Estland: Tree Hugs im Lahemaa-Nationalpark
Wer Ruhe und unberührte Natur liebt, sollte nach Estland reisen. So groß wie die Schweiz, zählt der baltische Staat nur 1,3 Mio. Einwohner, was 29 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht. Da geht es sich locker aus, dass jeder Este und jede Estin – und Estland-Besucher – einen Baum umarmt. Zum Beispiel im Lahemaa-Nationalpark, einem Wanderidyll zwischen sanfter Ostsee-Küste und wildem Wald, das nur eine Autostunde von der Hauptstadt Tallinn entfernt liegt.
Inhalt
Infos und Adressen
Anreise: Die polnische LOT fliegt über Warschau nach Tallinn. Direktflüge von Wien aus gibt es mit Ryanair.
Beste Reisezeit: Selbst im beschaulichen, aber bei den Esten als Ferienziel beliebten Küstendorf Käsmu kann im Hochsommer recht viel los sein. Wer es ruhig will, sollte Lahemaa besser von April-Juni oder im Herbst besuchen.
Käsmu und Lahemaa-Nationalpark
Anreise mit dem PKW: Von Tallinn auf der E20 Richtung Narva. Dauer: ca. 1 Stunde (80 km).
Anreise mit den Öffis: von Tallinn fahren Busse in mehrere Orte rund um den Lahemaa-Nationalpark. Hier findet man alle Verbindungen.
Unterkunft: Im Gutshof Palmse nächtigt man direkt im Nationalpark in einem Gutshof aus dem 18. Jahrhundert.
Meeresmuseum: Viel Wissenswertes über die Geschichte des Kapitänsdorfes Käsmu und hunderte Exponate zum Thema Meer und Schiffsfahrt (Eintritt: 5 Euro). Gegen Vorbestellung serviert Besitzer Arne Vaik gegrillten Fisch. Hier geht es zur Webseite.
Festival: In den Sommermonaten finden in Käsmu zahlreiche Veranstaltungen statt: So wird etwa seit 2008 im August das Viru Folk Festival veranstaltet.
Wandern und Campen auf der Käsmu-Halbinsel: In Käsmu gibt es zwei freie Campingplätze. Das Dorf ist Ausgangspunkt von drei beschilderten Wanderwegen: Rundweg mit Schautafeln (4,2 km), Wanderweg (15 km), Radweg (12 km).
Wandern im Lahemaa-Nationalpark: Der Lahemaa-Nationalpark beinhaltet Buchten, Steilküste, Wasserfälle, Flüsse, Moore, Sümpfe, Urwald und historische Gutshöfe. Er ist Lebensraum einer Vielzahl wild lebender Tiere wie Elche, Luchse, Wildschweine (früher auch Bären) und über 220 Vogelarten. Es gibt ein weitläufiges Wanderweg-Netz – der Park gliedert sich aber in unterschiedliche Schutzzonen, von denen einige saisonal gesperrt werden. In den „Totalreservate“ (0,1 Prozent der Gesamtfläche) wird die Natur komplett sich selbst überlassen – sie dürfen von Menschen nicht betreten werden.
Oandu-Ikla-Weitwanderweg: Der 370 km lange Weitwanderweg führt durch zwei Nationalparks und 9 Schutzgebiete von Norden nach Süden durch ganz Estland. Start ist in Oandu im Lahemaa-Nationalpark, Ziel in Ikla an der estnisch-lettischen Grenze. Infos und GPS-Tracks.
Tourenanbieter: Touren in und rund um Tallinn (zum Lahemaa-Nationalpark) bietet beispielsweise estonianexperience.com an.
Mehr zum Lahemaa-Nationalpark: Visit Estonia
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Tallinn: Vom Geheimtipp zur Top-Destination
Die Esten, übrigens die abergläubischsten Europäer überhaupt, haben einen sympathisch simplen Ansatz wenn es um die Lösung von Problemen geht. Zumindest wenn es stimmt, was uns Tina, die gemächliche Reiseführerin, über ihre Landsleute erzählt. Plagen sie Sorgen, trinken sie entweder Vana Tallinn – einen fünfundvierzigprozentigen Rumlikör. Oder aber sie gehen in den Wald und umarmen einen Baum. Und Bäume gibt es in Estland, dessen Staatsgebiet zur Hälfte bewaldet ist, viele.
