Eine Küche des Überlebens
Foto: Roland Vorlaufer
Über die Entwicklungsgeschichte der Salzburger Nockerl, die Zeit, die guter Speck braucht, die Geschwindigkeit des Gehens und warum in den Alpen so selten Fisch gegessen wird. Spitzenkoch Rudolf Obauer im Interview. Das Interview ist im Bergwelten Magazin (Juni/ Juli 2016) erschienen.
Interview: Klaus Kamolz
Bergwelten: Was ist für Sie die Küche der Alpen?
Rudolf Obauer: Für mich bedeutet sie Heimat. Die Alpen sind ja nicht so klein, die reichen von Frankreich bis Slowenien – und für mich ist es eben das Innergebirg, wie wir Salzburger sagen. Es ist eine karge Küche. Die Menschen hier waren immer fleißig, sonst hätten sie nicht einmal den Winter überstanden. Die Kost musste Energie bringen: Kohlehydrate und Fette. Man musste für die kalte Jahreszeit vorsorgen: Kraut, Rüben und Erdäpfel konservieren, Fleisch, sofern verfügbar, haltbar machen. Wenn es eine Küche gibt, die vor allem auf Warenkunde und Lagerung basiert, ist es die alpine Küche.
Wir reden also von einer Küche, die nicht vom Leben, sondern vom Überleben handelt.
Ja sicher. Die Holzknechte hatten nicht mehr als einen Sack Mehl und Fett mit im Wald. Eventuell noch Zucker. Damit haben sie ihr Muas gemacht. Ich gestehe aber, dass ich heute kein Verlangen mehr nach einem Muas habe, eher nach der Steigerung davon: einem Kaiserschmarren.
In der Küchenevolution ist also das Muas so eine Art Neandertaler, in der Entwicklung steckengeblieben.
Genau, dann kamen die Palatschinken und dann der Kaiserschmarren. Nein, zuvor war noch das Fladenbrot, nur mit Mehl und Wasser. In diese Entwicklungsgeschichte fallen auch die Salzburger Nockerl...
...die wohl die drei Salzburger Berge Mönchsberg, Kapuzinerberg und Gaisberg darstellen sollen.
Ich wäre ja neugierig, was zuerst war: die Salzburger Nockerl oder das französische Soufflé. Jedenfalls sind sie wohl die edle Variante des alpinen Urmuas. Das ursprüngliche Salzburger Nockerl wurde tatsächlich in der Pfanne gebacken und sogar umgedreht.
Sind Mehl und Wasser in den Bergen die Wurzel von allem?
Ja, und das Wissen, was man daraus machen kann. Wer immer satt ist, wird geistig genügsam. Ich finde, ein bisschen Hunger schafft auch einen klaren Kopf. Ich bin wirklich nicht für den Hunger, aber für den Erfindungsreichtum der Menschen in den Bergen hat das kleine bisschen Hunger historisch auch Verdienste.
Warum ist der Begriff alpine Küche derzeit so modern, wenn sie so karg war?
Momentan sieht es wirklich so aus, als hätten einige gerade erst die alpine Küche erfunden. Mein sieben Jahre älterer Bruder Karl und ich haben schon 2008 versucht, eine alpine Küche neu zu interpretieren. Zum Beispiel Kasnocken, Erdäpfelnidei und Selchripperln, natürlich den heutigen Ernährungsgewohnheiten angepasst, weil wir ja nicht mehr so viel Fett und Kohlehydrate brauchen. Wir machen auch schon lang ein Wallergröstl, aber ohne die Erdäpfel in der Butter so ersaufen zu lassen, dass man danach nichts anderes mehr tun kann, als Holz hacken zu gehen. Dass jetzt das Wort Alpenküche ins Spiel kommt, hat aber wohl damit zu tun, dass man immer wieder etwas Neues braucht, um auch die Medien zu füttern. In Wahrheit hatten die Menschen im alpinen Raum immer wenig Zeit zum Geschichten erzählen. Fragen Sie doch einmal einen alten Schwammerlsucher nach seinen Plätzen. Der wird sie nie verraten, und die Wurzel seiner Verschwiegenheit ist eben dieser Drang zum Überleben.
