Kitzbühel abseits des Trubels
Foto: Jozef Kubica
Feines Quellwasser statt edlem Schampus: Wer den Trubel der Hahnenkamm-Stadt hinter sich lässt, kann eine wenig bekannte, aber umso reizvollere Seite der Region Kitzbühel entdecken.
Tobias Micke für das Bergwelten-Magazin Winter 2015/16
Mitten in Kitzbühel – vermutlich irgendwo unter dem Golfclub auf der Achse zwischen Rosis Sonnbergstuben und der Tenne – liegt ein großer Magnet vergraben. Besonders im Winter hat er eine unheimliche Wirkung auf die kleine Stadt mit ihren Hotelbars und Après-Ski-Zelten, den Hahnenkamm samt Streif und Mausefalle, das Kitzbüheler Horn ebenso wie die Fleckalm, die 209 präparierten Pistenkilometer, die elf Seilbahnen, 28 Sessellifte und sieben Schlepplifte.
Seine Kraft wirkt aber nicht auf die meisten Menschen, die dort leben, nicht auf die stillen Seitentäler rund um den brummenden Skizirkus und auch nicht auf die kleinen Ausflugsziele, von denen sich manche im Winter besonders lohnen, weil man zu dieser Jahreszeit dort fast allein ist.
Wem es gelingt, bei einer Reise nach Kitzbühel dem Magneten zu widerstehen, der kann die Region auf eine Art erleben, wie sie nur Einheimische, Insider und resistente Stammgäste kennen. Lena lächelt.
Die 22-jährige Anglistik-Studentin aus Söll hat an sich schon ein sonniges Gemüt, aber an diesem freien Vormittag, den sie mit ihrem Kumpel Fabian am Sonnberg nördlich von Kirchberg verbringt, lächelt sie in einem fort. Die beiden haben sich unten im Ort zum ersten Mal „Fatbikes“ ausgeliehen, pflügen damit durch den frisch gefallenen Glitzerschnee der letzten Nacht, und das macht richtig Spaß.
Ein Fatbike, das muss man sich so vorstellen wie ein Mountainbike, bei dem die Reifen einer großzügigen Botox-Behandlung unterzogen wurden: genoppte Gummiwülste, die viel zu dick wirken, um wahr zu sein. Klar, dass sich vorhin beim Ausborgen unten im Skiverleih Sport Rudi manch ein Urlauber die verkaterten Äuglein gerieben hat.
Fette Reifen im Tiefschnee
Lena Koller und Fabian Berger sind ein eingespieltes Freizeitgespann. Sie verdient sich als MountainbikeInstruktorin im Sommer in Kirchberg ein Zubrot bei den Jugendcamps der Bike Academy, indem sie den Kids auf den Trails der Region die richtige Technik beibringt, und will Sportjournalistin werden.
Er, technischer Zeichner aus der Wildschönau, träumt davon, nach der Ausbildung zum MTB-Guide sechs Monate auf ein Kreuzfahrtschiff zu gehen und auf dem Landgang sportliche Gäste bei Radausflügen zu betreuen.
Für den ersten winterlichen Fatbike-Ausflug der beiden ist das Gebiet um den Ruetzenhof der ideale Startpunkt. Denn zum einen kann man in der urigen Stube von Sonja und Thomas Horngacher nach dem Sport hervorragend am uralten Kachelofen jausnen.
Und zum anderen – ein echter Geheimtipp, sagt Wirtin Sonja – lässt der Tourismusverband den Wanderweg hinauf zum Rauhen Kopf nach kräftigem Schneefall immer mit einer kleinen Schneefräse räumen. Das bedeutet 2,5 Stunden Winterwandern oder eben eine gute Stunde mit dem Fatbike, bis man vom Aussichtsbankl den Panoramablick nach Norden auf Elmau und das winterweiße Kaisergebirge genießen kann.
Zurück am Ruetzenhof fassen Lena und Fabian zusammen: So ein Fatbike ist mit der großen Reifenauflage bergauf auf hart gepresstem Schnee voll in seinem Element. Die dicken Reifen sinken nicht so leicht ein und rutschen beim Bremsen nicht so schnell seitlich weg.
