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Der große Aletschgletscher

Regionen

5 Min.

29.10.2021

Foto: Elias Holzknecht

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Ein Berg in Bewegung, ein Berg, der bewegt: der Große Aletschgletscher im Kanton Wallis. Wir wandern durch unberührte Wälder und über ausgesetzte Pfade, besuchen historische Villen und kehren in alten Berghütten ein.

Roland Baumgartner für das Bergweltenmagazin Juni/Juli 2018 aus der Schweiz

Von wo aus ist der Blick zum Großen Aletschgletscher am schönsten? Vom Eggishorn? Vom Bettmerhorn? Vom Gebiet Märjelensee? Darüber lässt sich streiten, auch unter Einheimischen! Als „Aletsch“ oder „Aletschgebiet“ wird die Landschaft zwischen dem Rhonetal oberhalb von Brig und dem Aletschgletscher mit den Feriendörfern der „Aletsch Arena“ auf den Sonnenterrassen Riederalp, Bettmeralp und Fiescheralp bezeichnet.

Der Name „Aletsch“ ist für das Jahr 1231 erstmals bezeugt, seine Herkunft allerdings dunkel. Es ist unklar, ob der große Gletscher den Namen vom Gebiet bekam oder umgekehrt. Das Lateinische „ad glaciaria“ (bei den Gletschern) könnte eine Erklärung sein. Unter Alpinisten bekannt ist das 4.193 Meter hohe Aletschhorn und natürlich der Große Aletschgletscher, mit seinen über 22 Kilometern der längste Eisstrom Europas. Beginnen wir „zuhinterst“, hinter dem Eggishorn, dort, wo der Große Aletschgletscher vor wenigen hundert Jahren noch Eis hinüber zum Fieschergletscher schickte.

Heute ist dieser nicht mehr mit von der Partie, auf dem Abstieg nach Fieschertal ist er gerade noch zu erkennen. Der Märjelensee war ein langer, vom Eis gestauter See, der, wenn das Wasser einen Weg unter dem Gletschereis gefunden hatte, zu großen Überschwemmungen führte, die sogar die Walliser Hauptstadt Sitten unter Wasser setzten.


Dynamik am Gletscherrand

Diese Ausbrüche fanden ihren Niederschlag in der Sage vom Rollibock, dem Wächter des Großen Aletschgletschers. Das eigentlich friedliche Geschöpf mit langen Hörnern und feurigen Augen, das im Eis wohnt, wird zu einem unangenehmen Gesellen, wenn jemand der Natur und den Tieren Schaden zufügt.

Das Gebiet Märjelen ist immer noch ein Wasserreservoir. Das Plateau zwischen Fiescheralp und Riederalp sowie die Südhänge der Aletschregion hingegen sind sehr niederschlagsarm. Vor Jahrhunderten bereits leiteten die Bauern deshalb unter großem Aufwand Wasser für die Bewässerung vom Gletschergebiet auf ihre Wiesen und Felder. Der später tiefer liegende Aletschgletscher, der Bau eines Stollens unter der Riederalp und der expandierende Tourismus führten nach 1970 zu großer Wasserknappheit.

Das Märjelenprojekt mit dem 500 Millionen Kubikmeter Wasser fassenden Stausee und dem öffentlich zugänglichen, einen Kilometer langen Tälligrat-Stollen wurde 1988 vollendet. Seither fließt ausreichend Trink- und Bewässerungswasser in Leitungen zu den Dörfern.

Die einstige Unterkunft für die Bauarbeiter ist heute die «Gletscherstube». Lea Vögele, 32, ist die Hüttenwirtin: „Es ist für mich immer der schönste Moment, wenn Gäste nahe beim Gletscher, weit weg von jeglicher Zivilisation, plötzlich den Alltag vergessen!“ Die Bergwanderung führt uns heute Morgen von der Moosfluh in einem entspannten Auf und Ab über alte Seitenmoränen des Großen Aletschgletschers in diese beeindruckende Naturlandschaft.

Hier treffen wir Laudo Albrecht, den Leiter des „Pro Natura Zentrums Aletsch“. Er ist unterwegs mit einer Gruppe junger Lehrer, die sich ein Bild machen wollen vom Rückgang der Gletscher und dessen Folgen. Wir sind interessierte Zuhörer.


 

Und plötzlich hören wir im Bereich des Großen Gufer ein dumpfes Donnern – da bewegen sich große Geröllbrocken! „Wir stehen an einem Blockgletscher. Die Fels- und Geröllmassen werden durch Eis zusammengehalten und bewegen sich normalerweise nur ein paar Meter pro Jahr hangabwärts“, erklärt der Naturwissenschafter.

