Kirgistan – Trekking im Tian Shan-Gebirge
Foto: Mark Buzinkay
An den Hängen des Tian Shan-Gebirges im Osten Kirgisistans mühen sich unerschrockene Wanderer hinauf zu Bergseen und Gletschern. Sie schlafen in Jurten entlang des Weges und trinken glasklares Bergwasser. Das Land der Pferde und Nomaden ist längst mehr als ein Geheimtipp. Jonathan Ponstingl hat es erkundet.
Von Jonathan Ponstingl
„Wollt ihr ein Snickers?“, fragt einer der drei jungen Kirgisen. Selten war der Wunsch danach so stark und selten die Überraschung so groß, eines zu bekommen. Allein die Stimme ist zu schwach, um zu antworten. Der Kirgise versteht dennoch und wirft den Schokoriegel herüber. Wir sehen vermutlich so ausgezehrt aus, wie ich mich fühle. Auf 3.500 Metern Höhe inmitten des kirgisischen Teils des Tian Shan ist das kein Wunder, die offenkundliche Fitness der Einheimischen hingegen deprimierend.
Doch die Mühen lohnen sich. Rechterhand sticht der See Alaköl tiefblau zwischen den Bergmassen empor. Am östlichen Rand des Sees erstreckt sich der Takyr Tor-Gletscher in das Gebirge. Die Luft ist frisch und kühl, die Sonnenstrahlen wärmen jedoch den Körper. Unser Rastplatz ist eine Ansammlung von braungrauen Geröllblöcken, einige hundert Meter vor dem finalen Pass.
Einen Tag zuvor hatte die Tour begonnen. Ausgangspunkt ist die Stadt Karakol rund 2.000 Höhenmeter tiefer. Ein 70.000-Einwohner-Nest mit industrieller Sowjetatmosphäre. Mit einem Marschrutka, die lokale Version eines Sammeltaxis, geht es bis zum Eingang des Nationalparks.
Hinter dem handbetriebenen Schlagbaum erstreckt sich eine staubige Piste bis zum letzten Dorf vor dem Anstieg. Danach gabelt sich der Weg. Der rechte führt entlang des Flusses Karakol bis hoch zu einer losen Sammlung Jurten am Fluss Kurgak Tor. Die ersten Meter der Strecke erinnern an eine Talwanderung in den österreichischen Alpen. Der Weg folgt einem Fluss, dichte Fichtenwälder schmiegen sich an die Bergflanke. Kühe kreuzen den Weg, dazu allradbetriebene Fahrzeuge und solche, bei denen man schon auf ebener Strecke die Fahrtauglichkeit in Frage stellen könnte. Nur die Menschenmassen der Alpen fehlen. Es ist ruhig.
Ich fühle mich klein und unbedeutend. Anfangs laufen wir wie bei einem Sonntagsausflug in eine der höchsten Gebirgsketten dieser Erde hinein. Pferde suchen unter einer Art Carport mit Wellblechdach Schutz vor der Sonne, einige Meter weiter steht ein halbes Dutzend grauer Milchkannen bereit zur Befüllung. Kirgisische Kinder kommen den Pfad entgegen, grüßen jeden Besucher mit einem englischen „Hello“. Nach rund vier Wegstunden machen die Grasflächen erstmals Platz für langgezogene Schotterpisten – erste Vorboten der Mühen des Folgetages. Der hochalpine Bereich kommt näher, die Beschaffenheit der Wege wird anspruchsvoller.
An den Hängen des Tian Shan leben Halbnomaden. Sie nächtigen in Jurten und bewirtschaften das Vieh – Esel, Kühe, Ziegen, Schafe, Pferde. Und sie beherbergen Touristen. Am Abend des ersten Tages erreichen wir das Jurt-Camp. Die Jurten sind eine einzigartige Möglichkeit, Authentizität in den kirgisischen Bergen zu erleben. Und sie sind rustikal. Wir schlafen auf einer Mattensammlung auf dem mit Teppich ausgelegten Bergboden. Nachts dringen die Geräusche der Berge an die Ohren, der Fluss plätschert unentwegt vor sich hin und dient als bitterkaltes Waschbecken. Auf der anderen Uferseite nächtigen Wanderer in eigenen Zelten, die sie den Weg nach oben gewuchtet haben.
Land der Nomaden
Nach der Nacht in der Jurte folgt der härteste Teil des Treks. Das Frühstück ist dürftig, zwei gekochte Eier und etwas Toastbrot mit Marmelade. Kein Wunder, Nahrungsmittel bis hier hoch zu transportieren ist nicht leicht. Um sechs Uhr morgens beginnt der zwölfstündige Tag mit dem Aufstieg zum See Alaköl. Die Wanderwege vom Vortag sind Vergangenheit. Geröll ist der Untergrund der Stunde. Es ist steil, der Boden rutscht unter den Füßen weg, die Hände sind ein geeignetes Hilfsmittel. Der erste Teil des Weges folgt einem Wasserfall. Spitze Berggipfel ragen daneben empor.
Der Anstieg endet jäh. Die losen Steine weichen und münden in ein Plateau und mit einem ersten Ausblick über die milchig-blaue Fläche des Bergsees Alaköl. Auch die Kälte schwindet, die Sonnenstrahlen finden endlich ihren Weg zu uns. Wanderer liegen auf dem Boden und schlummern, essen mitgebrachtes Fladenbrot und trinken aus Quellen abgefülltes Bergwasser. Einige bauen ihre Einmannzelte ab, die sie irgendwie in den kleinen Grasflecken zwischen den Felsen befestigt haben. Ein unerschrockenes Pärchen traut sich in den ebenso kalten wie schön funkelnden See. Zu lange dürfen wir nicht rasten. Die Kirgisen im Tal haben uns vor der langen und anstrengenden zweiten Etappe gewarnt. Also sind wir eine halbe Stunde später wieder auf den Füßen.
