Der Ortler: Südtirols höchster Berg
Foto: Julian Brückers
Der Ortler: Ob er 3.905 oder 3.899 Meter hoch ist, mag unklar sein. Sicher ist, dass er Südtirols höchster Berg und Selbst-Nachmessen eine ernsthafte alpine Unternehmung ist. Eine Annäherung aus vier Richtungen.
Christian Thiele für das Bergwelten-Magazin August/September 2018
Es war im Grunde ein gigantischer geologischer Unfall: die Adriatische Erdplatte an der Spitze Afrikas krachte mit der Europäischen Platte zusammen – und im Gebiet der Zusammenfaltung, quasi in der Unfallzone, schoben sich die Alpen auf. Das war vor vielen Millionen Jahren.
Aber noch heute kommen sich um den Ortler – auf halbem Weg zwischen Sankt Moritz und Meran gelegen – die Gesteine von Europa und Afrika so nahe wie kaum wo sonst. Die Region markiert seit Jahrhunderten die kulinarische Grenze zwischen Knödel und Spaghetti und sprachlich zwischen Deutsch und Italienisch. Da passt es auch, dass die Italiener den Berg mit 3.905, die Österreicher aber mit 3.899 Metern vermessen haben.
Die schlanken Felsnadeln der Dolomiten findet man hier nicht, wuchtige, spaltige Gletscher beherrschen die obersten Etagen dieser Gebirgsgruppe. Wir erkunden den Riesen Ortler – der Sage nach von einem Stilfser Zwerg besiegt und anschließend erstarrt – aus vier Richtungen: von drumherum und zu seinen Füßen, von gegenüber und ganz oben.
1. DrumherumÜber Bergbauernsöhne auf Rädern und Hennen mit Steigeisen
„Hoi, Siegilein, wie geht’s?“ Die Terrasse ist voll, die Bedienung hat alle Hände voll zu tun: Kassieren hier, bestellen dort, Speisekarte für diesen, Serviette für jenen – aber den Siegi freundlich zu begrüßen, dafür ist immer Zeit. Und auch Siegi Weisenhorn nimmt sich Zeit, bestellt einen Prosecco und stößt mit uns an – auf das Wetter, auf das Panorama, auf das Leben.
Wir sitzen auf der Furkelhütte oberhalb von Trafoi, ein paar Kilometer südlich vom Ortler. Mächtig und erhaben thront seine Eishaube da drüben: Trafoier Eiswand, Tabarettagrat, Niederer Ortlerferner, Oberer Ortlerferner, Vorgipfel, klärt Siegi auf.
Fein gestutzter Goatee, sonnengegerbtes Gesicht, immer einen Spruch auf den Lippen. Siegi Weisenhorn ist so etwas wie eine Legende hier. „Bist du das, Siegi?!“ – „Siegi, kennst mich noch, das Techniktraining vor acht Jahren?!“ – „Oh, krieg ich ein Selfie mit dir, Siegi?“ So geht das hier im Minutentakt, laufend kommen Biker daher, um ihm zu huldigen.
Schließlich ist Siegi, Bergbauernsohn und gelernter Karosseriespengler, so etwas wie der Erfinder der Mountainbikerei in Südtirol. Er hat Anfang der Nullerjahre den ersten Bikeführerlehrgang in Südtirol absolviert, eine Bikeschule aufgebaut, Bikeverleih und Shuttleservice eingerichtet, hat Karten gezeichnet, Bücher geschrieben und, und, und.
Von Ostern bis Allerheiligen verdient er sein Geld mit der Bikerei – und gruselt sich manchmal vor der Begeisterung, die er für den Sport hier entfacht hat: „Wenn ich mir das so anschaue“, er deutet auf die vielen Biker, die den Goldsee-Trail runterjagen, „denk ich mir manchmal schon: Wir sollten das begrenzen. Es wird uns sonst langsam zu viel!“
Das Klima ist hier halt so mild; die Bahnen haben früh Biker in den Gondeln zugelassen; über die Südtiroler Küche braucht man eigentlich gar nichts mehr groß zu sagen; und es gab eben Leute wie ihn, die das Mountainbiken mit der nötigen Initiative vorangetrieben haben. So sehr, dass jetzt Wege geschlossen oder Teilungsregelungen mit den Wanderern vereinbart werden müssen. „Aber es geht nicht anders“, sagt Siegi.
Gefühlte 237 Bussis später hat sich die Bedienung endlich von ihrem Siegilein trennen können – und los: Sattel runter, Helm auf, es geht hinüber zur Stilfser Alm, zu den Stilfser Höfen und dann hinunter nach Prad. Ein schmaler, erdiger Weg, von der Sonne ausgetrocknet, die Felsen geben so viel Grip, dass ein guter Fahrer eigentlich bequem drüberrollen kann – ich bin also anscheinend kein guter Fahrer. Dann wieder ein flüssiger, flowiger Abschnitt, den sogar ich fahren kann – und wieder ein atemberaubender neuer Ausblick auf das ewige Eis am Ortler.
