Into the Wild: Wandern in Jotunheimen in Norwegen
Foto: Andreas Jakwerth
Die Hütten wie aus einer anderen Zeit. Die Gegend wild, unberührt, weitläufig, einsam. Und atemberaubend schön. Markus Huber war im norwegischen Nationalpark Jotunheimen wandern.
Text: Markus Huber, Fotos: Andreas Jakwerth
In Spiterstulen gibt es schwere Polstermöbel und alte Holztische. Den ganzen Tag knistert Feuer in einem offenen Kamin. Und es wirkt so britisch und aus der Zeit, dass man hier sofort einen James-Bond-Film drehen könnte – einen mit Roger Moore. Aber das ist noch nicht das Spannendste an der Hütte des norwegischen Tourismusverbands, die so gar nicht wie eine Berghütte auf 1.100 Metern aussieht, sondern wie ein Hotel aus den 1970er-Jahren. Denn von Spiterstulen sind es nur wenige Schritte bis in die Wildnis.
Man muss einfach raus und rechts die charakteristische rote Außenwand entlanglaufen, an Hallenbad und Sauna vorbei – zwei Gründe übrigens, die allein schon dafür sorgen, dass Spiterstulen so unglaublich viel mehr und deutlich bequemer ist als eine einfache Berghütte. Dann die Böschung runter, links den Bach entlang bis zu einem Holzgatter. Und wenn man da hindurch ist, wenn man das Tor wirklich passiert hat, dann ist man draußen. Richtig draußen.
„Du kannst das Handy weggeben – das war’s fürs Erste mit dem mobilen Empfang“, sagt Werner Tomsche, der Mann, der sich hier auskennt. „Ab jetzt haben wir für die nächsten paar Tage kein Netz mehr.“ Kein Netz, offline sein: In Mitteleuropa ist das ein Trend, eine vielversprechende Versuchung für viele Büroarbeiter, die gerne einmal abschalten und für sich sein wollen und dann am Ende alle gemeinsam in denselben Hotels oder unter denselben Felswänden hocken, weil es eben nur noch wenige Flecken gibt, die nicht im Signalbereich eines Handymasts liegen. Hier in Zentralnorwegen, zweiein-halb Autostunden westlich von Lillehammer, ist das aber anders: Hinter dem Holzbalken geht es los, und es gibt kein Netz, nirgendwo.
Ruhe fast überall
Es geht hinein in ein von Gletschern ausgeschabtes Trogtal namens Visdalen. Fünf Kilometer ist es lang, rechts und links ragen die Felswände des Jotunheimen-Massivs nach oben, die Gipfel sind von Gletschern und Schnee bedeckt. Es sieht wild und unberührt aus, die Wiesen sind karg, weil sich der Schnee gerade erst zurückgezogen hat. Immer wieder geht es über Geröllfelder, durch Bäche, den Fluss entlang, irgendwann verschwindet die Spiterstulen-Hütte hinter einem Berg, dafür taucht in der Gegenrichtung eine eigenartige Gebirgsformation auf. Ein schwarzer, spitz nach oben zulaufender Kegel, eine markante Landmarke.
Kyrkja heißt der Berg, und die deutsche Übersetzung davon ist nicht wirklich schwierig – die Kirche ist 2.032 Meter hoch, die mit Abstand höchste Erhebung in der Gegend. Vier Stunden hat es von Spiterstulen bis hierher gedauert, und bisher waren außer uns exakt vier Menschen unterwegs. „Das ist Norwegen, du hast hier fast überall deine Ruhe“, sagt Werner,„und das ist eigentlich ganz großartig, oder etwa nicht?“
Er muss es wissen, denn eigentlich ist er ein Spezialist für alpine Regionen. Im Winter arbeitet der 48-jährige Kärntner als Servicemann des österreichischen Snowboardteams, im Sommer ist er für die ASI (Alpinschule Innsbruck) Wanderführer in Norwegen. Offenbar kann er vom Schnee nicht genug bekommen.
