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Kirgistan: Wandern im Reich der Reiter

Reise

7 Min.

15.02.2021

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Kirgistan ist nicht das Dach der Welt, aber zumindest so etwas wie das Mansardenzimmer. Eine Landschaft intensiv wie ein nachkolorierter Schwarz-Weiß-Film. Autor Markus Huber nimmt uns mit. Diese Reise-Story erschien im Bergwelten Magazin (Dezember/Januar 2018/19).


Tipp: Habt ihr auch Fernweh? Dann hört euch doch unsere Podcast-Folge an! Darin erzählen Abenteurerinnen und Globetrotter wie es ihnen mit den derzeitigen Reise-Beschränkungen geht!

Text: Markus Huber, Fotos: Philipp Schönauer

Der Ort, an dem Azamat ein Problem bekommt, liegt auf 2.800 Meter Seehöhe. Eigentlich gäbe es hier wirklich keinen Grund, unzufrieden zu sein. Es ist angenehm warm, sonnig und windstill, die Luft ist so klar, dass man hervorragend bis zu den schneebedeckten Gipfeln des Tienschan sieht. Man sieht, wie sich die Schotterpiste von Kyzart, dem Bergsteigerdorf im Tal, in langen Serpentinen über den Pass windet und dann nach Westen, Richtung Usbekistan, weiterzieht.

Man sieht die schier endlosen grünen Wiesen, die Weiden, die Jurten, aus denen der Rauch aufsteigt. Irgendwo hinter dem nächsten Bergrücken liegt die Ebene von Kilemche, die sogenannte Sommerweide, die sich an einen kalten Gebirgsbach schmiegt und im Sommer wegen der vielen Blumen noch viel bunter ist als eines dieser quietschbunten Sommerkleider von Desigual.

Noch weiter Richtung Süden liegt der Songköl, der riesige Gebirgssee auf mehr als 3.000 Meter Seehöhe, zu dem uns Azamat führen soll, eine Tour zwei Tage durch weitgehend unberührte Natur. Doch ausgerechnet jetzt hat Diana einen Schwächeanfall, wahrscheinlich eine Magenverstimmung. Und bis zum Lager sind es noch vier Stunden. Was soll Azamat also machen: Umdrehen? Hilfe holen? Oder komplett unkirgisisch sein?

Er steigt vom Pferd. Kirgistan, auch bekannt als Kirgisistan oder Kirgisien, ist eine ehemalige Sowjetrepublik mitten in Zentralasien, acht Flugstunden östlich von Wien. Für die meisten war das Land eines dieser vielen nicht näher bestimmten -stans zwischen Moskau und Peking, nicht weiter beachtenswert, außer dann, wenn die Welthungerhilfe Geld sammelt. Kirgistan ist nämlich bettelarm, so arm, dass es nicht einmal Plakatwände gibt, weil sich die Produkte darauf ohnehin keiner kaufen könnte. Wenn dann doch einmal ein Plakat zu sehen ist, dann verbreitet der Präsident die Botschaft „Unsere Alten sind unser wichtigster Schatz“, und das ist wahrscheinlich nicht einmal falsch, weil das Land auch keine Bodenschätze hat – oder zumindest so wenig, dass diese auch nicht für ein paar ordentliche Oligarchen reichen.

Aber vielleicht ist genau das das große Glück für Kirgistan. Weil hier, anders als in den Nachbarländern, niemand wirtschaftliche Interessen hat, ist Kirgistan eine stabile Demokratie mit fast unberührter Landschaft.

„Wir werden wahrscheinlich ein paar Pferde sehen“, hatte uns Diana noch am Tag vor der Wanderung gesagt. Diana ist 28 Jahre alt und unsere Dolmetscherin. Einige Jahre lebte sie in Wien, studierte und arbeitete als Au-pair. Seit zwei Jahren ist sie wieder zurück in ihrer Heimat. Sie habe schon ziemlich Heimweh gehabt, sagt sie. Inzwischen habe sie aber auch wieder ein wenig Sehnsucht nach Wien.

Wie Cowboys sehen die Kirgisen aus, zumindest bemühen sie sich, die Lässigkeit auf den Pferden hinzubekommen, wenn sie an uns vorbeireiten. Das gilt übrigens auch für Azamat, unseren Guide, der, seit wir aufgebrochen sind, ununterbrochen auf seinem Pferd sitzt. Wir gehen, er reitet der Gruppe voraus, das ist der Deal. „Echte Kirgisen gehen nicht“, sagt er, als wir ihn darauf ansprechen. Doch jetzt zwingt ihn die Situation mit Diana doch dazu. Er steigt ab, hebt Diana in den Sattel und macht sich zu Fuß zur Passhöhe auf.

Es geht sanft über einen Feldweg, dann über Weiden, die aussehen wie aus einer James-Dean-Filmkulisse. Überall stehen auf der weiten Fläche Pferde, alles hier ist braun und grün, aber dabei ungemein intensiv – fast so wie alte Schwarz-Weiß-Filme, die später nachkoloriert wurden.

