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Berg-Know-How

Mit dem Seil verbunden: Anseilen am Gletscher

• 5. September 2017
5 Min. Lesezeit
von Peter Plattner

Nicht nur im Alpinismus steht das Bergseil für Kameradschaft und Sicherheit. Als Seilschaft kann man aber nicht nur gemeinsam tolle Ziele erreichen, sondern auch gemeinsam abstürzen. Anseilen oder nicht anseilen, am kurzen Seil oder mit viel Abstand? Unsere Sicherheitsexperten Peter Plattner und Walter Würtl haben die Antworten.

Angeseilt am Gletscher: Lange Abstände, gespanntes Seil
Foto: argonaut.pro
Angeseilt am Gletscher: Lange Abstände, gespanntes Seil

Seit Jahrzehnten geschehen beim Bergsteigen regelmäßig Unfälle, bei denen ganze Seilschaften abstürzen. Aus welchen Gründen auch immer schaffen es die durch das Seil verbundenen Kameraden nicht, selbst den Sturz eines einzigen Menschen zu „halten“ und werden mitgerissen.

Der Beginn des modernen Alpinismus, die Erstbesteigung des Matterhorns am 14. Juli 1865, wird bereits von einem solchen Mitreißunfall überschattet: beim Abstieg der erfolgreichen 7er-Seilschaft stürzt ein Bergsteiger und reißt die ganze Seilschaft mit – Eduard Whymper sowie Taugwalder Vater & Sohn überleben nur, weil das Seil vor ihnen gerissen ist.

Nachdem Edward Whymper als erster den Gipfel des Matterhorn betreten hat, stürzt Robert Hadow im Abstieg auf den Führer Michel Croz und reisst Charles Hudson und Francis Douglas mit – das Seil der siebenköpfigen Seilschaft reißt, als Bergführer Peter Taugwalder Sen. versucht den Sturz zu halten; er sowie sein Sohn und Whymper überleben
Foto: Gustave Doré „Ascension du Mont Cervin – 14 Juillet 1865 – La Chute!“ Lithografie, 1869 (© Alpenverein-Museum, Österreichischer Alpenverein)
Nachdem Edward Whymper als erster den Gipfel des Matterhorn betreten hat, stürzt Robert Hadow im Abstieg auf den Führer Michel Croz und reisst Charles Hudson und Francis Douglas mit – das Seil der siebenköpfigen Seilschaft reißt, als Bergführer Peter Taugwalder Sen. versucht den Sturz zu halten; er sowie sein Sohn und Whymper überleben

Das Seil: Symbol der Sicherheit?

Für einen Außenstehenden bedeutet „angeseilt“ gleichzeitig immer auch „Sicherheit“. Nicht nur diverse (Hollywood-)Bergfilme zeigen anschaulich, dass ein kräftiger Partner jeden Sturz „auch aus der Hüfte“ halten kann, auch in Bergmagazinen, Katalogen und Werbefotos ist das Seil gerne in Bild und Wort im Mittelpunkt. Impliziert wird: „Gemeinsam am Seil – sicher unterwegs!

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So ist es nachvollziehbar, dass die Boulevard- und Tagespresse alsbald berichtet, dass die „Bergsteiger abgestürzt sind obwohl sie angeseilt waren“. Nach jedem schweren Alpinunfall ist der tatsächliche Hergang und die Ursachen – wenn überhaupt – erst dann erklärbar, wenn die Ergebnisse von Alpinpolizei und Sachverständigen vorliegen (was mehrere Monate dauern kann). Bei den Mitreißunfällen, die besonders tragisch sind, weil meistens mehrere Personen zu Schaden kommen, müsste die Kernaussage aber lauten: „die Bergsteiger sind abgestürzt, weil sie angeseilt waren.“ In vielen Fällen wäre ohne Seil zwar ein Mensch verunglückt, durch das Seil verbunden findet aber eine ganze Seilschaft den Tod. Hart formuliert, aber leider Tatsache. Willkommen in der Realität des Bergsteigens.

Tragisch auch deshalb, weil die Gefahr der Mitreißunfälle seit Jahrzehnten in allen Ausbildungen und Lehrbüchern thematisiert wird. Sie ist ebenso bekannt wie die Maßnahmen, sie zu verhindern. Deswegen ist kaum ein Thema für die verantwortlichen Experten der alpinen Vereine und Institutionen so frustrierend wie die Mitreißgefahr. Wann ist ein anseilen sinnvoll, und wann nicht?

4 Sicherungsmöglichkeiten mit dem Seil

Es gibt verschiedenste Möglichkeiten, mit dem Seil zu sichern. Alle haben Vor- und Nachteile und wer das Handwerk versteht, verwendet je nach Situation die beste Technik. Ein grundlegender Überblick über vier verschiedenen Sicherungstechniken.

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1. Fixpunkt-Sichern

Fixpunkt-Sichern: Bei Absturzgefahr wird von Standplatz zu Standplatz (hier ein Felskopf) gesichert
Foto: argonaut.pro
Fixpunkt-Sichern: Bei Absturzgefahr wird von Standplatz zu Standplatz (hier ein Felskopf) gesichert.

