisterter Kletterer war. Über Frankl wurde zwar schon viel geschrieben, jedoch erstaunlich wenig über seine eigene Beziehung zum Bergsteigen. Die ist aber für sein Gesamtwerk und Leben enorm wichtig.
Elli Frankl hat gesagt, ohne das Klettern – ohne die Berge – wäre ihr Mann nicht am Leben geblieben. Wie ist das zu verstehen?
Frankls Lehre, die Logotherapie, fußt darauf, dass der Sinn die Qualität ist, die unser Leben lebenswert macht. Der Sinn ist zwar für uns nicht immer sichtbar, aber in jeder Situation verborgen, mit der uns das Leben konfrontiert. Dieses bedingungslose „Ja-Sagen zum Leben“ hat Viktor Frankl am Berg gelernt. Die Gewissheit, dass es stets einen Sinn gibt, hat ihn vier Konzentrationslager und all das Leid der NS-Zeit überleben lassen.
Viktor Frankl ist in Wien aufgewachsen. Wo hat er seine ersten alpinistischen Schritte gemacht?
Zum Klettern ist Viktor Frankl noch als Jugendlicher gekommen, als er einen Freund bei Abseilübungen an der Mizzi-Langer-Wand, einem Steinbruch im Süden Wiens, begleitet hat. Dort musste er feststellen, dass er massiv unter Höhenangst leidet. Klettern zu gehen bedeutete für ihn, sich den eigenen Ängsten zu stellen, die „Trotzmacht des Geistes“ – wie er es nannte – zu mobilisieren und so ein Stück Freiheit zu gewinnen. Sein eigenes Leben war stets auch sein liebstes Forschungsfeld.
War der Psychiater Viktor Frankl ein guter Kletterer?
Als Kletterer war Frankl zweifellos befähigt. Das haben uns seine Seilpartner bestätigt und das wissen wir von den Routen wie die Dachstein Südwand oder die Große Zinne, die heute mit viel besserer Ausrüstung immer noch anspruchsvoll sind. Im Nachstieg Frankls und seiner Generation unterwegs zu sein, hat uns viel Respekt gelehrt. Für die alpine Historie liegt sein Verdienst aber weniger darin, was er selber als Kletterer geschafft hat, sondern wie er uns das Wesen des Bergsteigens erklären konnte. Dadurch hat er vielen Menschen die Gewissheit gegeben, dass es nicht sinnlos ist in die Berge zu gehen.
In welchem von den sieben Klettergebieten, die ihr für dieses Buch besucht habt, hast du die Präsenz Frankls am intensivsten gespürt?
Wohl auf der Hohen Wand. Dort hat er am Kanzelgrat gemeinsam mit seinem besten Freund Hubert Gsur die emotionalste Tour seines Lebens gemacht: Frankl war als Jude das Klettern verboten und Gsur hat sein eigenes Leben riskiert, als er 1941 mit ihm in Wehrmachtsuniform klettern ging. So konnte Frankl endlich wieder den geliebten Fels unter seinen Fingerkuppen spüren. Als wir an der Hohen Wand im Nachstieg der beiden unterwegs waren, ist uns bewusst geworden, wie weit die Verbundenheit einer Seilschaft gehen kann, wie stark die Symbolik ist. Auf der Hohen Wand haben wir gespürt, was die Verantwortung für das Leben des anderen weit jenseits des Kletterns bedeuten kann.
Frankl hat sich in den vier Konzentrationslager oft nur mehr durch die Imagination am Leben erhalten. Wie kommen hier die Berge ins Spiel?
In den Konzentrationslagern wurde Frankl alles genommen, er war nur mehr eine Nummer und jeder Tag konnte das Ende bedeuten. Geblieben war ihm aber sehr wohl die Freiheit, seine Einstellung zu den Dingen selbst zu bestimmen. Wenn er bei den schweren Arbeiten, die er dort leisten musste, absolut an der Grenze war, holte er sich Bilder von den Bergen herein. In einem tranceartigen Zustand spürte er den sonnengewärmten Fels der Preinerwand unter seinen Fingern, wo er eines Tages wieder klettern wollte. Somit hatte er eine Perspektive für das Überleben.