Am liebsten ist er hier, im Jotunheimen-Nationalpark, der vielleicht gebirgigsten Region Skandinaviens. „Jotunheimen“ ist Norwegisch und heißt übersetzt „Heim der Riesen“. Ursprünglich kommt der Begriff aus der Mythologie; Jötunheim war der Ort, an dem die Riesen der nordischen Sagen wohnten, geografisch war das aber nicht näher lokalisiert. Auf einer Fläche von 3.500 Quadratkilometern gibt es hier gleich 250 Gipfel, die höher als 1.900 Meter sind, 20 Gipfel gehen sogar auf über 2.000 Meter Seehöhe hinaus.
Das mag aus mitteleuropäischer Sicht niedrig klingen, aber andererseits: Vom Galdhøpiggen, dem höchsten Berg Skandinaviens, ist das Meer nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt. Und deswegen ist Jotunheimen eben doch ein gewaltiges Gebirgsmassiv. Wild zerklüftete Gipfel reihen sich da aneinander, zwischen sie sind entweder wildromantische Fjorde eingeschnitten oder breite Täler, in denen nur Moose, Flechten und niedrige Gräser wachsen, weil viele Wochen im Jahr eine meterdicke Schneedecke liegt.
Wenig Zeit zum Wachsen
Fjellheide nennt man diese spezielle Landschaftsform, die hier in Norwegen knapp über der Baumgrenze auf 900 Meter Seehöhe einsetzt, sie besteht aus Gräsern, Kräutern und Flechten, nur an den Waldrändern stehen vereinzelt Birken oder Zwergstrauchheiden. Denn bei diesem Klima hat nichts sehr viel Zeit, zu wachsen. Die steilen Bergflanken und die Gipfel sind fast durchwegs mit Gletschern bedeckt, in der Gegend gibt es auch den größten Festlandgletscher Europas. Endzeitartig sieht es hier aus. Hochalpin. Kalt. Genau richtig für Werner.
Werner Tomsche liebt die Ruhe und die Einsamkeit, zumindest im Sommer, und davon gibt es hier genug. Wohin auch immer man schaut, es ist einfach nur Gegend. Der erste Tag hat von Spiterstulen nach Leirvassbu geführt (ebenfalls eine grandiose James-Bond-Location, ebenfalls groß, ebenfalls idyllisch an einem See gelegen, aber nicht in norwegischem Rot gehalten, sondern in Schwarz und noch einen Tick älter, also eher Sean Connery). Von dort geht der Weg zunächst steil über ein Schneefeld nach oben, an der Ostseite des Kyrkja vorbei und fällt dann langsam durch das Tal hinab.
10 Grad, kaum ein Wind pfeift, Softshelljacken-Wetter. Es ist atemberaubend schön. Sanft schlängelt sich der Weg nach unten, wir müssen über Schneefelder und durch eiskalte Bäche, die von den Gletscherhängen herabstürzen. Kurz führt der Weg entlang eines Sees, der vielleicht sogar einen Namen hat, aber wenn, dann würde der sich hinter zu vielen Buchstaben sowie Sonderzeichen verstecken, und außerdem: Wer braucht schon Namen, wenn es vor allem um den Moment geht?
Und im Moment ist es traumhaft hier: Schön. Unberührt. So unglaublich weitläufig und rau. Man könnte hier an jeder Ecke ein Shooting für Zelte oder Funktionskleidung machen, jeder Winkel, jeder Stein schreit nach Abenteuer, nach echter, unverfälschter nördlicher Wildnis.
Into the Wild
Es sieht so aus, wie Eddie Vedders Soundtrack zum Kinofilm „Into the Wild“ klingt, und sobald man diesen Gedanken hat, geht er nicht mehr weg. Dann klingt auf einmal alles nach „Into the Wild“, nach Alaska, nach Einsamkeit, jeder Schritt wie ein Vedder-Akkord, klirrend klar und präzis. Man möchte dann manchmal einfach nur stehen bleiben, mit sich allein sein, schauen, staunen und genießen.
