Drei Tage am Fuß des Mont Blanc
Das französische Bergsteigermekka Chamonix verspricht alpine Abenteuer und sportliche Herausforderungen. Aber auch Familien mit Kind und Kegel finden hier aufregende Ausflugsmöglichkeiten, die einem ganz schön den Kopf verdrehen können.
Üsé Meyer für das Bergweltenmagazin März 2019
Leicht konfus im Kopf, mit Herzklopfen und schnellem Atem, etwas schwindlig – und ziemlich fasziniert. Gerade einmal zwanzig Minuten hat die Fahrt mit der Gondel gedauert: von Chamonix (1.033m) fast dreitausend Höhenmeter herauf zur Bergstation der Aiguille du Midi, die wie ein Adlerhorst auf der graubraunen Felsnadel sitzt.
Oben, 3.842m: der Mythos.
Die Luft hier oben ist dünn. Das kann einem schon etwas zusetzen – nicht aber dem siebenjährigen Leo. Sein Großvater habe ihm kürzlich erklärt, dass auf dieser Höhe der Sauerstoffgehalt nur noch 60 Prozent betrage. „Ich merke das aber gar nicht so krass“, analysiert er. Von der obersten Aussichtsplattform auf 3.842 Metern blicken Leo, seine Mutter Vreni und die dreijährige Schwester Alma zum Star des Bergmassivs – dem Mont Blanc, mit seinen 4.810 Metern der höchste Berg der Alpen.
Doch so imposant, wie man erwarten könnte, wirkt der rundliche weiße Riese gar nicht. Die wilden Felsformationen seiner „Trabanten“, die diversen Viertausender im Umkreis und die steilen, spaltenreichen Gletscher stehlen dem Mont Blanc etwas die Show.
Nicht die Schönheit, die Höhe macht also seine Anziehungskraft aus. Das war schon 1786 bei der Erstbesteigung so. Und auch heute suchen zur Hauptsaison täglich hunderte Bergsteiger den Gipfelerfolg – zu viele! Das Tourismusbüro wirbt längst nicht mehr mit ihm, die Plätze in den Hütten der Aufstiegsrouten wurden limitiert, und mit wenigen, scharf überwachten Ausnahmen herrscht Camping- und Biwakverbot.
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Der Mythos Mont Blanc hat solche Strahlkraft, dass er heute gern für diverse Promotion-Zwecke genutzt wird: Im Rahmen des 150. Geburtstags des Outdoor-Ausrüsters Mammut gab die bekannte französische Chanteuse Zaz ihren Hit „Je veux“ zum Besten – auf dem Gipfel, mitsamt Gitarre und Kontrabass.
Eine Meute jugendlicher Schweizer installierte einen beheizten Whirlpool auf dem „Dach der Alpen“ und badete darin – immerhin schleppten sie das Material selbst hinauf. Irre Ideen, um etwas Aufmerksamkeit zu erheischen, gab es auch schon früher: 1875 wurde der Gipfel beispielsweise erstmals mit einem Hund bestiegen. Damals ernteten solche Aktionen noch viel Applaus.
Uneingeschränkten Zuspruch findet man heute auch auf der Aussichtsplattform der Midi, und zwar für die hochalpine Bergszenerie mit einem Blick, der bis zum Monte-Rosa-Massiv, dem Matterhorn oder dem Gran Paradiso reicht. Hier ein „Merveilleux ...“, dort ein „Fantastic!“.
Und ja, die Aiguille du Midi ist ein fantastischer Ort – nicht nur wegen der Fernsicht, sondern auch weil hier die Bergsteigerei aus nächster Nähe beobachtet werden kann: Seilschaften, die mit Steigeisen und Pickel über den schneebedeckten und ausgesetzten Gipfelgrat absteigen. Doch nun spüren auch die Kinder die dünne Luft. Leo fühlt sich „etwas k.o.“, und Alma weint. Zeit, wieder hinunterzufahren.
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Aber nur bis zur Mittelstation. Von dort erreichen wir nach einem kurzen Spaziergang das Refuge du Plan de l’Aiguille auf 2.207 Metern. Vom lauschigen Terrässchen des 150 Jahre alten Berggasthauses genießt man den Blick hinüber zu den Aiguilles Rouges und hinunter nach Chamonix. In der kleinen Restaurantküche schwingt der 51-jährige Besitzer Claude lieber die Pfannen und Kochlöffel als große Reden.
Unten, 1.033 m: die junge Stadt.
Riesenstress, keine Zeit – der Laden läuft. Das Omelett darf nicht anbrennen, die Tartiflette – ein Kartoffel-Käse-Auflauf mit Speck und Zwiebeln – muss rechtzeitig aus dem Ofen. Bekannt ist der ehemalige Konditor für seine delikaten „Tartes Maison“: Früchtekuchen mit Chriesi, Aprikosen, Äpfeln, Zitronen, Himbeeren, Birnen oder Heidelbeeren. Nach dem sommerlichen Stress belohnt sich Claude mit Ferien: den ganzen Winter lang. Weg fahre er aber nicht. Ihm genüge das schöne Chamonix, sagt er und lächelt.
