Dschingis‘ Land: Trekking in der Mongolei
Foto: Philipp Horak
Erde ist verletzlich, Feuer ist heilig, und Schnaps schmeckt auch den Luftgeistern: eine abenteuerliche Trekking-Expedition in die unendlichen Weiten der Mongolei. Die Story ist im Bergwelten Magazin (August/September 2019) erschienen.
Text: Martin Staudinger, Fotos: Philipp Horak
Nach dem Schnee kam die Kälte, und mit ihr kamen die Wölfe: Jetzt schleichen sie um das Camp, das sich am Rand der gewaltigen Zunge des Potanin-Gletschers duckt – zwölf gelbe Zelte unter einem sternenklaren, mondlosen Himmel. Es war noch nicht Mitternacht, als Simba, der große schwarze Wächter der Karawane, das Rudel wittert und ein Höllengebell anstimmt, das uns bis in die frühen Morgenstunden wach hält. Die Eindringlinge kann er irgendwann vertreiben, den Frost nicht.
Null, dann minus fünf, dann minus zehn Grad. Wo zivilisationsverwöhnte Westeuropäer bestenfalls nur noch auf eine Wiedergeburt als Tiefkühlerbsen spekulieren, herrscht für Mongolen das, was Schlafsack-Etiketten als „Komfort-Temperatur“ definieren. Heißt: Tsolmon und die anderen fangen langsam an, zu überlegen, ob sie ihre Jacken zumachen sollen.
Es ist die zehnte Übernachtung der Trekkinggruppe im Zelt – und eindeutig die anstrengendste. Das Lager befindet sich heute auf 3.100 Meter Seehöhe. Ein scharfer Wind, der aus Nordwesten über das Dreiländereck von Mongolei, China und Russland faucht, erzeugt einen ordentlichen Chill-Faktor.
Am Morgen, als alle ein bisschen zerknittert und verfroren beim Tee sitzen, klopft Andreas aus Wien Eisbrocken aus der Trinkflasche, die er vor dem Schlafen gehen mit heißem Wasser angefüllt hat, um die Zehen warm zu kriegen. Und Tsolmon, der Bergführer, erzählt so gut gelaunt von den Wölfen, dass einem nachträglich angst und bange werden könnte.
Doch jetzt dringt von draußen das beruhigende Schnauben der Pferde herein. Die Töpfe klappern, das Feuer knistert. Wäre da nicht die alte Öltonne, die als Ofen zweckentfremdet wurde, und hätte das Gemeinschaftszelt nicht eine Kunststoffplane, dann könnte man sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen: So ziehen Karawanen seit hunderten von Jahren durch die Mongolei.
Diese hier besteht allerdings nicht aus Untertanen des legendären Dschingis Khan, sondern aus einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Österreichern und Deutschen, quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Der Pensionist Anton – ein Steirer in Tirol, der schon halb Europa zu Fuß durchwandert hat – ist ebenso dabei wie die junge Weltenbummlerin Julia aus Ulm, die den Winter am Skilift in Ischgl verbringt und den Rest des Jahres unterwegs ist, next stop: Namibia.
In den vergangenen Tagen sind sie an die 120 Kilometer gewandert, geführt von Tsolmon, begleitet von Pferde- und Kamelführern und einer Küchenbrigade. Sie sind jeden Tag fünf bis sieben Stunden marschiert, vom Khurgan-See hinauf zum Potanin-Gletscher, den Rucksack umgeschnallt, die Zelte auf den Lasttieren. Sie haben einen 3.150 Meter hohen Pass überwunden und einem Schneesturm getrotzt, die Moderne hinter sich gelassen und sich in den Rhythmus der Karawane eingegroovt. Der alte Dschingis wäre zumindest angetan davon, wie sie sich binnen kürzester Zeit in das Nomadenleben eingefunden haben (das mit der Kälteresistenz wird schon noch werden).
