Die großen Nordwände der Alpen
Foto: mauritius images/ Bart Pro / Alamy
Finster, fies, frostig. Wer diese Bedingungen zu schätzen weiß, der gilt unter Bergsteigern als Nordwand-Typ. Wir stellen euch die sechs „klassischen“ Nordwände der Alpen vor.
Text: Simon Schreyer
Der Nordwand-Typ verfügt nicht nur über Zähheit, Risikobereitschaft und intakte Instinkte, sondern vor allem über taktisches Kalkül. Feinfühlig passt er seine hochalpinen Kenntnisse auf rasch wechselnde und fast immer abweisende Gegebenheiten an. Dafür eröffnen sich diesem Typus jedoch geheimnisvolle vertikale Welten, die den Alpinisten mit Vorliebe für die sonnige Süd-Ausrichtung verwehrt bleiben.
Die Erstdurchsteigungen der großen Alpen-Nordwände fanden alle in den 1930er Jahren statt, als die schwierigen und hohen Wände des Watzmann, des Monte Rosa oder der Civetta bereits abgehakt waren. Aber auch im 21. Jhdt. gleicht eine Nordwand im Tourenbuch einer bergsteigerischen Meisterprüfung. Wir stellen euch die sechs „klassischen“ Nordwände der Alpen vor.
1. Eiger
Der Name Eiger leitet sich vom Oger her, einem wilden Unhold aus den Volkssagen der Berner Alpen. Und ein wahres Monstrum ist auch die Eiger-Nordwand: Ausgehöhlt, im obersten Drittel vornübergebeugt. 1.800 m ragt der Eiger in den Himmel, von den steilen Schuttreisen an seinem Fuß, über unzählige, wie mit dem Lineal gezogene Abbruchstufen bis hinauf zu seiner strahlenden, vom Höhensturm umbrausten Gipfelschneide.
Im obersten Sektor lauert die Weiße Spinne, eine vielarmige steile Eisrinne. Sommers wie Winters spuckt der Eiger Steine, Geröll, Wasserkaskaden und Staublawinen durch ihr Netz. Ein senkrechter Hindernis-Parkour für vermessene Desperados wurde die Eiger-Nordwand genannt: In den 1930er Jahren war ihr Ruf als menschenfressende „Mordwand“ in etwa vergleichbar mit dem des Nanga Parbat unter den Achttausendern.
Die mehrtägige Durchsteigung der berüchtigten Nordwand durch die Viererseilschaft Heckmair/Vörg/Kasparek/Harrer im Juli 1938 war eine Sensation. Acht Männer waren davor bereits in der Wand tödlich verunglückt, fast alle durch Fehlkalkulationen mit grausamen Konsequenzen.
Die klassische Heckmair-Route, heute nur eine von bereits 34 Routen durch die einst ungangbare Wand, wird nach der SAC-Skala als äußerst schwierig beschrieben. Und in ihrem oberen Abschnitt wartet noch immer die Spinne.
Eiger: Ein Berg der Extreme
2. Grandes Jorasses
Zwischen dem französischen Haute-Savoie und dem italienischen Aostatal baut sich ein mächtiger Granitkamm bis über 4.000 m auf: Die Grandes Jorasses. Adeligen Pionieren des Alpinismus, der Savoyer Herzogsfamilie, aber auch Whymper und Croz, den Erstbesteigern des Matterhorns, sind ihre hohen Häupter gewidmet.
Die stets bitterkalte und enorm steile 1.200 Meter hohe Nordwand wird an ihrem östlichen Sporn von einem massiven Pfeiler durchzogen, der nach dem Erstbesteiger der Grandes Jorasses, Horace Walker, benannt ist. Dieser war allerdings über die Gletscherzungen der leichteren Südwestflanke aufgestiegen.
1935 durchkletterte das bayrische Duo Peters/Meier als erste die Nordwand über den Croz-Pfeiler bis zum dritthöchsten Punkt der Gipfelkette – eine Leistung, die wegen der komplexeren Route und der hohen Lawinengefährlichkeit großen Respekt verdient. Diesen Pfeiler wählte übrigens auch die schottische Ausnahme-Alpinistin Alison Hargreaves, die 1993 als erste Frau alle sechs großen Nordwände in einem einzigen Sommer durchstieg.