Die Norweger, man muss es übrigens so sagen, sind ein seltsames Volk. Norweger zahlen freiwillig enorm hohe Steuern. Sie bekommen im Supermarkt keinen Alkohol, trinken überhaupt eher wenig, fahren nie schnell Auto, und wenn, dann würden sie es niemandem erzählen. Vielleicht brauchen die Norweger das aber auch alles gar nicht, um sich verwegen zu fühlen. Denn wenn sie wild sein wollen, gehen sie einfach vor die Tür. Mit 385.178 Quadratkilometern ist Norwegen größer als zum Beispiel Deutschland, aber es gibt nur knapp mehr als fünf Millionen Norweger. Das heißt, dass gerade einmal 15 Menschen hier auf einem Quadratkilometer leben, dünner besiedelt sind in Europa nur Island und Russland.
Am dritten Tag wird sich die Begegnung mit anderen Wanderern aber nicht ganz vermeiden lassen. Wir sind auf dem Weg durch das sogenannte Storådalen, an einem spektakulären Wasserfall vorbei zum Gjendesee. 20 Minuten dauert die Bootsfahrt über den See zur nächsten Hütte mit komischem Namen (Memurubu), und schon vom Wasser aus sieht man den vielleicht bekanntesten Teil des Jotunheimen-Nationalparks: den sogenannten Besseggen. Das ist ein schmaler Grat, der sich zwischen dem See Gjende und dem 400 Meter höher gelegenen See Bessvatnet auftut. An seiner schmalsten Stelle ist er keine 50 Meter breit, auf der einen Seite geht es 500 Meter nach unten, auf der anderen 900 Meter.
Ein Ziegenbock am schmalen Grad
Der Grat hat schon viele Menschen inspiriert, angeblich ist er auch die Vorlage für die Einstiegssequenz im norwegischen Nationalepos „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen, in der der Titelheld auf einem Ziegenbock in wildem Tempo über einen schmalen Grat reitet. Es gibt schlechtere Fotomotive, und dementsprechend gibt es wirklich nur wenige Norwegen-Bildbände, in denen ein Bild des schmalen Grats zwischen den beiden kristallklaren Seen fehlt. „Genau deswegen ist es auch immer voll hier“, sagt Werner: „Es ist eigentlich ein anderes Norwegen, ein Touristisches.“
Und das ist auch bei unserer Überquerung so. Es ist wirklich voll hier heroben: Wenn sich in Norwegen statistisch immer nur 15 Menschen auf einem Quadratkilometer aufhalten, dann müssen in diesem Moment wirklich sehr, sehr viele Quadratkilometer entvölkert sein, eventuell sogar ganz Oslo. Es gehört sich für Norweger nämlich, dass sie zumindest einmal im Leben auf den Spuren Peer Gynts unterwegs waren.
Wichtig ist dabei natürlich, dass die Freunde von der Tour erfahren. Am besten mit einem Foto. Es kann also kein Zufall sein, dass auf dem Besseggengrat das Handy wieder Netzempfang hat.
Infos und Adressen: Nationalpark Jotunheimen, Norwegen
Ankommen
Austrian und Norwegian Air fliegen die Strecke Wien–Oslo direkt in etwas mehr als zwei Stunden. Der Jotunheimen-Nationalpark ist vom Flughafen 350 Kilometer entfernt. Mit dem Pkw braucht man für die Strecke viereinhalb Stunden. Es gibt aber auch Busverbindungen über das gut ausgebaute norwegische Busnetz via Lillehammer. Der ideale Einstiegsort in den Nationalpark ist Lom. Die Gemeinde wird offiziell als „Bergsteigerdorf“ bezeichnet und erinnert ein bisschen an ein bewohntes Freilichtmuseum. Das Ortszentrum besteht aus schmucken alten Holzhäusern, die sich an einen Fluss schmiegen. Wahrzeichen des Orts ist eine Stabkirche aus dem 12. Jahrhundert.