Dafür muss man wegen des höheren Rollwiderstands fester treten. Ein gutes Training. Auf jeden Fall aber ein Riesenspaß: bergab (und nur bergab!) durch den Tiefschnee zu pflügen.
Am Ruetzenhof hat sich mittlerweile ein anderer Fatbiker eingefunden und lässt sich als Stammgast eine Portion selbst gemachter Buchteln mit Vanillesauce auf der Zunge zergehen, die man als Tagestourist vergeblich auf der Karte sucht: Sepp Berger aus St. Johann vertritt zwei amerikanische Fatbike-Schmieden und ist dementsprechend nicht nur gut informiert, sondern auch top ausgerüstet.
Sogar eigene Fatbike-Stiefel hat er an. Der Trend komme wie so vieles aus Amerika, erklärt er. Dort haben die Bike-Tüftler nach Möglichkeiten gesucht, auch im Hochwinter mit dem Rad gut und stilvoll unterwegs zu sein. Zum Skifahren in den Nachbarort, zum Eisfischen auf den See und so.
Neben seiner sportlichen Ader hat Sepp noch eine exzentrische, die er uns abends bei einem Glas Wein zeigen will. Der 55-Jährige konnte schon in der Schule gut zeichnen, war in der Werbebranche als Grafiker tätig und beschloss irgendwann, aus dem eintönigen Job lieber eine brotlose Kunst zu machen.
Der Mann mit Künstlernamen „Stamp“ malt vorwiegend in Acryl und mit Fettstift. Und weil das alles mit seiner beruflichen Vorgeschichte viel zu glatt ginge, tut er das gern mit der linken Hand oder ohne Pinsel oder, wenn all das auch schon zu leicht geht, blind, mit einer geschwärzten Sportbrille: „So sind die Ergebnisse einfach viel interessanter…“
Ob er die Berge zum Malen braucht? „Ich würde mich wahnsinnig gern mal mit einer großen Leinwand vor meinen Hausberg, den Wilden Kaiser, setzen und schauen, was passiert. Ansonsten brauch ich zum Malen eher die Stadt. Wien zum Beispiel hat mit dem Wienerwald ja wirklich bärige Fatbike-Trails, man muss nur schauen, dass man als Tiroler dann auch wieder heimfindet.“
Der Weg bis zur Labalm ist gespurt
Mit dem Heimfinden schwer tun sich die Tiroler Unterländer aber auch schon, wenn sie in der Kirchberger Seefeldstubn zu Gast sind und die hervorragende Küche des „Kochart“-Betriebes (siehe Seite 44) zum Sitzenbleiben verleitet.
„Wenn wir nicht selber in der Küche eingespannt sind“, sagt Ruetzenhof-Wirtin Sonja Horngacher, „dann gehen wir gern amal nach Kirchberg zu Hanni und Harald Klingsbigl in die Seefeldstubn essen. Besonders wenn Fischwochen sind.“
Jetzt im Winter kann man dort zum Beispiel Bergkäse-Mousse mit hausgemachtem Karreespeck als Vorspeise kosten und danach beim getrüffelten Rucola-Rostbraten oder den Knödelvariationen zugreifen. Es sind unter anderem diese Knödel, wegen denen hungrige Gäste Hanni und Harald im Sommer hinten im Spertental auf der Labalm besuchen.
Dort gibt’s dann mit herrlichem Blick auf den Großen Rettenstein auch Hannis berühmte Rote-Rüben-Knödel, die sie in einem alten Kochbuch gefunden und zur Hausspezialität verfeinert hat. In der kalten Jahreszeit ist die Labalm ein stiller Platz, wo man Reh und Gams im tiefen Schnee beim Gutenachtbussi zusehen kann.
Gemütliche eineinhalb Stunden geht man auf Skiern oder Schneeschuhen vom Dörfchen Aschau entlang der Grundache hinein bis zum Unteren Grund. Alle zwei Wochen fährt Hannis Bruder Ewald Haller, dem die Alm eigentlich gehört, mit einem Raupen-Quad hinein ins Spertental.
Nachschauen, ob das raue Wetter nicht eine Kaminabdeckung mitgenommen hat und die Wasserzufuhr für die Forellen im Fischteich eh noch sprudelt. Das Gute daran für die Gäste: Dann ist der Weg bis zur Alm schön gespurt, und die Tourengeher können sich ihre Kräfte für eine Variante ins Schöntal zu den Spießnägeln oder auf der anderen Seite hinauf zum Gerstinger Joch aufsparen.