Da war Siegi übrigens auch schon, nicht nur mit Skiern, sondern er umrundet, überschreitet, traversiert das Ortlergebiet inzwischen auch über die Gletscher. „Das ist aber nur etwas für die ganz erfahrenen Biker“, sagt Siegi. So höflich klingt das, wenn ein Südtiroler einem sagt: Du! Bitte! Nicht!
Über einen sehr abschüssigen Almweg geht es nach Stilfs. Der Ort klebt wie ein Adlernest am Hang. „Das ist hier so steil, da brauchen selbst die Hennen Steigeisen!“, sagt Siegi. Für einen Gelegenheitsbiker heißt das, dass es hinunter fast so anstrengend ist wie hinauf, daher fahre ich nach Gomagoi zum Auto hinab – und verabschiede mich von Siegi, der noch ein paar Höhenmeter machen will.
2. Zu Füßen des KönigsWo Kinder auf Wölfen reiten und Kanzlerinnen wandern gehen
Was und wie bauen am Berg? Wie übernimmt man das Bewährte, die Materialien, die Schnitte, die Größen, ohne dass es ein Museum wird? Und wie schafft man das Neue und lässt gleichzeitig dem Fels, den Wiesen, dem Schnee, der Umgebung den Vorrang? Eine gute Mischung aus Respekt und Mut, darum wird es wohl gehen, wenn man ein guter Architekt sein will, in Sulden, im Vinschgau, in den Alpen überhaupt.
Arnold Gapp ist ein sehr guter Architekt. Wohnhäuser, Totenkapellen, Seilbahnstationen, Museen, Feuerwehrkasernen, Schulen, Möbelhäuser, Hotels, Getränkemärkte, Sportplätze: Alles, was man eben so braucht in den Alpentälern, hat Gapp schon gebaut. „Ich brauche Grenzen, dass Räume irgendwo zu Ende sind, diese Strukturen von Raum und Licht – da hat mich Sulden schon sehr geprägt“, sagt Gapp.
Er kippt einen Espresso an der Bar seines Hotels Nives im Herzen des Dorfes – eine gewisse Italianità, gepaart mit Präzision und Klarheit, das macht einen Südtiroler wie ihn aus. Das starke Licht des Vinschgaus, die klaren Linien der Grate, das Grau der Felsen: All das findet man in Gapps Bauten wieder. „Ein richtiger Bergsteiger bin ich nicht“, sagt Gapp – aber oben sei er schon drei-, viermal gewesen, sprich: am Gipfel des Ortler. „Für mich bewacht er dieses Tal“, sagt Gapp. „Und ich hoffe, dass er noch möglichst lange seine weiße Kappe hat – denn die schmilzt schon extrem in letzter Zeit.“
Arnold Gapps Heimat war lange ein vergessener Fleck. Das Innsbrucker Wochenblatt schreibt 1802 von einem „Sibirien Tirols, allwo die Bauern mit den Bären aus einer Schüssel essen und die Kinder auf Wölfen daherreiten“. Sulden, der Ort zu Füßen von König Ortler, hat knapp 400 Einwohner und rund sechsmal so viele Gästebetten.
Ein Lebensmittelgeschäft, zwei Kirchen, zwei Bergschulen: ein beschaulicher, abgelegener Ort, umgeben von Ortler, Königsspitze, Zebrù und einem Dutzend weiterer Dreitausender. Es geht hier, auf 1.900 Metern, längst nicht so mondän zu wie in vielen anderen Alpentälern. Angela Merkel kommt regelmäßig hierher zum Wandern, das sagt eigentlich schon alles.
3. Ihm gegenüberEine Hütte für jedes Wetter, auf die auch der Schnaps nicht weit hinauf hat
„Simon, was magsch?“ – „A Kinderwurscht, Mama!“ – „I schaug, was i find!“ Es ist Mittag auf der Düsseldorfer Hütte, und bevor die Gäste durch das Schönwetterfenster raufgeklettert sind, verköstigt Wirtin Veronika den Buben noch schnell. Natürlich hat sie noch eine Kinderwurscht gefunden – und für mich eine Portion Hausnudeln mit Pilzen, Speck und Käse.
Gerade stand ich noch am Gipfel des Hüttenbergs, um mich herum 360 Grad Panorama, gegenüber der Angelus, der Zebrù und die grusligen Spaltenzonen des Ortler – und jetzt die verdiente Rast. Veronika und Martin Reinstadler haben die Hütte erst vor kurzem von seinen Eltern übernommen. Ein bisserl mehr Komfort in den Schlafräumen, ein noch üppigeres Frühstücksbuffet – ansonsten blieb alles gleich. Das Fleisch kommt vom Hof des Bruders, der Apfelsaft, der Holunder und die Minze aus Suldener Gärten, und selbst der Schnaps hat es nicht weit herauf.