Schlendert man an einem sonnigen Tag durch das Zentrum Tallinns, stellt sich aber zunächst die Frage, worüber sich die Esten überhaupt Sorgen machen sollten. Durch die Viru-Fußgängerzone zwischen der wuchtigen Stadtmauer – einst eine der längsten in Europa – und dem von Gastgärten umzingelten Rathausplatz spazieren gut gelaunte Einheimische und Touristen vorbei an jungen Straßenmusikern, Souvenirshops, deftigen Mittelalter-Restaurants und neuen Lokalen im Stil der angesagten „Nordic Cuisine“.
Tallinn, vor kurzem noch ein Geheimtipp im Baltikum, scheint seinen Platz unter den europäischen Top-Städtezielen zu finden. Und schöpft dabei aus einer turbulenten Geschichte. Estland war nur allzu lange fremdbeherrscht – von Dänen, dem Deutschen Orden, Schweden, dem russischen Zarenreich und schließlich der Sowjetunion – ein Schicksal, das seiner Hauptstadt etliche Sehenswürdigkeiten aus mehreren Jahrhunderten beschert. Die Esten, erklärt Tina, sähen sich heute eher als Skandinavier als von Russland geprägt – doch irgendwie scheint Tallinn die besten Eigenschaften beider Welten auf sich zu vereinen: die Eleganz von Sankt Petersburg, das Hafenflair von Helsinki, die Coolness von Stockholm. Und das alles in einer überschaubaren Größe, die es erlaubt, die Stadt an einem Wochenende zu Fuß zu erkunden.
Seine geringe Größe, in Kombination mit der steigenden Beliebtheit, lässt die estnische Hauptstadt aber auch ganz schön stöhnen. Vom Domberg (Toompea) aus, auf dem die russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale thront und der die schönsten Aussichten auf die Stadt bietet, sieht man die schwimmenden Riesen, die Tina ein Dorn im Auge sind. An manchen Tagen legen bis zu sechs Kreuzfahrtschiffe am Hafen an und lassen ihre Ladung aus. „Horden von Touristen laufen dann durch die Innenstadtgassen hier herauf, konsumieren nichts und sind am Abend, wenn an Bord das Dinner serviert wird, wieder auf und davon“, klagt Tina. „Das einzige was sie uns dalassen, ist ihr Müll“.
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In den Lahemaa-Nationalpark
Immerhin – die Schwalle an Kreuzfahrt-Touristen, die zumeist vom nur 80 Kilometer entfernten Helsinki kommend in Tallinn einfallen, sind nicht das einzige, was Skandinavien an der Küste Estlands ablädt. Schon Jahrtausende davor schickte der Norden einen – geologischen – Gruß. Nicht per Schiff, sondern im Schlepptau mächtiger, eiszeitlicher Gletscher. Diese Felsblöcke blieben auf Dauer und machen heute einen Teil des Reizes aus, den die Nordküste Estlands verströmt.
Um sie zu sehen, muss man nur eine Auto-Stunde ostwärts in den Lahemaa-Nationalpark fahren. Über die schnurgerade Autobahn, die gleich hinter der Plattenbau-Wüste an Tallinns Peripherie beginnt. Am gut ausgebauten Straßennetz merkt man, dass Estland bereits seit 2004 der EU angehört und viel in seien Modernisierung investiert hat. Der Weg führt aber in immer dünner besiedeltes Gebiet. Lahemaa wurde 1971 – als erster Nationalpark der Sowjetunion – gegründet und erstreckt sich auf einer Fläche von 725 km². Zwei Drittel dieses Kalkstein-Tafellands mit Steilküste, Mooren, Sümpfen, Flüssen und Wasserfällen sind bewaldet. Der erste Eindruck: Bäume bis zum Horizont. Es ist wohl wirklich keine Mähr, dass jeder dritte Este in Tallinn lebt – der Trubel der Hauptstadt wirkt schon jetzt wie ein ferner Traum.
Käsmu: Ein Hippie im Kapitänsdorf
Und wer hier draußen wohnt, so scheint es, tut es aus Prinzip und außerhalb der Normen. Wir machen Halt in Käsmu, einem verschlafenen Küsten-Dorf von 147 Einwohnern. Einer davon ist Aarne Vaik, der uns in seinem privaten „Meeresmuseum“ empfängt. Aarne ist in Käsmu aufgewachsen, seine Familie hier seit mindestens 300 Jahren ansässig. Mit seiner Baskenmütze und den langen, grauen Haaren sieht der 75-jährige aus wie eine Mischung aus Hippie und Matrose. Das passt zu seinem durchgeknallten Leben. Als Biologiestudent, Ende der 60er Jahre, erzählt er, verbrachte er weniger Zeit auf der Uni als mit seiner Spaß-Band „Rajaka“, die das Sowjetregime auf die Schippe nahm, was ihn später den Hochschulabschluss und beruflichen Aufstieg kostete. Schon früher wurde er von allen nur „Fisch“ genannt, denn im Wasser fühlte er sich immer in seinem Element – wohl auch, um gegen den Strom zu schwimmen.