Eingangs des Spertentals liegt einen Katzensprung von der Seefeldstubn entfernt der Gaisberg mit dem angrenzenden Alpin-Skigebiet und einer Rodelstrecke, die nicht nur Kindern leuchtende Augen bereitet. Dort, direkt neben dem Gasthaus Obergaisberg, befindet sich ein Eisturm.
An ihm üben bei Temperaturen unter null Grad nicht nur erfahrene Eiskletterer. Auch Anfänger können unter Anleitung erste Versuche mit Pickel und Steigeisen machen. Bergführer Ernst Schranzhofer aus Kirchberg bietet solche Kurse an.
An diesem Abend lässt er zehn übermütige Kinder aus der Volksschule Kirchberg ein bisschen am Eis schnuppern: ein Unterfangen, bei dem Übersicht gefragt ist, denn der Umgang mit den scharfen Krallen verlangt Disziplin.
Aber am Ende einer guten Stunde ist Eisklettern ganz eindeutig „megageil“, „urcool“ (…hihi, Eis ist natürlich cool…) und „hammer“. Und jeder will sich mit dem Pickel ein Stück vom Eisturm als Souvenir für die Eistruhe daheim rausbrechen, um damit im Sommer den Hollersaft zu kühlen.
Axel und David und die Lust auf Gefrorenes
Ob bei Axel und David wohl die Lust auf Gefrorenes ähnlich begonnen hat? Anderntags dürfen wir die beiden Freunde bei einer kleinen Wasserfall-Erstbegehung auf der südlichen Seite von Kitzbühel in den Aurachgraben begleiten.
Axel Naglich, 47, ist Architekt in Kitzbühel, Extremskifahrer und Alpinabenteurer (mittlerweile aber auch liebevoller Papa zweier kleiner Buben). David Kreiner, 34, feierte unter anderem 2011 einen Weltcupsieg (Einzel) und holte 2010 Olympia-Gold (Mannschaft) in der Nordischen Kombination.
Zusammengefunden haben die beiden für ihre Freizeitgestaltung wegen ihrer ähnlichen Vorliebe für Extremes und Kräftezehrendes, aber auch „weil’s irgendwie menschlich einigermaßen passt“, sagt Axel augenzwinkernd.
Eine gemütliche Tourenski-Stunde später haben wir vom Parkplatz Wildpark aus entlang des Wildalmbachs einen Kessel am Talschluss unterhalb des Saalkogels erreicht, von dessen Gipfel aus man auf der Rückseite ins Glemmtal mit dem Skigebiet Saalbach-Hinterglemm hineinschauen würde.
David, der gerade für die Ausbildung zum Bergführer lernt („Es is nimmer weit. Das Wetter wird morgen schön. Nein, ich hab keine feste Freundin“) hilft uns ein wenig beim Orientieren: „Also, von rechts nach links: Hahnenkampl – Rauber –Saalkogel – Staffkogel – Sonnspitze – Bischof – Gebra.“ Axel ergänzt: „Wemma gut drauf sind, dann laufen wir das in einem Tag, natürlich samt Abfahrten dazwischen.
Übrigens, dort drüben unterm Bischof ist die Alm, wo Ex-Kicker Wolfgang Feiersinger – weißt eh, Meister mit Austria Salzburg und Champions-League-Sieger mit Borussia Dortmund – mit seiner Karin ausschenkt. Da solltets an einem Freitagabend amal vorbeischauen.“ Im Winter? Eineinhalb Stunden von der nächsten Straße entfernt? Interessant.
Eine Steilrinne und ein Hauch von türkis
Und wo ist jetzt euer Wasserfall? Axel deutet an der Flanke des Saalkogels aufs obere Ende einer bedenklich aussehenden Steilrinne, wo mit viel Fantasie ein Hauch von Türkis auszumachen ist: „Da gemma jetzt hin, da ist bestimmt noch niemand geklettert.“
58 – gefühlte 158 – Spitzkehren später wissen wir, warum hier wirklich noch keiner eine Schraube ins Eis gedreht haben dürfte: Erstens ist es mit etwa 15 Meter Höhe doch eher ein bescheidenes Wasserfällchen. Zweitens ist es richtig mühsam, dorthin zu kommen.