Warum waren gerade die Berge für Frankl, einen Städter, Sehnsuchtsorte?
Das ist total subjektiv. Es geht letztlich darum, wo wir uns zu Hause fühlen, wo wir ganz bei uns sind, wo wir für uns den Sinn finden. Es kann genauso das Meer sein. Wir sind dort richtig, wo wir in einen Zustand kommen, bei dem wir über uns hinauswachsen und die Größe unserer Existenz erleben. Für Frankl war dies das Klettern in den Bergen.
Was würde Frankl zu Extrembergsteigern wie David Lama oder Alex Honnold („Free Solo“) sagen, die sich bewusst an der Schwelle des Todes beweg(t)en. Würde er ihren Wagnissen den Sinn absprechen?
Sinnfindung hatte für Frankl stark mit Erlebniswerten zu tun, die wir mit positiven Gefühlen verbinden. Gerade David Lama hat mit den Bergen und vor allem beim Klettern – ähnlich wie Frankl selber – wohl den Ort gefunden, wo er in den Flow kam, wo das „Ich“ zurücktrat und er ein tiefes Glück erfahren konnte. Und Lama war, so extrem seine Leistungen auch in der Öffentlichkeit gewirkt haben, als Alpinist durchaus bedachtsam und sicher nicht lebensmüde. Ich denke, Viktor Frankl hätte Menschen wie David Lama oder Alex Honnold in ihrer Faszination, das Mögliche noch etwas hinauszuschieben, sehr gut verstanden.
Wie hat dich die Arbeit an diesem Buch geprägt?
Ich klettere schon seit ein paar Jahrzehnten, aber erst durch das Buch ist mir bewusst geworden, dass der Fels auch ein Speichermedium ist: Routen sind in dieser Hinsicht Zeitmaschinen. Wenn wir uns darauf einlassen, sind wir nur einen Griff, einen Tritt von den Menschen weg, die diese Routen vor uns geklettert sind. Oft wiederholen wir sogar genau dieselben Kombinationen am Fels, denn nur die sind für Kletterer denkbar und sinnvoll. In den Routen wurden die Erlebnisse von Frankl und seinen Seilpartnern plötzlich wieder lebendig: da mussten sie gerastet, dort überlegt, gezögert oder sich konzentriert haben. Im Nachstieg von Viktor Frankl zu sein, bedeutete nicht nur seine Routen zu gehen, sondern in seine Gefühle, sein Leben und seine Gedanken einzutauchen. Das ist auch die Grundlage für das Buch.
Wenn du die Möglichkeit hättest, mit Frankl klettern zu gehen – welche Route würdest du auswählen und was würdest du ihn fragen?
Natürlich den Drei-Enzian-Steig in der Vorderen Preinerwand an der Rax. Diese unscheinbare Route hat er innig geliebt. Wie ein Zen-Mönch, der seinen Garten pflegt, ist er wieder und wieder durch die Route gestiegen. Danach ist er – der Weltstar – in der Neuen Seehütte eingekehrt und hat das einfache Leben fernab des Trubels genossen. Gemeinsam mit ihm unterwegs zu sein, den Fels zu spüren, zu klettern, zu schauen, zu scherzen, zu staunen, wäre für mich mehr als genug. Da blieben keine Fragen offen, die man ihm noch stellen müsste.
Zur Person: Klaus Haselböck lebt das Thema Berg auch beruflich. Er war Teil des Gründungsteams des Bergwelten-Magazins, ist heute Mitglied der Chefredaktion und schreibt zu alpinen Themen.
Buch-Tipp
Michael Holzer und Klaus Haselböck: Berg und Sinn – Im Nachstieg von Viktor Frankl, Bergwelten Verlag, 184 Seiten, erschienen am 15. Oktober 2019. Mit Tourenbeschreibungen und einem Beitrag von Elisabeth Lukas, Psychotherapeutin und eine der bekanntesten Frankl-Schülerinnen.
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