Ist das nicht herrlich, dass im Zuge dieser Mode auch alte Fertigkeiten und Produkte wiederentdeckt werden?
Natürlich. Wer hat vor ein paar Jahren in der Gastronomie vom Suren und Räuchern geredet? Wer hat sich dafür interessiert, was man mit Rüben alles machen kann? Ich denke mir nur, dass die Kargheit der alpinen Küche heute auch sehr verklärt wird.
Worin besteht diese Verklärung?
Ein Beispiel: Vor einiger Zeit hat man begonnen, den Tauernroggen, eine uralte Wintersorte, wieder anzubauen, die auch in extremen Lagen gedeiht, jedoch viel Arbeit macht. Reich wird man damit auch heute nicht, aber man macht halt jetzt einen Whisky draus. Das ist für mich die Verklärung des Alpinen, das Ausblenden des Kargen.
Was ist das nicht Verklärte, also das Echte an der Alpenküche?
Die Klarheit. Ein luftgetrockneter Gamsschinken. Da gibt es kein Lügen und kein Täuschen. Entweder er ist zu salzig, zu trocken oder er ist gut. Einfach nur gut. Es geht um das Reduzierte, den feinen Geschmack des Produkts. So einen Schinken schiebt man sich nicht einfach in den Mund. Den isst man bewusst. Beim Speck muss man halt wissen, wie es geht und dass der nicht vier Wochen, sondern oft Monate braucht, bis er so wahnsinnig gut geworden ist.
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Das Wichtigste aber ist heute, dass das Produkt regional ist.
Grundsätzlich halte ich es für sehr gut, dass Regionalität modern ist. Das stärkt ja auch die Wertschöpfung einer Gegend. Die Zeiten haben sich da wirklich gewandelt. Wenn wir in unserem Restaurant vor zehn Jahren einen kleinen Gang auf einem Holzbrettl aus den umliegenden Wäldern serviert hätten, hätten die Gäste wohl mit den Achseln gezuckt und gemeint: Na und, ist das alles? Können die nicht mehr?
Da hat wohl die nordische Küche mit ihrem radikalen Regionalismus viel dazu beigetragen.
Ich würde sagen, die nordische Küche hat die Lawine in Zusammenarbeit mit den Medien losgetreten. Wir sollten dafür danke sagen. Aber es kann auch nicht sein, dass die Skandinavier jetzt so tun, als hätten sie das Räuchern und Einwecken erfunden. Da haben unsere Vorgänger in den Alpen wohl noch mehr Erfahrung. Nur haben wir die Geschichte nicht erzählt, weil wir keine Zeit dazu hatten. Im Übrigen muss man aber auch im Norden sehr weit fahren, um was G’scheites zum Beißen zu kriegen und nicht den hundertsten Lutefisk.
Es gibt aber auch rohes Rentierherz. Einfach ein Stück rohes Rentierherz.
Und die ganze Welt schreibt darüber. Nur wo ist da die Kreativität? Das ist eine Portion Frechheit. Wissen Sie, was viel weltbewegender ist? Ein gutes Beuschel.
Trübt Regionalität, wenn man sie wie eine Religion lebt, nicht auch den Blick über den Tellerrand?
Wir leben hier, wir machen möglichst viel mit dem, was die Region hergibt. Aber nur weil zum Beispiel einer in Großarl geboren ist, will er doch nicht sein Leben lang eine Lederhose anhaben. Und wenn ich in Werfen koche, heißt das nicht, dass ich nur mehr Blutwurst und Schwarzbrot mache. Man muss wissen, wo man daheim ist, man muss aber auch wissen, was in der Welt los ist.
Wie haben die Berge Ihre Persönlichkeit, Ihr Leben geprägt?