„Pferde sind hier alles“, sagt Diana. Sie bestimmen das Leben der Menschen, sie sind Transportmittel, Nutztiere und Nahrungsmittel zugleich. 5,5 Millionen Menschen leben in Kirgistan, in einem Land, das nur unwesentlich kleiner ist als Großbritannien (wo aber 65 Millionen Menschen leben). Allerdings sind 94 Prozent des Landes gebirgig – die Berge des Tienschan reichen auf bis zu 7.400 Meter hinauf – und nicht einmal 20 Prozent der Landesfläche können landwirtschaftlich genutzt werden. Was bleibt, ist Viehzucht, und aufgrund der klimatischen Bedingungen bieten sich neben Schafen und Yaks vor allem Pferde an. Deshalb essen Kirgisen übrigens in erster Linie Fleisch. Hin und wieder verirrt sich eine Gurke auf den Teller, aber normalerweise setzen sie hier auf Trennkost beziehungsweise auf mehrstufige Verdauung, sagt Diana: „Gemüse und anderes Grünzeug wird von denen gegessen, die dann selbst gegessen werden.“

Die drei Jurten sind schon von weitem zu sehen. Direkt auf der Kilemche-Weide gelegen, auf der anderen Seite eines Bachs und in den Windschatten eines Gebirgszacken gedrückt, stehen sie auf einer halbwegs flachen Stelle. „Sie gehören meiner Familie“, sagt Azamat, „genauso wie die Pferde und Schafe darum herum.“ Der Reihe nach trägt uns sein Pferd durch den Fluss, und als wir endlich bei den Jurten ankommen, wird es allmählich dunkel.

Zwölf Pferde hat die Familie, sagt Azamat, wobei das natürlich nicht ganz stimmt. Eigentlich sind es mehr, aber die Fohlen werden nicht mitgezählt. Pferde sind nur dann echte Pferde, wenn man auf ihnen reiten kann.

In der Jurte selbst ist es dunkel. Statt eines Fensters gibt es oben eine kleine kreisrunde Öffnung. Geschlafen wird auf Decken aus Pferdehaar. Wer es gern ein bisschen weicher möchte, der nimmt einfach eine zweite Decke (oder eine dritte oder vierte). Wer hier draußen lebt, der darf nicht besonders verwöhnt sein, wobei das wohl in Kirgistan wahrscheinlich sowieso nur die wenigsten sind. Es gibt kein fließendes Wasser; Wasser muss beim Fluss ein paar hundert Meter weiter Richtung Norden geholt werden. Die Lebensmittelvorräte sind in einem Erdloch vergraben, darüber liegen Bretter. Von April bis September lebt seine Familie hier heroben – weitestgehend allein mit sich und den Tieren. Seit einem Jahr haben sie auch eine Jurte für Gäste wie uns aufgestellt, man kann sich nächteweise einmieten.

Als wir am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang aufbrechen, trennen uns noch zwei Pässe vom Songköl-See. Es geht zunächst entlang eines Hügels weiter über die Sommerweide, der Weg biegt dann zum ersten Kamm ab. Überall sieht man jetzt weitere Jurten, die Kilemche ist bei den Viehzüchtern der umliegenden Dörfer sehr beliebt. Es riecht nach Kuhmist, was daran liegt, dass die Jurten mit Kuhmist geheizt werden. Wir hören Murmeltiere und sehen Steinadler, die Tierwelt ist hochalpin und wir befinden uns auch über der Baumgrenze, was aber andererseits nur theoretisch wichtig ist. Kirgistan ist eines der baumlosesten Länder der Welt, nur vier Prozent der Landesfläche sind bewaldet. Dafür zieht sich die Grasmatte fast überall bis auf 4.000 Meter hoch. Im Zusammenspiel von abgeschliffenen, fast runden Bergrücken und weit nach oben ragenden Almen gibt das eine ziemlich eigenartige Landschaftsform.

Auch diese Etappe der Tour wäre wandertechnisch übrigens nicht besonders schwierig. Aber sobald der Weg auch nur ein bisschen ansteigt, schießt der Schweiß aus allen Poren, und die Lunge meldet sich mit einer Beschwerde über jede Zigarette, die man irgendwann einmal geraucht hat – egal wie lang das her ist. Auf über 3.000 Metern werden auch alte Sünden abgebüßt.

Nach dem zweiten Pass des Tages geht es sanft einen Hang hinab. Überall laufen Schafe herum. Wir kommen in ein Tal, in dem ein Fluss zum Songköl führt. Immer wieder kommen uns jetzt kirgisische Reiter entgegen, die Herden von Pferden zurück in Richtung Kyzart-Pass führen – das sind die Pferde für Touristen, die unsere Tour in einem Tag am Pferd schaffen wollen. „Mittlerweile kommen schon mehr Touristen her“, sagt Diana, die das auch als Chance für einen Aufschwung in der Gegend sieht. Eine Handvoll Reisebüros bieten mittlerweile Reisen in diese Gegend an, unter anderem die Grazer Agentur „Weltweitwandern“, die gut abgestimmte Spezialtouren im Programm hat.

