Reinhold Messner: Der unbezwingbare Pickel
Foto: Roland Vorläufer
Wie ein Pickel aus der Landwirtschaft und die Fährten des Wildes im Jahr 1804 die Erstbesteigung des Ortlers ermöglichten.
Reinhold Messner für das Bergwelten Magazin Juni/Juli 2020
Die erste Besteigung des Mont Blanc 1786, durch Paccard und Balmat, spornte zur Nachahmung an. Im Jahr 1800 wurde der Großglockner bestiegen. Dann gab Erzherzog Johann von Österreich den Anstoß zur Eroberung des Ortlers, den er vom Reschenscheideck aus gesehen hatte. Dieser Berg würde den höchsten Gipfeln von Savoyen und der Schweiz nicht nachstehen, war er überzeugt.
Erzherzog Johann beschloss, den Bergoffizier Dr. Johannes Gebhard in den Vinschgau zu schicken. Seine Aufgabe: die Besteigung des Ortlers zu organisieren. Die Vermessung und Besteigung des Ortlers war also sein Ziel. Am 28.August 1804 traf Dr. Gebhard über Meran und Schlanders in Sulden ein. Er hatte zwei Männer aus Zell im Zillertal, Johann Leitner und Johann Klausner, gute Berggeher, mitgebracht, die mit den Einheimischen aufsteigen sollten. Alle Versuche, es waren regelrechte Expeditionen, scheiterten allerdings. Inzwischen war eine Prämie ausgesetzt worden, für den oder die Erstbesteiger.
Der Ortler galt jedoch als unmöglich! Schon wollte Dr. Gebhard, der in der Gemeinde Mals im Vinschgau den Berg durch sein Fenster sehen konnte, zurückreisen, als am 26. September gegen Mittag ein Anwärter für die Besteigung gemeldet wurde. Es war ein Mann aus St. Leonhard in Passeier: Josef Pichler, genannt Josele. Er war ohne Beruf, aber gelegentlich als Gamsjäger tätig. Auf die Frage nach seinen Ansprüchen soll der Passeirer geantwortet haben: „Jetzt wage ich es; gelingt es mir, gut, so werden Sie mir geben, was Sie anderen versprochen haben. Gelingt es mir nicht, so brauche ich keinen Lohn. “Die Zillertaler gingen mit, Gebhard selbst aber, krank und geschwächt, musste zurückbleiben.
Fünf Tage später, am 1. Oktober 1804, war es Gebhard, der an Erzherzog Johann meldete: „Königliche Hoheit! Es ist vollendet, das große Werk! Der Stand der Barometer auf der Ortlerspitze war am 27. September 1804 zwischen 10 und 11 Uhr mittags 194°, die correspondierende Beobachtung zu Mals zeigte 300°. Wie unaussprechlich glücklich fühle ich mich, im Stande zu sein, Eurer Königlichen Hoheit diese Nachricht in Untertänigkeit erteilen zu können!“ Sein Auftrag war damit erfüllt.
Die drei Bergsteiger Johann Leitner, Johann Klausner und Josef Pichler hatten am 27. September wenig nach Mitternacht Trafoi verlassen. Gleich hinter den Heiligen Drei Brunnen stiegen sie die Hänge zum Unteren Ortlerferner hinauf. Dort gingen sie weiter, bis sie in die Wände links einsteigen konnten, und kletterten über steilen Fels, Schnee, Geröll geradewegs nach oben, bis sie den Hochfirn erreichten.
Ohne viel Mühe stiegen sie weiter bis zum Gipfel. Josele hatte bei der Gamsjagd die Möglichkeit gesehen, über die Hinteren Wandln zum Oberen Ortlerferner zu kommen, und sein Pickel – aus der Landwirtschaft entlehnt – half ihm über das Eis.Wie der Ortler-Pickel wurden fast alle Hilfsmittel für den Berg – Grödel, Gamaschen, genagelte Schuhe oder der Bergstock – aus der Bergbauernarbeit entlehnt.
1804, bei der Besteigung des Ortlers, ist der Pickel noch die Ausnahme, fünfzig Jahre später werden speziell geschmiedete Pickel schon in Serie hergestellt und verwendet – von den Herren und ihren Führern. Am Vormittag des 27. September erreichten die drei ihr Ziel, um acht Uhr abends waren sie zurück in Trafoi. Heute noch gehört ihre Route zu den schwierigen und gefährlichen Anstiegen am Ortler.
Warum hatten sie gerade diesen Zustieg als erste Anstiegsroute gewählt? Es hat wohl mit der Einstellung der Jäger zu tun, die lange Gletscherwanderungen mieden und am Berg den Wildwechseln zu folgen wussten. Der Pickel, den wir im Museum Sulden zeigen, ist angeblich von der Ortler-Erstbesteigung. Der Stil ist neueren Datums, die Haue aber hat etwas Geheimnisvolles.
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