Mit Stolz verweisen sie auf die Plakette „Echte Qualität am Berg“, die nur jene Almen und Schutzhütten verliehen bekommen, die ihre Gäste mit Produkten aus dem Vinschgau bewirten. Es sind eher die Familien und Wanderer, die auf die Düsseldorfer Hütte kommen. „Bei uns kann man bei jedem Wetter etwas machen, wir sind die Alternative zum Ortler“, sagt Veronika. Und trotzdem hat die Hütte mit dem Kleinen Angelus, dem Großen Angelus und der Vertainspitze einige Tourenschmankerl parat, die bei weitem nicht so überlaufen sind wie die Touren am Ortler selbst.
4. Die Eroberung von Gipfeln als Akt der Staatsräson und andere ernsthafte alpine Unternehmungen
Einen hoch gelegenen Gletscher besteigen durch die Spalten und Brüche im ewigen Eis? Hinauf zu den „saligen Frauen“, den betörend schönen, gleichwohl gefährlichen Gestalten aus den Sagen? Das war lange Zeit undenkbar und unnütz. Man ging über die Joche, nicht über die Gipfel.
Die Wildschützen, die Gamsjäger, die Goldgräber: Sie alle hatten jenseits der Schneegrenze nichts verloren. Doch der Mensch der frühen Neuzeit will sich die Natur zum Untertan machen. Der Mont Blanc wird 1786 durch den Naturforscher Michel-Gabriel Paccard bestiegen. Da will Erzherzog Johann von Österreich auch den Ortler vermessen und besteigen lassen. Die Eroberung von Gipfeln als ein Akt der Staatsräson, so beginnt der Alpinismus auch hier.
Der junge Erzherzog beauftragt den Topografen und „Bergoffizier“ Dr. Johannes Gebhardt aus Salzburg mit der Vermessung, Kartierung und Eroberung des wohl höchsten Berges in seinem Reich. Gebhardt hat zwei erfahrene Berggeher an seiner Seite, und doch scheitert im Sommer 1804 ein Besteigungsversuch nach dem anderen. Ist der Ortler gar unbesteigbar?
Gebhardt will schon abreisen, da stellt sich ihm ein Gamsjäger aus dem Passeiertal vor: „I bin der Josef Pichler, d’Leut sagen bloß Pseirer Josele, und der Ortler ischt mir nit unbekannt. Wenn der Herr will, nachher steig i auffi.“ So zumindest wird die Geschichte überliefert.
Und so steht Pichler am Vormittag des 27. September 1804 tatsächlich auf dem Gipfel des Ortler. Die Pichlerführe, die Südwestwand, die Harpprechtrinne, der Rothböckgrat, der Südwestpfeiler, der Hintergrat, der Meraner Weg, die Stickle-Pleiß-Rinne: Heute gibt es etliche Wege auf den Ortlergipfel – allen ist gemeinsam, dass es ernste alpine Unternehmungen sind. Wir entscheiden uns für den Normalweg. Doch der Name täuscht: Die populärste Tour auf den Gipfel ist allemal fordernd.
Erica und Andreas aus Graubünden sind mit von der Partie, Josef Plangger führt. Die Stirnlampen tanzen in der Nacht durch den frischen Neuschnee, um fünf Uhr ist geweckt worden. Bald dämmert es, im ersten Sonnenstrahl dann ein Schluck warmer Tee aus der Thermoskanne.
Der steile, mit Eisenketten versicherte Aufschwung ist durch den Neuschnee ziemlich rutschig, aber Josef klettert an der Schlüsselstelle ein paar Meter vor und sichert seine Gäste routiniert hinterher. Am Bärenloch – längst gehen wir mit Steigeisen – sehen wir eine Seilschaft, die sich durch die Nordwand hinaufkämpft.
Auf den „Zehenspitzen“ der Steigeisen tänzeln sie das Blankeis hinauf, das ist eine der ganz großen Nordwandtouren in den Alpen! Für uns hingegen haben Josef und seine Bergführer-Kollegen Aluleitern auf dem Weg durch die größten Spalten aufgestellt – ein Gefühl wie am Khumbu-Eisbruch im Everest-Gebiet.
Als es flacher wird, bläst uns der Wind scharfe Eiskristalle auf die Backen – der Ortler wird einem auch auf den leichteren Anstiegen nicht geschenkt! Im Ersten Weltkrieg kämpften hier Italiener und Österreicher gegeneinander, mit Skiern, Kletterseil und Kanonen, durch Lawinenfelder, über Grate und durch die Höhlen. Rund 60.000 Menschen starben, ein Großteil davon in der Gegend um den Ortler.
Wir in unserer Leichtausrüstung haben genug zu schnaufen. Bald sind wir am Gipfel. Unterhalb vom Kreuz macht Josef eine Kuhle für uns aus, wo wir uns hinsetzen: Blauer Himmel, kein Lüfterl weht – und der Duft vom Kaiserschmarrn auf der Payerhütte ist schon zu erahnen.
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Bergwelten-Leserinnen und -Leser hatten dieses Jahr die Gelegenheit, den Ortler gemeinsam mit Bergwelten und der Ausnahme-Alpinistin Gerlinde Kaltenbrunner zu besteigen.
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