Schlaghaken, Eisschrauben, Bäume, Eisenstangen ... in Fels und Eis gibt es verschiedenste natürliche und künstliche Fixpunkte. Werden diese als zuverlässig beurteilt, kann der Vorsteiger (der Erste einer Seilschaft) an ihnen einen Standplatz einrichten und den oder die Anderen nachsichern. Im Falle eines Sturzes wird die ganze Belastung über Zwischensicherungen oder direkt auf den Standplatz übertragen und der Absturz verhindert. Sind die Nachsteiger am Standplatz angekommen, klettert der Vorsteiger eine Seillänge (40 - 60 m) weiter, bis zum nächsten Standplatz. Dieses Sichern von Standplatz zu Standplatz ist bei schweren Fels- und Eistouren Standard und recht sicher – allerdings benötigt es Zeit. Also: Bei Absturzgefahr wird von Fixpunkt zu Fixpunkt gesichert.

  • 2. Fixpunkt Mensch

    Gletscher-Seilschaft: Bei Spaltensturzgefahr und angeseilt mit entsprechend großen Abstanden gemeinsam gegangen – Fixpunkt um einen Sturz zu halten sind die anderen Seilschaftspartner.
    Foto: argonaut.pro
    Gletscher-Seilschaft: Bei Spaltensturzgefahr und angeseilt mit entsprechend großen Abstanden gemeinsam gegangen – Fixpunkt um einen Sturz zu halten sind die anderen Seilschaftspartner.

    Am Gletscher dagegen ist eine Seilschaft immer ohne solche Fixpunkte unterwegs. Stimmt nicht ganz, vielmehr sind die Kameraden die Fixpunkte: Stürzt einer in eine Gletscherspalte, überträgt sich der Seilzug auf den/die Nächsten, welcher der Belastung standhalten muss. Das funktioniert am Gletscher recht gut, weil – solange das Gelände nicht zu steil ist – die auftretenden Kräfte sehr gering sind und mit weiteren Maßnahmen (größere Seilschaften mit 3 und mehr Personen, Bremsknoten, mehr Abstand ...) das Halten erleichtert wird. Also: Bei Spaltensturzgefahr wird mit großen Abständen (mind. 8-10 m) gemeinsam am Seil gegangen!

  • 3. Gehen am „Kurzen Seil“

    Kurzes-Seil: Bei entsprechendem Gelände und Verhältnissen kann eine Person bei geführten Touren ans Kurze Seil genommen werden. Ein trainierter und konzentrierter Führer kann durch Zug am Seil verhindern, dass aus einem Stolperer ein Sturz entsteht.
    Foto: argonaut.pro
    Kurzes-Seil: Bei entsprechendem Gelände und Verhältnissen kann eine Person bei geführten Touren ans Kurze Seil genommen werden. Ein trainierter und konzentrierter Führer kann durch Zug am Seil verhindern, dass aus einem Stolperer ein Sturz entsteht.

    Die Bergführertechnik schlechthin. Die Führerin geht voraus und ganz knapp dahinter geht ihr Gast parallel mit. Stolpert letzterer kann sie sofort reagieren und durch einen Zug am Seil einen Absturz verhindern. Obwohl kontrovers diskutiert ist man sich heute weitgehend einig, dass diese Technik nicht nur eine entsprechend intensive Ausbildung benötigt, sondern nur mit einem einzigen „Nachsteiger“ und nur bei bestimmten Voraussetzungen (Verhältnisse, Gelände, Gewichtsverhältnis, ...) funktioniert. Außerdem wird diese Technik auf Passagen beschränkt, wo nicht anders (z.B. von Fixpunkt zu Fixpunkt) gesichert werden kann. Also: Gemeinsam am Kurzen Seil wird primär von Bergführern und so selten wie möglich gegangen!

    4. Halblanges Seil, Gestaffeltes Gehen, Running Belay

    Eingehängte Fixpunkte: Wenn es steiler wird, können eingehängte Fixpunkte (hier eine Eisschraube) einen kompletten Seilschaftsabsturz verhindern. Dafür gibt es unterschiedliche Techniken, die situationsbedingt korrekt angewendet werden müssen.
    Foto: argonaut.pro
    Eingehängte Fixpunkte: Wenn es steiler wird, können eingehängte Fixpunkte (hier eine Eisschraube) einen kompletten Seilschaftsabsturz verhindern. Dafür gibt es unterschiedliche Techniken, die situationsbedingt korrekt angewendet werden müssen.

    Sobald Fixpunkte verfügbar sind, wird ein Bergführer im Absturzgelände sofort vom Kurzen Seil auf eine andere Technik wechseln. Auch für Privatseilschaften kann das in leichterem Gelände ein guter Kompromiss zwischen zeitaufwendigem Standplatzsichern und seilfreiem Gehen sein. Dazu gibt es verschiedene Techniken, die eines gemeinsam haben: die Seilschaft bewegt sich zwar gemeinsam, allerdings läuft das Seil immer wieder durch Fixpunkte, die einen kompletten Seilschaftsabsturz verhindern. Also: Im leichten Absturzgelände können eingehängte Fixpunkte den Absturz einer ganzen, gemeinsam gehenden Seilschaft verhindern!