Die eigentliche Erstdurchsteigung der Grandes-Jorasses-Nordwand über den Walker-Pfeiler, dem direkten Weg zum höchsten Gipfel, ereignete sich im August 1938 durch die Seilschaft Cassin/Esposito/Tizzoni, die somit das letzte große Problem der klassischen Nordwände löste.
3. Matterhorn
Unter den vier Flanken des pyramidenförmigen Matterhorns ist die Nordwand des Viertausenders die wildeste und abweisendste. Trügerischer Pulverschnee verdeckt den glatten Fels. Dauernd droht Steinschlag, besonders in den wenigen Stunden, in denen Sonnenstrahlen in die frostzerfressenen Aufschwünge Einlass finden.
Die ersten Menschen, welche die 1.200 Meter lange Route durch diese Nordwand zurücklegten, taten dies am Nachmittag des 14. Juli 1865 in kaum 30 Sekunden, und zwar von oben nach unten. Bei den Abgestürzten handelte es sich um Croz, Hadow, Hudson und Lord Douglas – vier von sieben Teilnehmern der eben gelungenen Matterhorn-Erstbesteigung über den Hörnligrat unter der Führung von Edward Whymper und der beiden Bergführer Peter Taugwalder und Sohn. Das ausgefranste Ende des gerissenen Seiles kann man heute als Mahnmal im Matterhorn Museum betrachten.
Im frühen 20. Jahrhundert folgten wagemutige Kletterer. Die ersten erfolgreichen Durchsteiger waren, zum leisen Kummer der Schweizer, die beiden Oberpfälzer Brüder Franz und Toni Schmid. Nach einem Notbiwak im oberen Drittel der Wand, stehen sie am 1. August 1931 am Gipfel des Matterhorns – und in einem Schneesturm. Nur mit Mühe können die Brüder sich in die Solvay-Hütte retten, wo sie vor Erschöpfung eineinhalb Tage durchschlafen.
Für ihre Durchsteigung wurden sie im Sommer 1932 bei der Olympiade in Los Angeles sogar mit einer Goldmedaille geehrt, eine Auszeichnung, die das IOC nur vorübergehend vergab, etwa an die Himalaya-Pioniere Bruce, Mallory und das Forscher-Ehepaar Dhyrenfurth.
Toni Schmid allerdings erlebte die Verleihung nicht mehr. Er stürzte im Mai 1932 am Großen Wiesbachhorn tödlich ab – in dessen Nordwand.
Bergportrait: Matterhorn (4.478 m)
4. Petit Dru
Das spektakulärste Schaustück der Aiguille du Dru im Mont-Blanc-Massiv ist eigentlich die nach Westen blickende schmale Nadel, die mit ihren 1.000 Meter Höhe und zwei Spitzen das hintere Arve-Tal dominiert.
Ihre der Schaulust abgewandte Seite blickt nach Nordosten: eine Wand, schmal und konkav wie ein Teelöffel, mit einem Sockel, der durch mehrere gewaltige Bergstürze verjüngt wurde. Links vom tropfenförmigen, schneegefüllten Hochkar zieht sich ein langer Riss durch die Nordwand, der nach dem Erstdurchsteiger und Riss-Spezialisten Pierre Allain aus Paris benannt ist.
Am 1. August 1935 brachte Allain mit seinem Seilpartner Raymond Leininger die 700 Meter dieser „kleineren“ Nordwand hinter sich. Unter den für Nordwände gewöhnlich schrecklichen Bedingungen: Frost, Steinschlag und lose Felsen im oberen Teil, wo auch ein vereister Kamin nur mit genagelten Bergschuhen bewältigt wurde. Beim Abseilen im einsetzenden Schneetreiben mussten sie zudem noch ein Biwak bauen.
Auch unter Berücksichtigung moderner Ausrüstung und Seiltechnik ist ein Abstieg über die Nordwand des kleineren Dru noch heute eine schwindelerregende Angelegenheit. Empfehlenswert ist daher der etwa einstündige Weiteraufstieg zum Grand Dru mit Abstieg über dessen Nordflanke oder über die Westseite.
5. Piz Badile
Ein Spaten aus Stein. So mutet diese markant zerklüftete Granitwand an, die sich drohend über den Trubinasca- und den Cengalgletscher erhebt. Den Gipfel sicherte sich ein Anglo-Amerikaner namens Coolidge, der dafür bekannt war, stets mit seinem Hund und seiner Tante bergsteigen zu gehen. Den Weg über die Südostflanke zum 3.300 m hohen Gipfel des Badile im Sommer 1867 beschritt er jedoch mit zwei Bergeller Bergführern.