Seit 1993 trägt er in seinem denkmalgeschützten Haus, einst ein Zollgebäude, alles zusammen, was mit Meer und Schiffsfahrt zu tun hat – vergilbte Kapitänsfotos, Schiffsmodelle, See-Karten, Taue, Anker und allerlei Gerätschaften. Er möchte damit die Vergangenheit Käsmus als Fischer- und „Kapitänsdorf“ am Leben erhalten. Tatsächlich wurde hier zur Zarenzeit der Großteil der estnischen Schiffsführer ausgebildet – insgesamt nicht weniger als 1.600, darunter Aarnes Großvater. Das Gebäude der bis 1931 betriebenen Seeschifffahrts-Schule steht heute noch zwischen den anderen pastellfarbenen Holzhäusern des einstigen Sommerfrischeziels, das in der Sowjetzeit als Pionierlager diente und im Sperrgebiet lag. Ein Idyll wie aus einem Astrid-Lindgren-Märchen – kaum zu glauben, dass hier im 19. Jahrhundert der Schnapsschmuggel über die Ostsee nach Finnland florierte.
Aarne serviert uns aber nicht Hochprozentiges, sondern selbst angesetzten Saft aus Vogelbeeren, gegrillten Räucherlachs mit riesigen Dillkartoffeln und den vielleicht köstlichsten Maulbeerkuchen der Welt. Das Hauptthema seines Museums – die Ostsee – liegt nur einen Steinwurf vom Anwesen entfernt ruhig und eisblau in der Bucht von Käsmu. Es ist eine von vier Buchten, die den Nationalpark zergliedern – daher rührt auch sein Name „Buchtenland“. In Käsmu finden sich besonders viele jener Überbleibseln der Eiszeit, für die die Küste des Nationalparks bekannt ist: Findlinge aller Größen, von Stein-Fußbällen bis zu kletterfähigen Bouldern, die sich auf dem glatten Meer spiegelnd in weitem Bogen über der Bucht verteilen wie die Krümel eines Streuselkuchens. Manche haben das Ausmaß vom Haus eines reichen Mannes, die meisten die einer Sauna des gewöhnlichen Volks, sagt man hier. Allein der Anblick dieser Landschaft aus Wasser, Waldzungen, Felsen und Holzhütten – übergossen vom sanften, baltischen Licht – wirkt wie eine Meditation und lässt tiefe Ruhe einkehren. Doch wir möchten diese einzigartige Landschaft auch begehen – und dazu gibt das weitläufige Netz an Wanderwegen im Nationalpark viel Gelegenheit.
Jüri’s Ende: Wald, Steine, Wasserglitzern
Vom Parkplatz am Ortsende Käsmus aus führt ein Rundweg am schmalen Sandstrand der Küste entlang und später in den dichten Kiefern-Urwald hinein. Wir passieren Vogelbeerbäume mit ihren roten Früchten – ein „heiliger“ Baum der Esten, dessen Blätter tunlichst nicht zu pflücken sind – denn das bringe Unglück. Ein Stück weiter häufen sich am Wegesrand Felsbrocken und Steine zu einem beachtlichen „Glücks-Hügel“. Jeder, der hier einen zuvor unterwegs gesammelten Stein über seine Schulter in Richtung Meer wirft, hat einen Wunsch offen, erklärt Tina. Den ersten warf angeblich Schweden-König Gustav II im 17. Jahrhundert. Der Aberglaube der Esten verfolgt einen auf Schritt und Tritt.
Was hingegen geschieht, wenn die Natur mit Steinen herumwirft, verdeutlichen uns die Vana Jüri’s-Felsen. Diese Boulder, von denen der höchste fünfeinhalb Meter misst, dürften durch das Auseinanderbrechen eines größeren Felsens entstanden sein, der nach der letzten Eiszeit mit Gletschern aus Skandinavien angerollt kam. Bis zu einem Kilometer dickes Eis soll das heutige Küstengebiet Estlands bedeckt haben. Nachdem sich das Eis wieder zurückzog, hob sich der Untergrund – und tut es bis heute, etwa 2 mm im Jahr.
