Lawinenlagebericht: Experten zur aktuellen Situation
Foto: mauritius images / imageBROKER / Thomas Gaulke
von Robert Maruna
In vielen Bereichen des gesamten Alpenraums herrscht im Moment große (Warnstufe 4), in der Steiermark und Teilen von Niederösterreich bereits sehr große Lawinengefahr (Warnstufe 5). Wovon nun die größten Gefahren ausgehen und was die aktuelle Schneesituation für den weiteren Verlauf des Winters bedeutet? Die Experten Rudi Mair, Leiter des Lawinenwarndienst Tirol, und Christoph Mitterer, fachlicher Koordinator des Euregio-Lawinenreport, klären auf.
Eine Tatsache, die nicht von der Hand zu weisen ist: Die Alpen versinken im Schnee. Und der seit 2. Jänner andauernde Schneefall mit einhergehendem Sturm hat landesweite Spuren hinterlassen. Bereits mehrere Todesopfer sind aufgrund von Lawinenabgängen in Vorarlberg und Salzburg zu beklagen, zwei Tourengeher in Oberösterreich gelten seit Samstag noch immer als vermisst, der gesamte Straßenverkehr in Tirol, Salzburg und der Steiermark ist von den Schneemassen stark beeinträchtigt, das Steirische Sölktal und der Salzburger Wintersportort Obertauern sind seit dem Wochenende von der Außenwelt abgeschnittenen, in den Gemeinden Filzmoos und Abtenau versucht man Hausdächer aufgrund der gewaltigen Schneemassen vor dem Einsturz zu bewahren und in Niederösterreich wurde das Ski- und Wohngebiet Hochkar evakuiert.
Die Landesregierung der Steiermark hält Dienstag eine Krisensitzung zur aktuellen Wetterlage ab: Je nachdem wie stark die zu erwartenden Schneemassen in den nächsten 48 Stunden ausfallen, könnte in manchen Landesteilen sogar die höchste Lawinenwarnstufe ausgerufen werden. Kurzum: Der ungewöhnlich starke Wintereinbruch hat das gesamte Land (abgesehen von den südlichen Regionen und dem Flachland) fest im Griff. Doch was sagen die Experten zu alledem?
Bergwelten: Die gewaltigen Neuschneemengen der letzten Woche mit einhergehendem Sturm haben zu einer überaus heiklen Lawinensituation geführt. Wovon gehen im Moment die größten Gefahren aus?
Christoph Mitterer und Rudi Mair: Rein auf die Lawinengefahr bezogen zeigen sich die enormen Neuschneemengen, teilweise hatten wir bis zu 2 Meter Neuschnee in den letzten 3 Tagen, der stürmische Wind und die relativ kalten Temperaturen maßgeblich für diese kritische Situation verantwortlich. Für große Lawinen braucht es einfach viel Schnee. Den haben wir bekommen und werden ihn auch in den nächsten Tagen weiterhin bekommen. Was uns im Moment für den Abgang von sehr großen Lawinen noch „fehlt“ ist eine prominente Schwachschicht.
Wenn wir die derzeitige Situation in eines der zehn Gefahrenmuster einordnen müssten, welche wären das?
Wie gesagt, der Neu- und Triebschnee sind das Hauptproblem. Deshalb beschreibt das Gefahrenmuster „gm. 6 Lockerer Schnee und Wind“ die Situation wohl am Besten.
In Hinblick auf den bevorstehenden Neuschneezuwachs dieser Woche: Kann sogar Gefahr für Skifahrer im gesicherten Pistenbereich bzw. Skigebiet entstehen?
Skifahrer im gesicherten Pistenbereich können sich voll und ganz auf die Einschätzung der Profis, sprich Lawinenkommissionen, vor Ort verlassen. Diese haben das Wissen und Know-how, um die mögliche Lawinengefahr für die Pisten einzuschätzen und gegebenenfalls Maßnahmen zu setzen. Ist eine Piste geöffnet, so ist sie auch sicher. Maßnahmen beinhalten häufig präventive Sprengungen oder Sperrungen. Folglich wird man in den nächsten Tagen häufig auf geschlossene Pisten und Skigebiete treffen.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wird nochmals ein massiver Neuschneezuwachs von 50-80 cm erwartet, wieder mit starkem Nordwestwind, kann mit dem Ausruf der Lawinenwarnstufe 5 (zuletzt im April 2017 in der Obersteiermark und in den Ybbstaler Alpen bzw. im Januar 2018 in Westösterreich) gerechnet werden und was bedeutet das für die niederen Lagen? (Anmerkung Redaktion: Das Interview wurde am Dienstag, den 8. Jänner geführt, mittlerweile wurde in weiten Teilen der Steiermark und in den Ybbstaler Alpen in Niederösterreich Lawinenwarnstufe 5 ausgerufen.)
Am Montag hatten wir eine kurze Verschnaufpause: Der Niederschlag war eher gering und seit Sonntag sind die Temperaturen etwas angestiegen. Dadurch konnte sich die Schneedecke etwas setzen und besser verbinden. Mit den prognostizierten Schneefällen und Wind steigt die Gefahr dann wieder an, bleibt aber wohl im Bereich der Gefahrenstufe 4 (groß).
Inwiefern ist der Ausruf der Lawinenwarnstufe 5 auch eine politische Entscheidung (Stichwort: touristische Auswirkungen) und nicht bloß eine sicherheitsbasierte bzw. naturwissenschaftliche?
Die Gefahreneinschätzung und Beurteilung der Gefahrenstufen hängen einzig und allein von den physikalischen Prozessen und den dahinterstehenden Wahrscheinlichkeiten ab. Keine Politik.
Eine abschließende Frage: Wie beurteilt ihr die Lawinensituation und den weiteren Verlauf der Wintersaison mit einer solch gewaltigen und windbeeinträchtigten Basis von bereits über zwei Metern?
Wie eingangs schon gesagt: Wir haben derzeit keine prominente Schwachschicht – auch nicht an der Basis der Schneedecke. Folglich ist der Schneedeckenaufbau derzeit eher stabil. Es klingt vielleicht paradox, aber in schneereichen Wintern ist der Schneedeckenaufbau häufig stabiler als in schneearmen. Bei viel Neuschnee, ist die Zeit während des Niederschlags und kurz danach kritisch. Nach dem Schneefall ist es aber durchaus möglich, dass sich die Situation schnell wieder beruhigt. Die Schneedecke setzt sich dann schnell, geht viele Verbindungen ein und stellt ein eher stabiles Material dar. In schneearmen Wintern bildet die Schneedecke häufig prominente Schwachschichten aus, die bei geringer Belastung, z.B. von einem Skifahrer, schon gestört werden kann. Die Schneedecke ist dann eher ein fragiles Material.
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