Es dauert nicht lange, bis mir der Vormittag wie ein Wellnessurlaub vorkommt. Beim Anstieg zum Pass macht sich die Höhe bemerkbar. Die Luft wird dünn. Alle paar Meter halten Wanderer mit Schnappatmung an, das Herz arbeitet auf Hochtouren. Die Geröllpisten erinnern an Mordor aus „Herrn der Ringe“. Auf dem letzten Plateau vor dem Pass machen einheimische Guides deutlich zu entspannt Pause und reichen den vor Erschöpfung keuchenden Touristen das Snickers.
Erschöpft kommen wir schließlich auf dem Pass an, lassen den Blick schweifen über Bergsee und Gletscher zu unserer Rechten und über ein langes grünes Tal zu unserer Linken, das noch einige Stunden Trekking von uns entfernt liegt.
Ein raues Trekking-Paradies
Der Abstieg vom Pass ist nicht minder anspruchsvoll als der Aufstieg. Ein von oben kaum auszumachender Pfad führt durch das Geröllfeld. Wanderer warten mehrere Minuten auf Entgegenkommende, um nicht einen der herunterprasselnden Steinbrocken an den Kopf zu bekommen. Der Abstieg endet an einem Eis-Schnee-Gemisch. Endlich wieder halbwegs ebenen Boden unter den Füßen. Dahinter liegt ein erstes Jurt-Camp, das vor allem Endstation für Pferdetouren aus dieser Richtung ist.
Die verbleibenden acht Kilometer gleiten gleichmäßig ins Tal. Auf der gegenüberliegende Flussseite lugen Murmeltiere herüber, Pferde und Kühe grasen die grünen Hänge ab. Ein namenloser Fluss leistet uns Gesellschaft und muss mehrmals barfuß durchquert werden. Die alpine Flusslandschaft ist zurück und begleitet uns bis nach Altyn Arashan, einer Ansammlung von Gästehäusern und Jurt-Camps auf der anderen Seite des Passes. Nach 45 Kilometer Wanderung ein erster Vorposten der wiedergekehrten Zivilisation. Von hier aus nehmen wir ein motorisiertes Gefährt zurück nach Karakol.
Kirgisistan ist rau. Pferde sind in dem zu 94 Prozent aus bergigem Terrain bestehenden Land ein wichtiges Verkehrsmittel. Für trekkingerfahrene Bergwanderer aus Europa sind die Pässe des Tian Shan der Hauptreisegrund. Seit 2016 ist der Tian Shan UNESCO-Weltnaturerbe. Eine der populärsten Touren führt am äußersten Ostrand des Sees Yssykköl hinauf zum See Alaköl und weiter bis zum benachbarten Pass auf 3.850 Metern Höhe. Wer die Reise hierher auf sich nimmt, wird mit einer beeindruckenden Berglandschaft, unberührter Natur und authentischen Begegnungen belohnt. Und gibt auch etwas zurück: Denn der Tourismus soll dem Land in seiner Entwicklung helfen und den traditionellen Lebensstil der Nomaden mit der Moderne verknüpfen.
Infos und Adressen: Kirgistan, Trekking im Tian Shan-Gebirge
Reisezeit: Kirgisistan lässt sich das ganze Jahr über bereisen. Die Winter sind sehr kalt, bieten aber die Möglichkeit, Ski zu fahren. Klimatisch angenehm sind Frühling und Herbst, während die Sommer in der Ebene sehr heiß werden können. Für Trekking-Touren eignen sich die Monate Juli bis September.
Visa: Für einen Aufenthalt von bis zu 60 Tagen ist kein Visum notwendig.
Anreise: Ab Deutschland fliegen Pegasus Air und Turkish Airlines über Istanbul in die kirgisische Hauptstadt Bishkek. Alternativ mit Emirates über Dubai. Auch wenn es einige wenige Bahnverbindungen gibt, erfolgt der Transport im Land am besten mit Marschrutkas, den Sammeltaxen. Sie fahren auch von Bishkek bis nach Karakol im Osten des Landes und sind mit wenigen Euro pro Fahrt erschwinglich.
Unterkünfte: Guesthouses und Hotels gibt es im ganzen Land. Besonders authentisch übernachtet man in Jurt-Camps. In Karakol zum Beispiel im Turkestan Yurt Camp ab ca. 7 € pro Person und Nacht in einer Jurte. Auf den Bergen wird es teurer, die Ausstattung ist einfacher.
Touren und Ziele: Neben den Trekking-Touren im Tian Shan bietet sich Karakol auch für Touren rund um den See Yssykköl an. Der zweitgrößte Bergsee der Erde ist im Sommer Urlaubsziel von zahlreichen Russen und Kasachen. Wer mehr Zeit hat, fährt mit den Marschrutka in den Süden bis zur Stadt Osh und entdeckt das Erbe der Seidenstraße in Kirgisistan.
Information: Neben Kirgisisch wird insbesondere Russisch gesprochen. Kirgisen, die im Tourismus arbeiten, sprechen häufig auch etwas Englisch. Weitere Informationen erteilt Discover Kyrgyzstan unter www.discoverkyrgyzstan.org Infos zur Destination Karakol gibt es in der lokalen Einrichtung Destination Karakol unter destinationkarakol.com und in ihrem Büro im Stadtzentrum.
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