Was für eine Idylle das – zum Glück nicht ewige – Eis doch freigelegt hat! Am äußersten Zipfel der Käsmu-Halbinsel – auch Jüri’s Ende genannt – löst sich die Landschaft in Steine, Waldzungen, Schilf und das Glitzern des Wassers dazwischen auf. Wer Jüri war, weiß heute kein Mensch mehr, aber er musste das friedlichste Plätzchen der Welt bewohnt haben. Hier herrscht perfekte Ruhe, die nur vom Geschrei der Möwen und Gesprächen einiger Wanderer, die auf den Felsen picknicken, durchdrungen wird. Man sieht hinüber zur bewaldeten „Teufelsinsel“, die dem Festland vorgelagert ist und auf der sich etliche Vogelarten tummeln – insgesamt sind es in Lahemaa über 220. Über den Steg aus Findlingen und Steinen, die aus dem Wasser ragen, könnte man vielleicht trockenen Fußes hinüberhopsen – in der Brutzeit (April bis Mitte Juli) darf die kleine Insel aber nicht betreten werden.
Tree Hugs, Teufelssteine und Pilze
Wir machen kehrt und folgen den sandigen Pfaden in den Urwald hinein. Noch nahe am Ufer steht der „Mast-Kiefern-Wald“. Mehrere hundert Jahre alt und über 30 Meter hoch sind diese Bäume. Zu Schiffsmästen wurden ihre Stämme dennoch nie verarbeitet, zu sehr haben sie die Winde der Ostsee gekrümmt. Immer wieder, auch tiefer im Wald, sind ganz geknickte und wild verrenkte Stämme zu sehen. Und auch hier finden sich – nunmehr mit Moos bewachsene – Findlinge. In Summe sind es wohl mehrere Tausende im gesamten Nationalpark. Bei einigen, so heißt es, soll es sich um versteinerte Teufel handeln – andere hat der legendäre Riese Kalevipoeg, Held des estnischen Nationalepos, hier hergeworfen. In dichten Reihen stehen die Kiefern und Birken – man kneift die Augen zusammen, um zu erkennen, ob sich hinter einem der Baumstämme nicht doch ein Este verbirgt, der ihn innig umklammert, oder zumindest dazwischen auf der Suche nach Pilzen umherstreift – die zweite ganz große Leidenschaft ihrer Landsleute, wie uns Tina versichert. Am heutigen Tag dürften sich aber alle an die gut beschilderten Wanderpfade halten.
Übernachten im adeligen Gutshof
Wir fahren mit dem Auto weiter und machen einen Stopp beim Gutshof Palmse aus dem 18. Jahrhundert – es ist eines von rund hundert Herrenhäusern adeliger Familien, die auf dem Gebiet des Nationalparks erhalten sind und seit den 1980er Jahren zum Teil restauriert werden. In der hauseigenen Schnapsbrennerei, die zum Hotel umgebaut wurde, kann man sich einquartieren und feudale Tage zwischen Barockgarten, Schwanenteich und diversen Pavillons verbringen. In einem Nebengebäude, früher die Pferdestallung, ist auch das Besucherzentrum des Nationalparks eingerichtet: recht beschaulich, doch immerhin mit einem eigenen Kinosaal ausgestattet, wo man einiges über die geologischen Besonderheiten des Nationalparks, seiner Fauna und seiner Tierwelt – von Elchen bis zu wild lebenden Luchsen – erfährt. Und darüber, dass in Lahemaa auch die Wiege der estnischen Kultur liegt. Die meisten der heimischen Volkstänze stammen aus dieser Region – da macht es Sinn, dass in Käsmu jeden August das Viru Folk Festival ausgetragen wird.
Einmal durch ganz Estland
Palmse ist sicher ein guter Stützpunkt zum Erkunden des Nationalparks. Wem das Wanderwegnetz hier nicht reicht, kann sich den Oandu-Ikla-Weitwanderweg vornehmen. Er beginnt im Lahemaa-Nationalpark, in Oandu, und führt von Norden nach Süden 370 km durch ganz Estland. Soviel Zeit haben wir dieses Mal leider nicht. Wir müssen uns auf dem Rückweg nach Tallinn machen, legen unterwegs aber noch einen Stopp beim Jägala-Wasserfall, Estlands breitestem natürlichen Wasserfall, ein, der über eine Kalksteinkante acht Meter in die Tiefe stürzt.
Mit dem Rauschen des Wasserfalls im Ohr geht es zurück in den sympathischen Trubel von Tallinn, den man aller Naturidylle zum Trotz schon ein wenig vermisst hat. Möchte man jetzt Bäume umarmen? Vielleicht eher einen Esten oder eine Estin, deren Heimat eine echte Entdeckung ist. Und recht bald, für länger, wiederkommen.