Bio-Kräuter aus dem Valposchiavo
Foto: Madalaina Walther
Vor knapp 40 Jahren pflanzte Reto Raselli einen kleinen Kräutergarten an. Heute stecken seine Bio-Kräuter aus dem Valposchiavo in der Schweizer Kräuterbonbon-Ikone und zahlreichen Teemischungen.
Üsé Meyer für das Bergwelten-Magazin April/Mai 2020 für die Schweiz
„Ja. Es ist mühsame Arbeit“, sagt der Mann in Jeans und blau-weiß kariertem Kurzarmhemd. Die schwarzen Haare sind angegraut und zu einem Scheitel gekämmt. Der Schnauz ist buschig, aber gepflegt, die Haut von der Sonne gebräunt und vom Wetter gegerbt. Die Augen leuchten und sind von zahlreichen Lachfalten umgeben.
„Soriso!“, ruft Reto Raselli den Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem Feld freundlich zu. Es hat zu regnen aufgehört, und hinter dem blauen Kornblumenfeld wabern die letzten Nebelschwaden über dem Lago di Poschiavo.
Von den schmalen Blättern der Verveinebüsche kullern die letzten Regentropfen, während der orange Teppich aus Ringelblumen unmittelbar daneben durch die ersten Sonnenstrahlen zu leuchten beginnt, die erst gerade zwischen den Wolken durchbrechen. Es riecht nach Petrichor, dem Duft des Regens.
Das Wasser löst Kleinstpartikel aus dem Boden, die in die Luft gelangen und das Aroma der Erde verströmen. Jeder Regen riecht anders. Der Einfluss des Bodens auf den Geschmack – Weinliebhaber kennen das unter dem Fachbegriff Terroir. Wer würde daran zweifeln, dass der Boden den Geschmack der Kräuter beeinflusst?
Reto Rasellis Felder liegen auf rund 1.000 Metern über Meer am Nordufer des Lago di Poschiavo unweit des Örtchens Le Prese. Der 66-Jährige hatte 1981 als einer der Ersten hier mit dem Kräuteranbau begonnen. Am Anfang war’s nur ein kleiner Kräutergarten unweit seines Bauernhofs.
Bald danach gründeten die Kräuterbauern vor Ort eine Genossenschaft, 1985 dann eine Interessengemeinschaft, die den Bonbonhersteller Ricola belieferte. „Dieser Deal war für uns damals überlebenswichtig“, sagt Raselli rückblickend. Gegenwärtig verfügt sein Betrieb über eine Anbaufläche von 14 Hektar, was der Größe von rund 20 Fußballfeldern entspricht.
Je nach Jahreszeit beschäftigt er zwischen 12 und 20 Angestellte. Ricola ist unterdessen nur noch einer von vielen Abnehmern; Hauptkunde der Raselli Erboristeria Biologica ist heute Coop mit den Teelinien Naturaplan und Pro Montagna, daneben wird Kaffeespezialist Chicco d’Oro für seine Kräutertee-Linie beliefert.
Zahlreiche Drogerien verarbeiten die Kräuter zu Arzneitees. Raselli verkauft seine Kräutermischungen ebenfalls im Direktvertrieb, jedoch wegen der strengen Auflagen nicht als Heil-, sondern als Lebensmittel.
„Wir können ja auch mit den Namen unserer Teemischungen etwas aussagen“, grinst Raselli und nennt gleich zwei: „Nach der Mahlzeit Tee, Abendtee …“. Dass Kräuter vieles bewirken könnten, wisse man ja schon seit gut tausend Jahren.
Achtung Bienen!
„Ah, merda…“ – ein Pflücker auf dem Feld unterdrückt einen längeren Fluch, inspiziert seinen Daumen und zieht daraufhin den Stachel einer Honigbiene heraus. „Manchmal ist es eine mühsame Arbeit“, wiederholt Raselli. Kornblüten beispielsweise sind unangenehm klebrig, wenn sie nass sind; aber pflücken muss man sie jetzt in ihrer blauen Pracht, bevor die Blüten weiß werden.
Und natürlich sind die Blüten auch bei Bienen beliebt – Insektenstiche sind entsprechend an der Tagesordnung. Rasellis Korn- und Ringelblumen können zur Dekoration von Gerichten verwendet werden, und sie verleihen seinen Teemischungen auch etwas Farbe.