Die Landschaft rund um den Khurgan-See wirkt wie aus der Zeit gefallen. Begrenzt wird sie von den Bergen des Altai-Gebirges, die so steil und schroff sind, dass man allein vom Hinsehen Höhenangst bekommt – oder Höhenlust, wenn man ein richtiger Bergsteiger ist. Ein milchig blauer Fluss, der Tsagaan Gol, strömt gemächlich nach Südosten. An kargen Hängen leuchten Flecken von roten und violetten Gewächsen. Auf den Talböden wächst hohes Steppengras, in dem Yaks, Pferde, Kamele, Ziegen und Schafe weiden. Vor den Gers – so nennt man hier die Jurten – liegen große, zottige Hunde. Ihnen kommt man lieber nicht zu nahe.
Auf die Gastfreundschaft ihrer Besitzer, der Nomaden, kann man allerdings zählen. Ihre Gers sind Wunderwerke an simpler Funktionalität: Vier Scherengitter aus Holz bilden einen Kreis, der Platz für einen Türrahmen lässt; im Inneren stehen zwei Holzsäulen, auf denen ein Dachkranz ruht; rundherum und obendrauf Filzmatten, je nach Jahreszeit bis zu vier Lagen übereinander, die mit Planen aus Leinenstoff umhüllt werden; ein kleiner Ofen, dessen Rohr durch eine Öffnung im Dach führt und der mit Dung beheizt wird, sorgt auch im Winter für annehmbare Temperaturen. Und alles ist in kaum mehr als einer Stunde aufgebaut. Oder nach dem Abbau verstaut, damit das Nomadenleben weitergehen kann.
In den Gers wird gewohnt, geschlafen, aber auch gewerkt. Vor allem in der Herstellung von Milchprodukten haben die Nomaden eine gewisse Meisterschaft entwickelt – sowie Rezepte, die in Europa völlig unbekannt sind. Urum zum Beispiel: eingedickte Milch, die zu Schaum gerührt und anschließend getrocknet wird. Das Ergebnis bleibt monatelang haltbar und lässt sich wie ein Snack knabbern oder dem Tee beimengen.
Die verbleibende Magermilch wird weiterverarbeitet, etwa zu Isgelen Tarag (Kefir) oder zu Tarag (Joghurt), aus dem dann Mongol Arkhi destilliert werden kann – ein dünner Schnaps, der auch den Namen „das höchste Gericht“ trägt. Warum? Weil er nur dann gebrannt wird, wenn Milch im Überfluss vorhanden ist und es der Familie dementsprechend gut geht. Darauf ein „Minde!“, das mongolische „Prost!“.
Wir merken schon: Hier sind Nachhaltigkeit und achtsamer Umgang mit Ressourcen mehr als bloß Bobo- und Bio-Testimonials. Natürlich auch, weil es gar nicht anders geht. Es ist ein hartes, einfaches Leben, das die Nomaden führen. Grenzen sind ihnen innerhalb des Landes nicht gesetzt. Außerhalb der Städte können sie ihre Gers aufstellen, wo immer sie wollen und wo sie niemandem in die Quere kommen – was aber ohnehin kein Problem sein sollte: Die Mongolei ist knapp viereinhalbmal so groß wie Deutschland, hat aber nur drei Millionen Einwohner, von denen mittlerweile fast die Hälfte in der Hauptstadt Ulaanbaatar lebt. Die Landflucht ist vor allem Folge einer Reihe von extrem harten Wintern, die viele Nomaden ihre Herden und damit die Existenzgrundlage gekostet haben. Das bedeutet: Es gibt sehr viel Platz für diejenigen, die sich das Nomadenleben nicht verdrießen lassen – und sehr viel Ruhe.
Zieh auf jeden Fall den Kopf ein
Der letzte Signalbalken auf dem Handydisplay ist nun, gut hundert Kilometer südlich, in Kushuut, erloschen. Die Versatzstücke der Zivilisation sind selbst in den Behausungen der Nomaden rar: ein alter Fernseher, der mit einer Autobatterie betrieben wird; vor der Tür da und dort ein Moped; oder ein UAZ 2206 – das sind die russischen Allrad-Minibusse, die seit mehr als einem halben Jahrhundert kaum verändert gebaut werden.