In den vergangenen 100 Jahren stieg die Temperatur um 1,5 Grad Celsius. Das ist nicht ohne Folgen für die Gletscher geblieben. „So ist es verständlich, dass das Große Gufer nicht mehr genügend zusammengehalten wird und sich Brocken lösen.“


Wo der Steinadler fliegt

Dank dem Tälligrat-Stollen gelangen wir nach dem Mittagessen rasch auf die Südseite des Eggishorns. Der Weg via Fiescheralp, Martisbergeralp und Bettmeralp zurück zum Ausgangspunkt auf der Riederalp ist nicht anstrengend, aber mit zehn Kilometern doch sehr lange. Zum Glück gibt es ab Bettmeralp den Elektrobus, der den Weg um drei Kilometer abkürzt. Auf der Riederalp treffen wir Edelbert Kummer.

Als Bauernsohn in Ried-Mörel aufgewachsen, prägte der heute Achtzigjährige das touristische Geschehen auf der Riederalp – als Wanderleiter, Tourismusdirektor und Skilehrer. Gäste führt er noch immer durch „sein“ Aletschgebiet. „Du, ich kann dir sagen, der Winter war traumhaft, ich war immer wieder unterwegs und genoss unsere erhabene Natur.“ Im Winter sind Schneeschuhwanderungen Eds Spezialität. „Morgen bin ich mit Besuchern aus Zürich unterwegs.“ 

 

Spontan beschließen wir, den nächsten Tag mit Edelbert zu verbringen. Wir treffen uns um acht Uhr auf der Riederfurka. Hier wurde 1882 eines der ersten drei Hotels im Aletschgebiet gebaut, das heute noch existierende Berghotel Riederfurka.

Doch nun zum Aletschwald: Der Wald, einst am Rande des Aletschgletschers, ist ein „geschichtsträchtiges“ Gebiet. Der teils lichte Fichten-, Lärchen- und Arvenwald ist heute das Zuhause von Rothirsch, Gämse und Zapfurääggu, dem Tannenhäher. Mit viel Glück macht uns Edelbert heute Morgen auf Birkhühner und einen Steinadler aufmerksam.


Die Rückkehr des Urwalds


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten massiver Holzschlag, das Weiden von Vieh, die Jagd sowie das Sammeln von Beeren und Pilzen dem Aletschwald derart zu, dass er dem Untergang geweiht schien. Erst 1933 kam es zu einem wirksamen Schutz, als der damalige Schweizerische Bund für Naturschutz, die heutige Pro Natura, mit der Burgergemeinde Ried-Mörel einen Pachtvertrag über 99 Jahre unterzeichnete. Seither bleibt im Aletschwald totes Holz liegen und vermodert.

Es beherbergt Moose und Pilze, Spinnen und Käfer – Arven oder Lärchen keimen, neues Leben entsteht. Nun droht im hinteren Teil des Waldes Ungemach. Der Große Aletschgletscher war 1860 noch vier Kilometer länger und um bis zu 300 Meter dicker als heute. «Ein natürliches Phänomen sind sich öffnende Felsspalten.

Wenn der seitliche Druck des Gletschers fehlt, geraten Felsmassen in Bewegung», sagt Edelbert. Unterhalb der Moosfluh kippt und rutscht der ganze Hang gegen den Gletscher. Mindestens 150 Millionen Kubikmeter Fels sind hier in Bewegung.

Es handelt sich um eine der größten Felsverschiebungen, der Aletschhang ist denn auch der am besten überwachte Berg der Schweiz. Im Rutschgebiet liegt auch der „Kalkofen“. Das kann nur ein Irrtum sein, denn wir befinden uns hier mitten in kristallinem Gebiet, weit und breit kein Kalkgestein… „Doch, doch, hier wurde mit reichlich vorhandenem Brennholz Kalk zu Kalkmörtel gebrannt. Auf den Moränen sammelte man Kalkblöcke, die der Grosse Aletschgletscher aus der Region Jungfrau-Mönch hierher transportiert hatte“, weiß der ortskundige Führer.

Im Aufstieg durch den Wald, zurück zur Riederfurka, sind wir aufgefordert, nach weiteren Hinweisen menschlichen Tuns Ausschau zu halten. Und tatsächlich, ein Teilnehmer entdeckt einen in den Fels gemeißelten Wasserkanal. Wozu diente der? Zur Bewässerung des Waldes? „Nein, wegen ausgeprägter Trockenheit der Südhänge waren die Aletsch-Bewohner gezwungen, das zur Bewässerung der Felder benötigte Wasser in künstlichen Kanälen von hinter dem Berg über die Riederfurka und später um das Riederhorn herum heranzuführen. Ich erinnere mich gut, bis vor 50 Jahren wurde in Ried noch Roggen angebaut.“ 

Der ständige Unterhalt der mehrere Dutzend Kilometer langen Wasserleitungen kostete jeweils viel Arbeit und Mut der Bergbauern. Zum Schluss stellen wir Edelbert die noch immer unbeantwortete Frage: Von wo aus ist der Blick zum Grossen Aletschgletscher am schönsten? Er beantwortet sie salomonisch: „Das können Einheimische sicher klar beantworten – nur sehen es Fiescher und jene von Bätten ganz anders als wir von Ried oder Merel.“

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