    Seiltechnik: Wann wie entscheiden?

    Techniken sind also genug vorhanden und deren Anwendung kann man auf allen Niveaus lernen. Dennoch passieren auch erfahrenen Experten hier regelmäßig Unfälle. Was auf dem Papier und in der Ausbildung offensichtlich scheint, wird in der Praxis auf Tour zur Herausforderung: Neben all den anderen Dingen, die es zu berücksichtigen gibt, zu entscheiden, wann ich auf welche Sicherungstechnik wechsle.

    Wie Sichern? Die Kunst besteht darin, sich entsprechend dem Gelände und den Verhältnissen für die jeweils beste Sicherungstechnik zu entscheiden.
    Foto: argonaut.pro
    Wie Sichern? Die Kunst besteht darin, sich entsprechend dem Gelände und den Verhältnissen für die jeweils beste Sicherungstechnik zu entscheiden.

    Vor allem auf Hochtouren, die über vergletschertes Gelände führen, gilt es zu entscheiden:

    • Wann überwiegt die Spaltensturzgefahr (d.h. ich gehe angeseilt & in langen Gletscherabständen)?
    • Wann überwiegt die Absturzgefahr (d.h. ich muss Fixpunkte verwenden & die Abstände verkürzen)?
    Seilfrei gehen. Klassisches leichtes Absturz- und damit auch Mitreißgelände: Fixpunktsichern ist zeitaufwendig, gemeinsames Gehen am Kurzen Seil nur mit einem „Kunden“ sinnvoll. Die Seilschaft am Foto hat sich entschieden, nach dem Zustieg über einen Gletscher das Seil wegzugeben und ungesichert weiterzusteigen, weil die zu erwartenden Schwierigkeiten für niemanden ein Problem darstellen.
    Foto: argonaut.pro
    Seilfrei gehen. Klassisches leichtes Absturz- und damit auch Mitreißgelände: Fixpunktsichern ist zeitaufwendig, gemeinsames Gehen am Kurzen Seil nur mit einem „Kunden“ sinnvoll. Die Seilschaft am Foto hat sich entschieden, nach dem Zustieg über einen Gletscher das Seil wegzugeben und ungesichert weiterzusteigen, weil die zu erwartenden Schwierigkeiten für niemanden ein Problem darstellen.

    Bei gleichwertigen Partnern, die eigenverantwortlich unterwegs sind und die Schwierigkeiten mit gutem Gefühl und Reserven meistern, ist es üblich und macht auch Sinn, dass in einem schwer zu sicherndem Gelände ohne Seil gegangen wird. Mit dem vollen Bewusstsein, dass ein Fehltritt fatal endet – aber nur für den, der ihn macht. Nicht zuletzt der Zeitgewinn gegenüber dem konsequenten Sichern von Stand zu Stand kann hier auf klassischen Hochtouren ein Sicherheitsgewinn sein. Aber das muss jeder selbst entscheiden.

    Und es gibt tatsächlich Touren, die mit keiner der beschriebenen Techniken seriös gemacht werden können. Auch nicht am Kurzen Seil des Bergführers.

    Modetouren. Zur Hauptsaison auf beliebten (Ski-)Hochtouren wie dem Finsteraarhorn trifft man alle Sicherungstechniken an: Sichern an Fixpunkten (rechts über einen Felskopf), gemeinsames Gehen am kurzen Seil (mitte) und seilfrei (links).
    Foto: argonaut.pro
    Modetouren. Zur Hauptsaison auf beliebten (Ski-)Hochtouren wie dem Finsteraarhorn trifft man alle Sicherungstechniken an: Sichern an Fixpunkten (rechts über einen Felskopf), gemeinsames Gehen am kurzen Seil (mitte) und seilfrei (links).

    Fazit: Anseilen oder nicht?

    Und die Moral von der Geschichte? Genau, es ist kompliziert. Aber auch: Ein Seil bedeutet nicht automatisch Sicherheit.

    • Unter gewissen Umständen kann es im Alpinismus zu Mitreißunfällen kommen, bei denen eine Seilschaft als Ganzes abstürzt.
    • Ein Seil ist ein Sicherheitsgewinn, wenn ...
      ... Absturzgefahr besteht und verlässliche Fixpunkte zum Sichern vorhanden sind.
      ... Spaltensturzgefahr am Gletscher besteht.
      ... beim Running Belay immer wieder Fixpunkte eingehängt werden.
    • Ein Gehen am „kurzen Seil“ erfordert viel Erfahrung und Aufmerksamkeit.
    • Seilfrei steigen kann unter gleichwertigen Partnern auch ein Sicherheitsgewinn sein.
    • Die Entscheidung, ob mit oder ohne Seil, ist ein komplexes Unterfangen und muss auf Tour ständig neu beurteilt werden.

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