Wir unterziehen Claudes Aussage einem Faktencheck und verbringen den späten Nachmittag bei hochsommerlichen Temperaturen in Chamonix. Der Ort mit seinen gut 9.000 Einwohnern und der autofreien Altstadt versprüht beinahe schon mediterranes Flair. In den Gassen wird geschlendert, und die Außensitzplätze der vielen Bistros und Bars sind gut besetzt. Verglichen mit anderen Alpenstädten sind hier die Bausünden aus den 70er und 80er-Jahren rar, und statt edler Luxusboutiquen dominieren die Läden zahlreicher namhafter Outdoor-Ausrüster die Fußgängerzone.
Das ist kein Wunder, schließlich gilt Chamonix als Bergsteiger mekka und zieht Abenteurer aus der ganzen Welt an. Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass im Stadtzentrum viele auffallend junge Menschen unterwegs sind, mit auffallend strammen Waden, flachen Bäuchen und dicken Bizeps. Die etwas älteren Besucher mit Bauchansatz könnten sich hier schon fast fehl am Platz fühlen. Deren einziger Trost: Geschundene Bergsteigerfüße in Flip-Flops sind meist weniger schön anzusehen.
Auf eine erfolgreiche Tour stoßen die Bergsteigerinnen und Kletterer oft in der Bar „Élévation 1904“ gleich beim Bahnhof an, und die nötigen Kalorien für die nächste Herausforderung liefern die währschaften Burger im winzigen „Poco Loco“ mitten in der Altstadt.
Oben, 2.396m: im Zoo.
Den zweiten Tag verbringen wir auf der anderen Talseite – unterhalb der Aiguilles Rouges. Gondel und Sesselbahn haben uns zur Bergstation L’Index gebracht. Zu unserem Zwischenziel, dem Lac Blanc, führt der Wanderweg in 75 Minuten – mit kleinen, an jedem Kieselsteinchen interessierten Kindern natürlich gerne auch gut zwei Stunden.
Der Blick vom „Südbalkon von Chamonix“ ist einnehmend: die Aiguille Verte, Les Drus und natürlich die legendäre Nordwand der Grandes Jorasses. Magisch, beinahe surreal wirkt der Glacier des Bossons. Gespeist von den Gipfelflanken des Mont Blanc reicht seine Zunge bis unter die Waldgrenze auf 1.400 Metern, so tief wie kaum ein anderer Alpengletscher. Und direkt über ihm thront der König der Alpen, der Mont Blanc – dem gerade jetzt aber schon wieder die Show gestohlen wird, und zwar vom anderen König der Alpen.
Ein junger, neugieriger Steinbock nähert sich dem Wanderweg. Almas Augen leuchten, und Leo kann sich bis auf zwei Meter an ihn heranpirschen. Erst ein hochnäsiger Blick, dann ein Pfiff – ja, auch Steinböcke können pfeifen –, und sogleich entfernt sich das Jungtier mit wenigen, eleganten Sprüngen.
Wir fühlen uns privilegiert, das Tier von so nahe beobachten zu können – nicht ahnend, dass uns heute noch rund zehn weitere Steingeißen, zwei Murmeltiere und eine Gämse begegnen werden. Ganz so, als ob wir in einem Alpenzoo wären. Am türkisblauen Wasser des Lac Blanc angekommen, legen wir in Postkartenidylle eine längere Rast ein, bevor es auf den gut zweieinhalbstündigen Abstieg 1.100 Höhenmeter hinunter nach Argentière geht.
Unten, 814m: in der Schlucht.
Den dritten Tag gestalten wir gemütlich. Beim Dorf Servoz steigen wir in die Gorges de la Diosaz ein. Im 19. Jahrhundert wurde hier in gefährlicher Arbeit ein Holzweg in die Wände der Schlucht gebaut. Heute kann man ihm ganz gefahrlos knapp drei Kilometer und 130 Höhenmeter nach oben folgen. Vorbei an tosenden Wasserfällen und gurgelnden Gumpen – immer im angenehm kühlen Wind, der durch die teilweise sehr enge Schlucht bläst.
Und weil wir jetzt von Wasserfällen so richtig angefixt sind, machen wir auf dem Rückweg nach Chamonix noch einen Abstecher zu Cascade du Dard. Der Wasserfall liegt in der Nähe des Mont-Blanc-Tunnels und ist vom Parkplatz aus in wenigen Minuten zu Fuss erreichbar. Bevor wir loslaufen, werfen wir wieder einen Blick in Richtung Glacier des Bossons, dessen Séracs sich spektakulär über den Baumwipfeln auftürmen.
Direkt beim Wasserfall befindet sich die Buvette de la Cascade du Dard. Hier werken gleich drei Generationen zusammen: Tochter Raphaelle, Mutter Brigitte und Großmutter Solanche. Unbedingt probieren sollte man ihr „Farçon de mamie“, ein typisches Rezept aus der Region, von der Großmutter verfeinert: ein süßlicher Kartoffelkuchen mit Pflaumen, Speck und Crème fraîche, der Gabel für Gabel begleitet wird vom Rauschen des Wasserfalls.
Der Ort hat etwas Magisches, und wer lange genug ins fallende Wasser schaut, der meint zu sehen, wie sich das Erdreich, die Felsen und die Bäume rundherum bewegen, als ob sie atmen würden. Obwohl wir uns dieses Mal nicht oben befinden, sondern unten, scheinen wir doch wieder etwas konfus im Kopf zu sein.
Ganz offensichtlich ist auch der siebenjährige Leo von der Stimmung hier ergriffen. Er fragt seine Mutter: „Denkst du, dass Steine Gefühle haben?“ Und fügt an: „Der große da, auf den das Wasser prasselt ... der sieht so zufrieden aus.“