Schneeschuhtour über den Dachstein
In drei Tagen auf Schneeschuhen über den Dachstein: Eine gute Kondition braucht man schon, sonst aber muss man nur noch anschnallen und losstapfen.
Christian Geyer für das Bergweltenmagazin Februar/März 2020
„Die Krallen halten euch!“, versichert Heli Rettensteiner. Nur ja kein Hasenfuß sein und sich zu weit nach hinten setzen. Ein bisschen gebückt sollen wir uns halten, wenn wir bergab gehen. „Fast wie eine Hex’“, rät Heli. Der gebürtige Ramsauer arbeitet seit seinem 19. Lebensjahr als Bergführer; dass er gut die Hälfte des Jahres am Dachstein verbringt, sieht man ihm an: Sein Gesicht glänzt braun wie eine frische Kastanie.
Der Dachstein ist sein Hausberg. Und obwohl Heli nach eigenen Angaben so gut wie jeden Stein hier kennt, scheint er immer noch fasziniert von der Gegend. „Pfoa, wau, is das schön!“, hören wir ihn auf unserer Tour immer wieder raunen. Unser Plan? Die Überschreitung des Dachsteinmassivs: In drei Tagen wollen wir aus der Ramsau in der Steiermark bis hinüber nach Obertraun in Oberösterreich gehen.
Auf Schneeschuhen. Und weil Schneeschuhe anders als Ski keine Kanten haben, wird die Spur im steileren Gelände nicht in Serpentinen angelegt – das geht nur auf die Sprunggelenke. Man wählt den direkten Anstieg, soll heißen: „Man geht gerade nach oben und gerade nach unten.
“Wer genussvoll Schneeschuhtouren gehen will, meidet steiles Gelände. Wir verstehen, warum, als wir die Krallen der Schuhe in Hexenhaltung extra kraftvoll in den Schnee drücken. Zum Glück hat das Schneeschuhgehen aber auch bestechende Vorteile. Der wohl gewichtigste: Man muss nicht Ski fahren können, um sich das Terrain der Tourengeher zu erschließen. Auf Schneeschuhen bewegt man sich gleichermaßen in freiem Gelände, ist dabei aber weniger abhängig von gutem Schnee.
Ob im Pulver oder im Harsch, Schneeschuhwandern kann man bei nahezu jeder Schneeart. Das Eigengewicht wird auf eine größere Fläche verteilt, sodass man selbst bei viel Neuschnee über den Schnee gehen kann, ohne einzusinken. Es bedarf nur einiger Meter im Watschelmodus, um ein Gespür für die „Flossen“ an den Füßen zu entwickeln. Dann schlapft man dahin, ohne weiter darüber nachzudenken.
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Zwischen Rummel und Ruhe
Unser Ausgangspunkt liegt beim Gasthof Edelbrunn, unter uns die Ramsau. Man wähnt sich etwas uncool in den Schneeschuhen, als die Ersten auf Tourenski vorbeiziehen. Dabei, lässt Heli wissen, „hat’s Schneeschuhe vor den Skiern gegeben“. 2003 hat das Gurgler Eisjoch in Südtirol einen Schneeschuh ausgespuckt, der Untersuchungen zufolge älter sein soll als Ötzi, nämlich rund 5.700 Jahre. Unsere Modelle sind glücklicherweise moderne Exemplare.
Und der Dachstein ist ihr ideales Terrain. Am Hochplateau warten eine schier unendliche Weite, kupiertes Gelände und Schneesicherheit, dem Gletscher sei Dank. Die Hochebene macht das Gelände zudem sicher, sagt Heli. Er kennt Touren, die man selbst bei Lawinenwarnstufe 5 noch begehen kann. Noch sind wir aber im Ramsauer Almgebiet unterwegs, gerade haben wir den 1.725 Meter hohen Brandriedel erreicht, einen fantastischen Aussichtsberg mit Blick auf die imposanten Südwände des Hohen Dachsteins.
Der Schriftsteller Peter Rosegger hat ihn einst zum „Betschemel vor dem Altar Dachstein“ erklärt. Nicht nur den Dachstein sehen wir von hier aus, auch die Brandalm, zu der wir absteigen. „Wer hat Bauernkrapfen bestellt?“, ruft Fritz Schrempf, der „Brand-Fritz“, mit süß beladenen Tellern in der Hand über die Sonnenterrasse. Seit den frühen 1980er-Jahren bewirtschaftet er die Alm, mittlerweile gemeinsam mit seinem „Buam“, Sohn Philipp.
Für uns aber geht es weiter, tausend Höhenmeter trennen uns noch vom Hochplateau und unserem Tagesziel, der Neuen Seethalerhütte. Die Dachstein-Südwandbahn bringt uns auf den Hunerkogel, wenig später erreichen wir die höchstgelegene Schutzhütte Oberösterreichs. Sie schmiegt sich auf 2.740 Metern an die Felswände des Hohen Dachsteins, der mit seinen 2.995 Metern der höchste Gipfel sowohl Oberösterreichs als auch der Steiermark ist.
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Über ihn verläuft die Ländergrenze – und „er is scho auch a bissl mei Berg“, findet Hüttenwirt Wilfried „Wiff“ Schrempf. Bereits als Kind war er „heroben“, hat Höhlen erkundet und Abenteuer erlebt. Seine Eltern haben die Alte Seethalerhütte bewirtschaftet, eine „Brettlbude“, wie Wiff sie nennt. Im Jahr 2001 hat er sie übernommen, bis nichts mehr ging. Die Hütte ist „davongefault“, und so veranlasste der Alpenverein einen Ersatzbau. Eine futuristisch anmutende Hütte ist entstanden, umweltfreundlich und autark.