Ich verdanke ihnen einen Leitsatz: Du darfst im Leben nie zu faul sein, dich zu bücken. Berge formen Ausdauer und Willen. Am Berg bist du erst oben, wenn du oben bist, wurscht, ob es zwei oder drei Stunden dauert. Vielleicht ist das Wetter manchmal nicht so gut, dann dauert es länger, aber ich geh da hinauf, soll sein, was will. Eine der Stärken von meinem Bruder Karl und mir ist, dass wir – wenn wir von hinten einen Hauch spüren – immer noch zulegen können. Das ist wie bei einem Marathonläufer, der den Atem des Verfolgers spürt, der ihn überholen könnte. Ich kann auf dem Berg niemandem hinterhergehen. Entweder lass ich abreißen oder überhole. Man könnte also sagen, ich gehe lieber meine eigenen Wege.
Denken Sie über sich nach beim Gehen?
Ja, es beginnt nach einer Stunde. Das hat mit dem Blutzucker zu tun. Da fängt dann das freie Denken an. Ich kenne niemanden, der vom Berg z’wider heimkommt. Da kann es daheim noch so zugehen, da bringt mich nichts aus dem Häusl.
Was finden Sie in den Bergen für Ihre Küche?
Mittlerweile viel: Quendel, Speik, Blutwurz. Aber es gibt Leute, die wissen viel mehr als ich. Einmal habe ich vor Sonnenaufgang eine alte Sennerin im Lungau getroffen. Zuerst hat sie mich kritisch beäugt. Dann hat sie mir ein Frühstück gemacht, und ich habe viel gefragt. Da hat sie zu erzählen begonnen. Zum Schluss hat sie mir ein Glas rosafarbenen Almrauschhonig geschenkt. „Wieso krieg ich das?“, habe ich gefragt. „Weilst di interessierst“, hat sie gesagt. Durch dieses Gespräch ist unser Almrauschsirup entstanden. Man sollte viel mit alten Menschen reden und ihnen zuhören. In den Alpen zahlt sich das aus.
Welche kulinarischen Eindrücke aus Ihrer Jugend sind Ihnen geblieben?
Wir mussten sehr sparsam leben. Limonade oder Schwedenbomben gab’s nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Der Vater hat auch nur am Sonntag ein Bier getrunken. Der größte Genuss aber war eine SchillingSchnitte im Schwimmbad. Das waren die langen Vorläufer der Manner Schnitten. An einer einzigen Schnitte habe ich sicher 20 Minuten gegessen. Schicht für Schicht habe ich vorsichtig mit den Zähnen abgehoben: Nougat, Waffel, dann wieder Nougat... Das war ein Wahnsinn für mich.
Wissen Sie, was mir an der historischen alpinen Küche auffällt? Dass sie wenig Fisch enthält, trotz der vielen glasklaren Seen und Bäche. Können wir das zum Schluss noch klären bitte?
Die Gräten! Ich kann mich erinnern, wer in meiner Kindheit Fisch gegessen hat: der Lehrer und der Notar. Die haben mehr Zeit gehabt als die Hackler und Bauern. Die konnten sich mittags hinsetzen, ewig herumzupfen und dabei ein Glas Wein trinken. Die haben das zelebriert, weil sie Zeit hatten. Zeit ist ein Zeichen für Wohlstand. Ein Knödel macht dich nicht narrisch mit den feinen Gräten und ist viel schneller gegessen. Aus dieser Beobachtung ist übrigens auch der Forellenstrudel entstanden, wohl unser bekanntestes Gericht: Fisch ohne Gräten im Strudel versteckt, geboren aus der Verzweiflung darüber, dass hier keiner Fisch isst.
Zur Person
Rudolf Obauer wurde 1961 in Werfen in Salzburg geboren. Er ist seit 27 Jahren mit Angelika Obauer verheiratet und Vater dreier Kinder. Mit seinem Bruder Karl (*1953) zählt er zu den besten Köchen Österreichs. 1979 begannen die beiden nach Lehrjahren in internationalen Spitzenküchen, das Restaurant in Werfen aufzubauen. Das Restaurant „Obauer“ wird vom Restaurantführer „Gault Millau“ seit 1994 ununterbrochen mit der Höchstnote von vier Hauben ausgezeichnet. Zahlreiche Kochbuchveröffentlichungen; 2014 erschien „Unsere Innergebirgsküche“ im Servus Verlag.
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