D.I.Y. Klettern in Bosnien
Foto: Sebastian Wahlhütter
von Simon Schöpf
Was kommt raus, wenn man Freiwillige aus 13 Nationen mit genügend Bohrhaken, bosnischer Bohnensuppe und Sliwowitz versorgt? Ein Klettergebiet der Sonderklasse. Eine unkonventionelle Geschichte darüber, wie ein Do-it-Yourself Klettergebiet in Bosnien-Herzegowina den europäischen Gedanken stärken und neue Zukunftsperspektiven aufzeigen kann.
Das D.I.Y. Klettergebiet
Stell dir vor, du wanderst durch einen gigantischen Canyon in Osteuropa, unten der türkise Fluss, der ihn gegraben hat, links und rechts massive Wände, hunderte Meter steil gen Himmel ragend. Stell dir vor, die Wände sind gelb, grau, schwarz, aus perfektem Kalk, voller Löcher und Leisten. Stell dir vor, du bist leidenschaftlicher Kletterer, und es gibt im ganzen Canyon nicht mehr als eine Handvoll gebohrter Routen. Was würdest du machen?
Genau: Die Hilti auspacken und einbohren, was der Akku hergibt! So ähnlich war wohl auch David Lemmerers Gedankengang bei seinem ersten Besuch 2010, als er mit dem Bike die Gegend erkundete. Aber David, Klettertrainer und Sozialarbeitsstudent aus Wien, dachte vielschichtiger, vorausschauender. Was wäre, wenn man die Sportart Klettern und grenzübergreifende Leidenschaft dafür nutzen könnte, der gesamten Region und ihren Bewohnern neue, nachhaltige Zukunftsperspektiven zu eröffnen? Was wäre, wenn man zusätzlich den Grundgedanken von europäischer Einheit stärken und motivierte, junge Leute aus verschiedensten Nationen vernetzen könnte?
Super wäre das. Und weil denken zwar immer essentiell, meistens aber nicht genug ist, wurde kurzerhand das „Drill&Chill Climbing Festival“ ins Leben gerufen. Das Festival machte sich nicht weniger zur Aufgabe, als eine neue Kletterdestination zu erschließen. Davids Studienabschlussambitionen wurden bald durch die Planung der ambitionierten Aktion überschattet. Nach großem Organisationsaufwand wurde es Ende September endlich ernst und die Bohrmaschinen waren im Canyon wohl kaum zu überhören. Doch Moment mal: Wo genau wird hier eigentlich gebohrt?
Kletterdestination: Bosnien-Herzegowina?
Das Klettergebiet wird man bald als „Tijesno Canyon“ kennen. Die Schlucht befindet sich 15 Autominuten südlich von Banja Luka, die zweitgrößte Stadt in Bosnien-Herzegowina, 550km von Wien entfernt. Aber klettern in Bosnien? Noch nie gehört. Tatsächlich hielt im damaligen Jugoslawien die Klettertradition schon sehr früh Einzug. Die Entwicklung wurde allerdings durch den Krieg in den 1990er Jahren unsanft gestoppt. Nach den Kämpfen gab es selbstverständlich erst einmal andere Prioritäten, als auf Felsen zu kraxeln. Während im Westen Europas die Klettergebiete nur so aus dem Boden schossen, stand Bosnien diesbezüglich relativ isoliert da. Der lokale „Climbing Club Extreme“, allen voran sein Obmann Igor Vukic, verschrieb sich jedoch mit großer Leidenschaft und Hingabe der klettertechnischen Entwicklung der Region Banja Luka und konstruierte sogar eine kleine Kletterhalle. Für eine Erschließung der Felswände fehlte es jedoch bisher vor allem an einem: am Material.
David Lemmerer organisierte mit AustriAlpin einen Materialsponsor, um das zu ändern und bekam anschauliche 1.000 Bohrhaken und 70 Standplätze zur Verfügung gestellt. „Alles verbohrt“, resümiert David nach dem Festival stolz. „Es war eine richtige Goldgräberstimmung zu spüren. Nicht einmal trübe Regentage und durchfeierte Nächte konnten die Leute vom Einbohren abbringen“. Mehr „drill“ als „chill“ demnach. Derart produktiv sein, das funktioniert natürlich nur durch die unermüdliche Mithilfe der Locals – vom Hirten bis zur Polizei, alle dabei. Und mit der allabendlichen Portion bosnischer Bohnensuppe am improvisierten Campingplatz. Die Mitglieder der Kletterclubs „Extreme“ zeigten, dass sie auch in dieser Disziplin keine halben Sachen kennen. Extrem kann eben auch eine Bohnensuppe sein. Extrem gut nämlich.
Völkerverständigung: Klettern
Interkulturelle Kooperation, unbürokratisches Machen, freundliche Stimmung: 70 internationale Kletterer & Highliner aus 13 Ländern und ebenso viele KletterInnen aus der Region folgten dem Ruf des „Drill&Chill“-Festivals, allesamt höchst motiviert, etwas Großartiges für die europäische Climbing-Community auf die Beine zu stellen. Völkerverständigung durch Klettern, quasi. Und, ja, durch Sliwowitz. Wenn es nur öfter so einfach wäre.
Man sah wagemutige Slackliner hoch über dem Canyon balancieren, sah überproportional muskulöse Kletterer in knalligen Leggins den Fels hochtanzen, sah DJs neben dem Lagerfeuer auflegen. Vor allem sah man ganz viel Lächeln. Natürlich ist Spaß und Spiel nur die halbe Wahrheit, denn eine Kletter-Infrastruktur aus dem Nichts aufzubauen, das bedeutet Schufterei ohne Ende: Wege anlegen, Material schleppen, Routen putzen, Wasserleitungen legen, Unterkünfte organisieren. Warum die ganze Schinderei?
Eine strikt rationale Antwort wird sich auf die Frage nicht finden. Schlussendlich geht es um weit mehr, als nur ums Klettern: Der wirtschaftlich und politisch geforderten Region und ihren Leuten neue Perspektiven zu eröffnen und den Weg in Richtung eines nachhaltigen Öko-Tourismus ein wenig voraus zu gehen. Und für zukünftige Besucher gibt es auch deutlich mehr zu entdecken, als „nur“ einen Canyon voller Weltklasse-Kletterrouten: Nämlich Bosnien als ein Land mit einer extrem spannenden Geschichte zwischen West und Ost, einer unglaublichen Gastfreundschaft und schier unerschöpflichem Bergpotential. Und ist nicht dies letztendlich das Allerschönste am Klettern: Immer die beste Ausrede parat zu haben, ein neues Land und seine Leute kennenlernen zu dürfen? Und mal ehrlich, wie schnell wäre man sonst nach Bosnien-Herzegowina gefahren und hätte die lokale Bohnensuppe probiert?
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