Und sie markiert so etwas wie einen Grenzübergang. Das Dachsteinmassiv hat nämlich zwei Gesichter: hier Skigebiet und Pulk, dort Gletscher und Einsamkeit. „Man braucht nur ein paar Schritt’ weggehen von der Seethalerhütte, dann ist’s ruhig“, sagt Heli – wir können uns davon am zweiten Tag überzeugen.
Über den Gletschern schlapfen
Von der Neuen Seethalerhütte geht es weiter in Richtung Norden, und erstmals bekommen wir eine Ahnung von der Weitläufigkeit des Dachsteinplateaus. Wir queren den Hallstätter Gletscher, rechts ragt der Hohe Gjaidstein (2.794 m) auf. Heli rät zu einem kurzen Abstecher hinauf in die Simonyscharte, „einen der genialsten Aussichtsplätze“, wie er findet.
So genial, dass ihm wieder ein „Pfoa, wau, is das schön!“ entfleucht, als er auf das weite Weiß unter uns blickt. Der Dachsteingletscher ist dreigeteilt: Er verteilt sich auf den Schladminger Gletscher, wo es in Helis Worten „die Skilifte gibt“, den Hallstätter Gletscher, den größten am Dachstein, und schließlich den Gosaugletscher. Er liegt uns an der Simonyscharte zu Füßen – und ist so verlassen, so ruhig, dass Heli dort nie auch nur einen einzigen Skitourengeher gesehen haben will.
Und Heli hat immer recht, auch mit dem genialen Aussichtsplatz. Wir sehen vom Gosaukamm mit der Bischofsmütze über Tennengebirge und Steinernes Meer hinein nach Salzburg und bis zum Watzmann in die Berchtesgadener Alpen.
Aber wir müssen weiterschlapfen: Tausend Höhenmeter Abstieg und knappe zehn Kilometer Strecke gilt es am zweiten Tourentag zu bewältigen. Viel Abstieg heißt: viel Hexenhaltung. Auf halbem Weg passieren wir die Simonyhütte, nun sind es keine zwei Stunden mehr bis zu unserem zweiten Etappenziel, dem Wiesberghaus auf 1.884 Metern.
Hüttenwirtin Renate Kritzinger ist selbst Schneeschuhwanderin, ihr gefällt das „ruhige, rhythmische Gehen“ im unberührten Schnee – und der ist hier reichlich vorhanden. Die gebürtige Lenzingerin schätzt Ruhe, und die hat man da, selbst als Hüttenwirtin: „Die Massen aus dem Skigebiet verirren sich absolut nicht zu uns“, sagt sie, „weil wir etwas abseits liegen.
“Renate hat das Wiesberghaus 2015 als blutige Gastronomie-Anfängerin übernommen. Zweifel hatte sie, aber ihr Mann kaufte ihr umgehend Ski-Doo und Schneefräse – und so hatte sie dann eigentlich keine Wahl mehr. Zum Glück! Allein um die Hüttenkost wäre es jammerschade. Im Winter kocht Renate selbst, immer frisch. Sogar die Germknödel werden hier selbst gemacht, und das sieht (und schmeckt) man: „Die sind nicht so wohlgeformt und auch größer als die gekauften, die sind ein ziemlicher Renner bei uns geworden.“
Zirbenkompass und Hasenfuß
Am letzten Tag schwenken wir von unserem Kurs nach Norden ab und halten nun auf den Hohen Krippenstein (2.108 m) im Osten zu. Das hügelige Gelände ist prädestiniert fürs Schneeschuhgehen, und Heli muss wieder ein paar Mal „Pfoa, wau, is das schön!“ sagen. Wie gewaltig das Plateau ist, wird uns bewusst, als Heli – immerhin seit 25 Jahren hier oben unterwegs – plötzlich sagt: „Ah, schau: Das Platzerl da kenn ich auch noch nicht.“
Aber es ist auch Vorsicht geboten, denn „wenn’s am Dachstein einen Nebel hat, ist man sofort verloren“. Selbst erfahrene Bergführer verlieren hier oben bei schlechter Sicht die Orientierung. Aber sie sind auch findig, und so erzählt Heli von Orientierungsmaßnahmen aus dem Prä-GPS-Zeitalter. Wir haben soeben die Bärengasse durchschritten, einen landschaftlich eindrucksvollen Kessel, und befinden uns am Zirbenwald, unweit der Gjaidalm.
Die Zirbenbäume dienen den Bergführern als Kompass, erzählt Heli: „Auf der Westseite haben die Bäume keine Äste, weil der Wind sie wegbricht. In Richtung Osten wachsen die Äste hingegen schön raus.“ Am Dachsteinplateau ist der Astwuchs wegweisende Orientierungshilfe. Wir brauchen sie glücklicherweise nicht.
Bei strahlendem Wetter erreichen wir die Krippensteinbahn, und mit ihr geht es talwärts, hinunter bis nach Obertraun. Heli hat zur Verabschiedung noch ein Ass im Ärmel. Er will uns einen natürlichen Schneeschuh zeigen. Und deutet auf breite Pfotenabdrücke, die sich uns zu Füßen im Schnee abzeichnen. Sie gehören dem Schneehasen: „Der läuft über den Schnee einfach drüber. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Leute das früher ganz genau beobachtet haben, und könnte mir vorstellen, dass die Entwicklung des Schneeschuhs auf den Hasen mit seinen großen Pfoten zurückgeht.“
Und dann lacht Heli schelmisch. Aber wer weiß? Vielleicht ist ja der Südtiroler Schneeschuh aus der späten Jungsteinzeit tatsächlich dem Hasenfuß nachempfunden. Wir jedenfalls sind mittlerweile erprobt, im Schneeschuhgehen und in der Hexenhaltung – und damit offiziell keine Hasenfüße mehr.