Dafür sind Mystik und Naturmagie allgegenwärtig, auch in einer Vielzahl von Verhaltensregeln, die es zu beachten gilt. Erde ist verletzlich: Wenn du ein Zelt aufstellst, dann lass die Heringe nur so lange wie unbedingt notwendig im Boden. Feuer ist heilig: Wirf keinen Müll hinein – außer Fettreste, denn die sind Opfer gaben. Schnaps schmeckt auch den Luftgeistern: Schnipp ein paar Tropfen hinter dich, bevor du trinkst, die Geistwesen werden es dir danken. Steig nie auf die Schwelle, wenn du einen Ger betrittst (das wäre ein böses Omen für die Bewohner). Und zieh dabei immer den Kopf ein (sonst holst du dir am niedrigen Türrahmen eine Beule). Geh nicht an einem Owoo vorbei (das sind die kultischen, mit bunten Gebetsschals drapierten Steinhaufen, die zumeist auf Passhöhen aufgeschichtet sind), sondern umrunde ihn im Uhrzeigersinn entweder ein- oder dreimal, keinesfalls aber zweimal (nur ungerade Zahlen bringen Glück). Wenn du dann drei Steine drauf legst, darfst du dir etwas wünschen (nach der vergangenen Nacht ganz profan: eine weiche Matratze und ein bisschen Wärme, sehr geehrte Geister, bitte, danke).
Und wirklich: Als es auf Mittag zu geht, lässt der Wind nach, die Temperatur steigt, und irgendwann findet sich sogar eine bequeme Liegestätte – ein sonnenbeschienener Hügel mit weichem, warmem Gras erlaubt ein kurzes Nickerchen, das die Kälte vergessen lässt.
Dann ruft Tsolmon zum Aufbruch. Es liegt noch ein gutes Stück des Weges zum nächsten Lagerplatz am Eingang des Tavan-Bogd-Nationalparks vor den Wanderern. Ein letzter Blick zurück zum Malchin, dem höchsten der fünf heiligen Gipfel der Mongolei, der über dem Potanin- Gletscher thront.
Jagdausflüge und Hausübungen
Die Karawane ist vorausgezogen. Als die Gruppe ihr Ziel erreicht, verschwindet die Sonne schon hinter den Bergen. Aber die Zelte sind bereits aufgebaut, im Kessel zieht der Tee, und mit der Dunkelheit kommt die Zeit für Geschichten.
Tsolmon ist ein guter Erzähler – am Abend, wenn das Feuer im Ofen züngelt und die Holzschale mit dem Wodka herumgeht, noch besser als in der Früh. „Minde!“, sagt er, taucht den Finger in den Schnaps, schnippt ein paar Tropfen für die Geister hinter sich und setzt zu einer Khöömej-Darbietung an – das ist der mongolische Kehlgesang, der in seiner höchsten Vollendung ein bisschen klingt, als würde man ein Stück Gartenschlauch um die eigene Achse wirbeln; aber das hört sich nur für Banausen so an, die das dafür nötige Höchstmaß an Kunstfertigkeit nicht zu schätzen wissen.
Und dann erzählt er: von Jagdausflügen bei Schneesturm und minus 40 Grad Celsius; von seiner Volksschulzeit, in der die Hausübung über das Wochenende ab und zu nicht in Schreiben, Rechnen oder Lesen bestand, sondern darin, zehn Eichhörnchen zu erlegen und die Felle sauber abgezogen beim Lehrer abzuliefern.
Es sind Geschichten, so fremd und so mitreißend, dass man fast noch einmal darüber nachdenken möchte, ob das mit den Wölfen, die um das Lager geschlichen sein sollen, wirklich gestimmt hat – oder ob es doch nur Tsolmon-Latein war.
Aber in dieser Nacht, in der sich alle zum letzten Mal in ihren gelben Zelten zur Ruhe legen – wieder unter einem sternenklaren, mondlosen Himmel, aber ein bisschen tiefer im Tal –, in dieser Nacht schlägt der große schwarze Wachhund Simba kein einziges Mal an.