Essen und Schlafen
Brot und Wasserfall
Vor einigen Jahren hat sich der in Norwegen bekannte Koch Morten Schakenda in Lom niedergelassen und direkt am Wasserfall eine Bäckerei eröffnet. Das Brot, das hier angeboten wird, rechtfertigt die langen Schlangen vor der Verkaufstheke.
Bakeriet i Lom
Prestfossen, 2686 Lom,
Tel.: +47/6121/18 60
www.bakerietilom.no
Oben wohnen
Die Spiterstulen Turisthytte liegt auf 1.100 Meter Seehöhe direkt zwischen den beiden höchsten Bergen Norwegens. Die Gebäude sind eine alte Bauernsiedlung, die seit 1836 auf Gästebetrieb (März bis Oktober) ausgelegt ist.
Spiterstulen – the Solheim Family
2686 Lom,
Tel.: +47/6121/94 00
www.spiterstulen.no
Bekannt im ganzen Land
Das Fossheimist eine gemütliche Herberge. Aber vor allem das Restaurant ist im ganzen Land bekannt für seine traditionelle norwegische Küche.
Hotel & Spisestad Fossheim
Bergomsvegen 32, 2686 Lom,
Tel.: +47/6121/95 00
www.fossheimhotel.no
Wandern
Unterwegs bei den Riesen
Die klassische Rundtour durch den Jotunheimen-Nationalpark führt von Gjendesheim nach Spiterstulen, durch das Visdalen über den Gjendesee und den Besseggen wieder zurück. Pro Tag werden dabei zwischen 15 und 20 Kilometer gewandert. An manchen Stellen sollte man schon trittsicher sein, ansonsten ist es aber gemütliches Trekking von Berghütte zu Berghütte, das keine besonderen körperlichen Ansprüche stellt.
- Ausgangspunkt: Gjendesheim
- Strecke: 80 km Dauer: 4–5 Tage
Auf den höchsten Berg Norwegens
Der Galdhøpiggen ist mit 2.469 Meter der höchste Berg Skandinaviens. Er ist von der Berghütte Spiterstulen aus relativ einfach zu besteigen. Es geht dabei vor allem durch Schneefelder und über Gletscher – und man hat eine spektakuläre Aussicht auf das gesamte Jotunheimen-Gebiet.
- Ausgangspunkt: Berghütte Spiterstulen
- Strecke: 12 km Dauer: 7–8 Stunden
Die Nummer Zwei
Eine Variante der Rundreise geht über den zweithöchsten Berg Norwegens, den Glittertind. Diese ziemlich spektakuläre Zinne baut sich zwischen den Berghütten Glitterheim und Spiterstulen auf. Bis vor 30 Jahren galt der Berg als höchster Berg Skandinaviens, Dann wurde aber nachgemessen und offenbar ist die Eiskappe am Gipfel so weit abgeschmolzen, dass der Galdhøpiggen auch eisfrei höher ist.
- Ausgangspunkt: Berghütte Glitterheim
- Strecke: 17 km Dauer: 7 Stunden
Literatur und Touren
Buchtipp: Bernhard Pollmann: „Norwegen: Jotunheimen – Rondane, 52 Touren“, Rother Wanderführer, April 2014, 14,90 Euro
- Berg & Freizeit
Estland: Tree Hugs im Lahemaa-Nationalpark
- Berg & Freizeit
Skuleskogen Nationalpark – Wandern an Schwedens Hoher Küste
- Berg & Freizeit
Wildcampen und Klettern auf den Lofoten
- Berg & Freizeit
Die Wildspitze in den Ötztaler Alpen
- Berg & Freizeit
Die Hohen Munde
- Berg & Freizeit
Dein Travel-Guide für eine Woche in Osttirol