Den Großteil seiner Felder hat er allerdings mit Kräutern bepflanzt: Brennnessel, Verveine, Frauenmantel, Malve, Pfefferminze, Majoran, Schafgarbe, Zitronenmelisse und viele mehr. Gerade wird die Apfelminze zum Trocknen eingebracht. Ein Mitarbeiter schaufelt die Pflanzen auf das laut scheppernde Förderband, auf dem sie zerkleinert werden, damit sie schneller trocknen.
Ein milder Minzgeruch breitet sich in der Scheune aus. In der Trocknungsbox blasen Ventilatoren Luft, die mittels einer Wärmepumpe erhitzt wird, durch den Lochboden nach oben. Dort wird sie wieder angesaugt, entfeuchtet und erneut eingeblasen.
Damit die Kräuter ihre ätherischen Öle und Wirkstoffe behalten, darf die Temperatur maximal 40 Grad betragen. Nach 48 Stunden geht das getrocknete Kraut in die sogenannte Rebelmaschine, um die Blätter vom Stiel zu trennen.
In zwei Malvorgängen in der dafür vorgesehenen Mühle werden die Blätter nicht nur zerkleinert, sondern auch entstaubt. Rasellis Unternehmen ist bereits seit 1993 von Bio Suisse zertifiziert. Das zahlt sich aus. „Gerade in den letzten Jahren hat die Nachfrage nach Produkten aus der Schweiz und in Bio-Qualität stark zugelegt“, freut sich der 66-Jährige.
Den Erfolg gibt es nicht umsonst: Allein der Aufwand für die Unkrautbekämpfung ist bedeutend höher als jene im konventionellen Kräuteranbau. „Diese macht zwischen 70 und 80 Prozent unserer Gesamtarbeit aus“, erklärt der Unternehmer. Einiges könne zwar maschinell erledigt werden, doch der Anbau erfordere nach wie vor viel Handarbeit.
Emotionales Edelweiß
In der alten Scheune steht ein Sack mit getrockneten Edelweißblüten. Geschmack und Wirkung der Pflanze seien für eine Teemischung nebensächlich, sagt Raselli. „Dafür ist die Blüte schön, sie steht exemplarisch fürs Berggebiet, ist emotional hoch aufgeladen und deshalb ein gutes Verkaufsargument.“
Die meisten Teemischungen werden direkt in der Erboristeria in Le Prese maschinell abgefüllt und ein Teil davon gleich verkaufsfertig in Kartonschachteln verpackt. Ausgenommen die Pyramidenbeutel – diese werden in Handarbeit in kleine, durchsichtige Plastiksäckchen abgefüllt.
Diese Arbeit übernehmen meist ältere, ehemalige Kräuterbäuerinnen aus dem Tal im Stundenlohn – die älteste ist 87 Jahre alt. Sie kämen nicht wegen des Geldes, sondern der Gesellschaft wegen. Reto Raselli selber reduziert seine Präsenz im Betrieb und kümmert sich deshalb nur noch um die Erboristeria – also um das Trocknen, die Verarbeitung, das Verpacken und den Verkauf.
Den Landwirtschaftsbetrieb hat sein 30-jähriger Neffe Fabrizio Raselli übernommen. Dieser betreibt nebenbei auch Gemüseanbau und Viehzucht. Mit rund 70 Prozent des Umsatzes machen die Kräuter aber die Haupteinnahmequelle des Hofs aus. Die Arbeit wird den beiden Rasellis jedenfalls auch in Zukunft nicht ausgehen. Die alte, enge Scheune soll durch einen großzügigen Neubau ersetzt werden.
Mit der Anschaffung von neuen Maschinen soll auch die Digitalisierung vorangetrieben werden. Dann kann er wieder öfter Velo fahren oder auf Reisen gehen. Wie früher, als er auf dem Landweg durch den Iran, Afghanistan, Pakistan und Indien nach Singapur gereist sei.
Seine Augen leuchten, als er von seinen Plänen erzählt. Er sitzt im Restaurant seines Bruders – dem ehemaligen Elternhaus. Auf dem Tisch steht eine Tasse Tee: Bergkräuter mit Edelweiß. Das kochend heiße Wasser verfärbt sich langsam von Gelb zu Grün und Orange.
Es duftet herrlich nach Minze und Zitrone. Spätestens jetzt besteht kein Zweifel mehr – all die mühsame Arbeit hat sich gelohnt.
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