Infos und Adressen: Trekking in der Mongolei
Ankommen
Es ist ein weiter Weg in die Einsamkeit: Der Flug führt erst nach Moskau, dann in die mongolische Hauptstadt Ulaanbaatar (6 h) und von dort in die Provinzstadt Ölgii (3 h) im äußersten Westen des Landes. Weitere fünf bis sechs Stunden dauert die Fahrt über holprige Pisten zum Ausgangspunkt der Wanderung. Um sich zu akklimatisieren und sich auf den Zeitunterschied von fünf Stunden einzustellen, kommt ein Zwischenaufenthalt in Ulaanbaatar gut gelegen.
Wandern
Der Reiseveranstalter „Weltweitwandern“ bietet unterschiedliche Mongolei-Programme an: Bergwanderungen ebenso wie Wüsten- und Kulturtouren. Die Etappen sind nicht strapaziös, verlangen bei Tagesdistanzen von bis zu 25 Kilometern und 950 Höhenmetern aber eine gute Grundkondition. Infos: weltweitwandern.at
Zum Gletscher
Der Weg beginnt dort, wo alle Straßen enden: auf Position 49° 05' 35" N, 88° 06' 44" O. Vom Eingang beim Tavan-Bogd-Nationalpark am Tsagaan Gol (Weißen Fluss) führt ein Hirtenpfad zum Potanin-Gletscher auf rund 3.000 Meter Höhe. Der Anstieg ist nicht steil oder ausgesetzt, er zieht sich aber – auch weil er je nach Wetter zum Teil durch sumpfiges Gelände führt. Zum Basislager hinter der Gletschermoräne ist man vier bis fünf Stunden unterwegs. Wer nicht dort übernachten will, erreicht schon nach knapp drei Stunden einen spektakulären Aussichtspunkt und schafft es in einem Tag zurück zum Ausgangspunkt.
- Dauer: 3 bis 5 h (in eine Richtung)
- Höhenunterschied: 700 m
Auf den heiligen Gipfel
Der 4.050 Meter hohe Malchin liegt teilweise auf russischem Territorium und bietet einen grandiosen Blick über das Bergmassiv des Tavan Bogd und den Potanin-Gletscher. Der Aufstieg beginnt im Basislager auf rund 3.100 Meter Seehöhe. Die Tour ist technisch nicht anspruchsvoll, aber anstrengend, verlangt hochalpine Erfahrung und sollte nicht ohne einheimischen Bergführer unternommen werden.
- Dauer: 8 h (samt Zustieg: 3 Tage)
- Höhenunterschied: 950 m
Planen und Vorbereiten
Ausrüstung: Für Übernachtungen in Ger oder Zelt ist gute Ausrüstung unabdingbar. Isomatten werden zur Verfügung gestellt, wer aber nicht hart liegen möchte, ist mit einer zusätzlichen Unterlage gut beraten und sollte vor allem nicht beim Schlafsack sparen. Auch im Spätsommer können die Temperaturen deutlich unter den Gefrierpunkt fallen.
Gut zu wissen: Besondere Vorsorge empfiehlt sich gegen Sonnenbrand (die mittlere Landeshöhe liegt bei fast 1.600 Metern) und Magen-Darm-Beschwerden. Von Touren ohne ortskundige Begleitung ist abzuraten: Außerhalb der Hauptstadt Ulaanbaatar ist kaum Infrastruktur vorhanden. Das gilt sowohl für Unterkunft und Versorgung als auch für medizinische Betreuung. Das Mobilfunknetz funktioniert ebenfalls nur in der Nähe der – wenigen – größeren Städte.
Termine: Jedes Jahr Mitte September findet in der Mongolei das traditionelle Adlerfest statt, das vor allem von der kasachischen Minderheit im Nordwesten des Landes gepflegt wird. Dabei präsentieren die Adlerjäger ihre schönsten Tiere und lassen sie in Wettbewerben gegeneinander antreten.
Einkaufen: Wer Kaschmir mag, sollte die Mongolei keinesfalls verlassen, ohne eine der Fabriken besucht zu haben, die diese wunderbare Wolle herstellen: Ihre Qualität ist großartig, die Preise ebenso.
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