Dafür ist Axel wild entschlossen („Also, wenn ich hier schon raufgeh…“), die Eisqualität des Mini-Falls ist hervorragend, und der kleine Ausflug macht mit zwei solchen Haudegen richtig Spaß.
Beim Aufwickeln des Sicherungsseils meint Axel mit Blick auf unsere Aufstiegsspur: „So, und wenn die Trotteln da nicht raufgegangen wären, dann könnt ma da jetzt super durch den Unverspurten runterfahren…“ Selbstredend, dass die beiden auch beim Schwingen in einem von herabgefallenen Eisbrocken durchsetzten Steilhang gute Figur machen.
Kicker und Stewardess auf der Alm
Nach Axels Wink mit dem Skistock scheint ein Besuch bei Wolfgang Feiersinger und Karin Rass auf der Hochwildalm ein guter Abschluss unseres kitzbühelfreien Ausflugs in die Kitzbüheler Alpen zu sein. Zumal die Vorgeschichte neugierig macht: Teilzeit-Flugbegleiterin Karin und Ex-Kicker Wolfgang wohnen in St. Johann und gehen beide gern Ski- und Bergtouren.
Bei einem dieser Ausflüge kam die Idee, selbst eine Alm zu pachten und im Sommer zu bewirtschaften. Nicht Kühe melken und Vieh hüten, das passiert auf den Nachbaralmen, aber Gäste bewirten, Kochen und das aufs Wesentliche konzentrierte Leben am Berg genießen.
Das machen die beiden jetzt seit sechs Jahren jeden Sommer. Vor drei Jahren kam noch die Idee hinzu, den Einheimischen im Winter nach Feierabend ein Hüttenziel für eine kurze Skitour anzubieten. Seitdem geht’s also auch im Winter jeden Freitag mit einem Motorschlitten voll Lebensmitteln über den oft tief verschneiten Steig nach oben.
Karin und Wolfgang kochen dann gemeinsam ein einfaches Hüttengericht, so viel die Einkäufe hergeben. Und wenn die Töpfe leer sind, dann gibt’s halt nix mehr. Also flott auf die Ski, der untergehenden Sonne hinterher. Gerade als die letzten Sonnenstrahlen das Gipfelkreuz des Bischof ein letztes Mal zum Gleißen bringen, ist die Hochwildalm erreicht.
Wolfgang steht vor der Küchentür, fischt ein paar kalte Biere für seine Gäste aus dem Brunntrog und erfreut sich am Bergpanorama, wie wenn er’s zum ersten Mal sehen würde. „Kommts eina da. Heut wird’s ein ruhiger Abend, da kömma gut plaudern.“
Für Freunde ist in der Kuchl immer Platz
In der Gaststube prasselt zwar ein Feuer, es wird aber heute nur zum Gewandtrocknen gebraucht. Für Freunde ist immer Platz in der gemütlichen Kuchl. Da drängen sich zu später Stunde fünfzehn Leut und haben eine Mordsgaudi: „Wie sagt man, wenn ana spätabends aussi vor die Hütte geht? – Dicht ins Dunkel…“
„Ich könnt’s mir leichter machen und irgendwo als Trainer gutes Geld verdienen“, sinniert Wolfgang, während er das Sauerkraut überm Feuer wendet, „aber Fußball interessiert mich nimmer. Und auch wenn’s mir buchstäblich zu Füßen liegt, um das Party-Kitzbühel mach ich einen großen Bogen.
Dann schon lieber authentische Menschen wie die Almbauern, die im Sommer meine Nachbarn sind.“ Wer zum ersten Mal hier oben ist, tut gut daran, vor der Abfahrt auf den Mond zu warten und fürs letzte Waldstück eine Stirnlampe zu haben.
„Runtergekommen sind sie noch alle“, hat Karin, die erfahrene Flugbegleiterin, vorm Abschied augenzwinkernd gemeint. – In der Ferne, zwischen den Fichtenwipfeln, glitzern schon die Lichter von Kitzbühel. Und man spürt nach so viel Einschicht schon wieder ein wenig die Anziehungskraft des großen Magneten unterm Golfplatz.
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