Gipfelfieber: Von blindem Streben und klugem Verzicht
Foto: Blake Jorgenson/Red Bull Content Pool
von Christina Geyer
Warum Umkehren am Berg ein Kraftakt ist und Gipfelfieber eine Form von Sucht: Wir begeben uns auf eine begriffliche Spurensuche.
Der Mensch ist fehlbar. Und so sind auch die Entscheidungen, die er trifft, nicht immer vernünftig. Das zeigt sich nirgends eindrücklicher als am Berg. Im Vorfeld festgelegte Umkehrzeiten werden regelmäßig verworfen, Risiken zugunsten des Gipfelerfolgs billigend in Kauf genommen. Es gibt verschiedene Begriffe, die dieses Phänomen zu benennen versuchen: Gipfelfieber, Bergsucht oder auch schlichtweg Wahnsinn.
Regelmäßig quälen sich Bergsteiger auch noch am Ende ihrer Kräfte weiter, immer dem Gipfel entgegen – und scheinen völlig gleichgültig ihrem Leben gegenüber zu sein. Dem Außenstehenden erscheint das schnell als leichtsinnig und irrational, als lebensmüde und irre. Aber diese Sichtweise ist verkürzt, nicht zuletzt, weil sie reflexartig unterstellt, dass hier Kandidaten mit einer ausgeprägten Todessehnsucht am Berg unterwegs seien.
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Wahrscheinlicher ist, dass das Gipfelfieber mit ausgeprägter Leidenschaft einhergeht, die alles andere in den Schatten stellt. Sie bewirkt, dass sich die gesamte Wahrnehmung auf das Erreichen des Gipfels verengt, ungeachtet der möglichen Konsequenzen. Risiken müssen dabei nicht zwangsläufig aus Leichtsinn bewusst in Kauf genommen werden, sie können schlichtweg ausgeblendet und verdrängt werden.
Hier ist das Gipfelfieber durchaus mit einer Sucht zu vergleichen, deren Wesen nach sich alles Sehnen auf das konzentriert, was die Sucht begehrt. Und das ist auch im Falle des Gipfelfiebers einleuchtend: Wer Kälte, Erschöpfung und literweise Schweiß in Kauf nimmt, scheint bis zu einem gewissen Grad süchtig zu sein und zwar nach etwas, das einem ausreichend Entschädigung für die Mühen des Aufstiegs in Aussicht stellt.
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Aufzugeben und umzukehren hieße in dieser Situation: An der eigenen Leidenschaft zu scheitern. Denn der Abbruch einer Gipfeltour bedeutet zugleich, auf die Möglichkeit des Erfolgs zu verzichten. Wer sich zum Abbruch entscheidet, entscheidet sich auch gegen die Option, eventuell doch noch den Gipfel zu erreichen. Eine solche Entscheidung erfordert Umsicht und verlangt, das eigene Wollen hinter die Vernunft zu stellen.
Das Wollen nicht mehr wollen
Man muss sich gewissermaßen dazu durchringen, das eigene Wollen nicht mehr zu wollen oder zumindest nicht so sehr zu wollen wie einen kalkulierbaren, sicheren Abstieg. Wer auf Nummer Sicher geht, gibt dem nüchternen Urteilsvermögen den Vorzug und entscheidet sich bewusst gegen den Drang der Leidenschaften. Und das ist womöglich das noch viel größere Verdienst als das Erreichen des Gipfels. Denn der Verzicht auf etwas, das man liebt und begehrt, setzt einen unwahrscheinlich größeren Krafteinsatz voraus als das blinde, fiebernde Streben nach dem nächsten Gipfel.
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