Man ist aber in Kirgistan immer noch sehr allein. Wenn man Russen und Kasachen abzieht, wurden 2016 exakt 75.000 Touristen in Kirgistan gezählt – das sind 75.000 mehr als vor zehn Jahren, aber andererseits ungefähr genauso viele, wie ein österreichischer Wintersportort wie Ischgl an zwei Wochenenden durchschleust.

Kapazität hätten die Kirgisen in jedem Fall. Aber wo das auch hinführen kann, ist am Ende der Tour am Songköl zu sehen. Der zweitgrößte See Kirgistans liegt mitten in einer grünen Steppe, im Hintergrund die schneebedeckten Gipfel des Tienschan. An diesem idyllischen Platz schlagen viele Nomaden ihre Jurten auf – eigentlich, um ihre Herden zu bewachen. In den vergangenen Jahren haben aber viele umgestellt und vermieten ihre Jurten an Touristen. An der Nordseite ist eine richtige Zeltstadt entstanden.

Was dann so individuell ist, wie Tourismus im großen Stil eben sein kann.


Infos und Adressen: Kirgistan, Zentralasien

Ankommen

Kirgistan hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Geheimtipp unter Trekkingtouristen entwickelt – dennoch gibt es nach wie vor keine Direktverbindungen aus Österreich, Deutschland oder der Schweiz. Flüge nach Bischkek kosten ab 500 Euro und führen entweder über Moskau (Aeroflot) oder Istanbul (Turkish Airlines oder Pegasus Airlines) und dauern je nach Variante zwischen sechs und acht Stunden reine Flugzeit. Von Bischkek nach Kyzart, dem Trekking-Zentrum nördlich des Songköl-Sees, sind es zirka vier Stunden mit dem Auto.

Trekking-Touren

Zum Songköl-See

Der Songköl liegt auf knapp 3.000 Meter Seehöhe inmitten der kirgisischen Hochebene und ist im Sommer eines der Zentren der kirgisischen Nomaden, die hier ihre Pferde und Schafe weiden lassen. Ausgangspunkt vieler Touren ist der Kyzart-Pass. Von dort geht es über drei Pässe und rund 2.500 Höhenmeter in zwei Tagen zum See.

  • Ausgangspunkt: Kyzart-Pass
  • Strecke: 35 km Dauer: 2 Tage

Von Karakol zum Alaköl-See

Die Tour zum Alaköl ist trekkingtechnisch etwas anspruchsvoller. Sie zieht sich in mehreren Tagen vom Provinzstädtchen Karakol nach Südosten zum höchsten See der Region. Es geht dabei über Pässe, die bis auf fast 4.000 Meter hinaufführen; der See selbst liegt auf gut 3.500 Metern.

  • Ausgangspunkt: Karakol
  • Strecke: ca. 60 km Dauer: 3–4 Tage

Vom Tschong-Kemin-Tal zum Kol-Kogur-See

Im Nordosten des Landes liegt der Yssykköl-See. Er ist der zweitgrößte Gebirgssee der Erde. Zu Sowjetzeiten hat die UdSSR hier U-Boote getestet, heute urlauben im Sommer vor allem Russen und Kasachen hier. Einige Kilometer nördlich des Sees führt eine beliebte Tageswanderung vom Tschong-Kemin-Tal über den Toru-Aigyr-Pass zum Kol-Kogur-See.

  • Ausgangspunkt: Tschong-Kemin
  • Strecke 20 km Dauer: 6 Stunden

Informieren

Lesen

Es gibt nur wenige Reiseführer. „Kirgistan“ von Dagmar Schreiber und Thomas Flechtner ist ein empfehlenswerter. Dagmar Schreiber, Thomas Flechtner: „Kirgistan. Zu den Gipfeln von Tien Schan und Pamir“, Verlag Trescher, EUR 18,95.

Buchen

Einer der erfahrensten Veranstalter, die Touren durch Kirgistan anbieten, ist „Weltweitwandern“: www.weltweitwandern.com

Der besondere Tipp

Mit 870.000 Einwohnern ist Bischkek die mit Abstand größte Stadt des Landes und die politische, kulturelle und wirtschaftliche Hauptstadt. Jeder sechste Kirgise lebt hier. Bischkek ist Sitz mehrerer Universitäten. Es liegt direkt am Fuß des bis auf 5.000 Meter aufragenden Kirgisischen Gebirges, die Stadt selbst befindet sich aber in der Kasachischen Steppe. In der Sowjetzeit wurden hier viele Industriebetriebe angesiedelt. Bischkek ist durch seine Geschichte als Handelsstadt – es war Zwischenstation auf der alten Seidenstraße – ein Schmelztiegel der Kulturen, neben einer größeren westlichen Community, Russen und Kasachen leben in Bischkek auch viele Chinesen. Das sorgt für eine interessante kulturelle Mischung.