Die scharf wie ein Säbel geschwungene, jedoch mit Schwierigkeitsgrad V- nur mittelschwere Nordkante (am Foto rechts) ist nach wie vor eine der beliebtesten Kantenführen in den Alpen. Von ihr zieht sich, steiler und immer steiler abfallend, die Nordwand in eine Kerbe, die den gesamten Berg spaltet. Rechts dieser tiefen Falz sah im August 1937 der lombardische Bergführer Riccardo Cassin eine Linie über die flachen Plattenschichten hinweg direkt zum Gipfel, und verwirklichte sie mit seinen zwei Kameraden Ratti und Esposito in einem dreitätigen Aufstieg.
Ein plötzlicher Wettersturz jedoch machte der reibungslosen Umsetzung seiner Traumlinie einen Strich durch die Rechnung und trieb seiner Seilschaft zwei geschwächte und unterkühlte Bergsteiger, Molteni und Valsecchi, in die Arme, die gleichzeitig ihr Glück in der Wand versucht hatten. Molteni wurde vom starken Dreier-Team bereits leblos auf den Gipfel gehievt, Valsecchi verstarb während des Abstiegs über die Südseite. Riccardo Cassin bestand darauf, die beiden dennoch zu den Erstdurchsteigern zu zählen und verschwieg deshalb bis kurz vor seinem Tod 2009 den wahren Hergang.
Untrennbar ist die Nordwand des Piz Badile auch mit einer Bergfahrt des unvergessenen Hermann Buhl verbunden, der 1952 die 850 m lange Cassin-Führe als erster alleine in nicht einmal fünf Stunden durchstieg, nachdem er 160 km aus Tirol mit dem Rad angereist war. Auf der Rückfahrt stürzte er vor Übermüdung bei Landeck in den eiskalten Inn, was ihn zum Glück wieder hellwach werden ließ.
6. Große Zinne
Die kleinste der klassischen Nordwände, und auch die einzige ohne Eispassagen, findet sich an der Großen Zinne in den Sextener Dolomiten. Eingerahmt vom kargen Hochkar der Grava Longa, steht sie zwischen ihren beiden Geschwistern und verwittert glorreich im Sonnenglast und im Rampenlicht der Klettergeschichte.
Der erste am Gipfel der 2.999 m hohen „Cima Grande“ war 1869 der Wiener Paul Grohmann (der gemeinsam mit Friedrich Simony und Edmund von Mojsisovics den Österreichischen Alpenverein gründete) mit seinen einheimischen Bergführern Franz Innerkofler und Peter Salcher. Gehörten die Zinnen zu Beginn der Klettergeschichte bald zu den beliebtesten Zielen von Freikletter-Pionieren wie Hans Dülfer oder Paul Preuß, waren die Durchsteigungen ihrer abschüssigen, teils überhängenden Nordwände erst möglich, als in den 1930er Jahren der VI. Schwierigkeitsgrad eröffnet wurde.
Der Triestiner Höhlenforscher und spätere Bürgermeister von Wolkenstein, Emilio Comici, verewigte sich schließlich im August 1933 an der damals begehrtesten Dolomitenwand. Gemeinsam mit den Gebrüdern Dimai durchstieg er in drei Tagen die 550 Höhenmeter der Große-Zinne-Nordwand und löste damit nicht nur eines der großen Felsprobleme der Alpen, sondern auch eine Stil-Diskussion aus: Es wurde ihm von Vertretern des klassischen Alpinismus zum Vorwurf gemacht, mit den bei der Durchsteigung verwendeten 400 Metern Seil, einer 150-Meter-Reepschnur, 90 Haken, Steigschlingen und 40 Karabinern eine Materialschlacht veranstaltet zu haben.
Als Beweis, die Nordwand auch mit minimalem Equipment zu schaffen, kletterte Comici seine Führe 1937 noch einmal größtenteils seilfrei im Alleingang. Somit räumte er alle Zweifel über deren Machbarkeit beiseite und zeigte, dass Anderl Heckmairs Feststellung über den Nordwand-Typ auch auf ihn zutraf: „Wer mit Sicherheit eine solche Wand durchklettern kann, muss sich wohl erhaben fühlen über alle menschlichen Kleinigkeiten.“
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