Wandern durch das Bersntol in Norditalien
Über Jahrhunderte haben hier die Berge eine Sprache bewahrt, die nur noch in drei Dörfern gesprochen wird: eine Wanderung durch das Bersntol im Norden Italiens.
Maria Simperler für das Bergwelten Magazin Februar 2018.
Das ist nicht der Weg. Sara Toller, 24 Jahre alt, blonde Haare, türkiser Rucksack, stützt sich bedächtig an einem Stein ab und blickt fragend zu Simone Maistri, 31Jahre alt, silberner Ring im linken Ohr, blauer Sweater. Simone zuckt mit den Schultern und sagt: „Gehen wir trotzdem hier runter.“
Dabei hat er noch vor wenigen Minuten die Wanderkarte aus dem Rucksack gezogen, auf die rot gestrichelte Linie gezeigt und alle paar Meter auf die rot-weißen Markierungen auf den Felsen gedeutet. Doch irgendwo müssen wir den Weg verloren haben, und das hilft jetzt auch nichts, wir wollen hinunter vom Berg, denn die Wolken am Gipfel verheißen Regen.
Eine halbe Stunde später, in der Hütte, wird Sara ihr Handy aus der Tasche ziehen, ein Foto von unserer abenteuerlichen Route durch die Felsrinne ansehen und lachen: „Wahnsinn, da sind wir runter!“ Wir sind unterwegs auf der Cima d’Ezze, einem 2.270 Meter hohen Berg in der Valsugana, einer Region im norditalienischen Trentino, etwa 40 Kilometer nordöstlich vom Gardasee.
Die breiten Haupttäler hier sind geprägt von Weinbau und Apfelplantagen, die Berge ragen zum Teil abrupt aus der Ebene, präsentieren sich dem oben Angekommenen aber nicht selten als sanfte Hochebenen. Anders als in den Dolomiten im Norden kann man hier auch einmal vollkommen allein unterwegs sein. Wobei die einsame Wanderung und der angeblich spektakuläre Gipfelblick von der Cima d’Ezze bis zur Marmolada, der uns verwehrt blieb, gar nicht das Spannendste an diesem Talschluss sind.
Das Spannendste sind die Wörter, die Sara aus dem Mund purzeln, wenn sie sich nicht gerade mit uns unterhält. Wenn sie spricht, klingt es wie eine Mischung aus Deutsch und Italienisch, aber selbst wer beide Sprachen beherrscht, wird noch immer nicht schlau aus dem, was sie sagt, denn Sara ist eine von nur mehr etwa tausend Menschen hier, die Fersentalerisch sprechen. Das klingt in den Nebelschwaden etwa so: „S bètter hait ist nèt zan pestn.“ (Das Wetter ist heute nicht so gut.)
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Eine Insel in den Bergen
Das Fersental liegt eine halbe Stunde östlich von Trient, der Hauptstadt der Provinz Trentino; die Italiener nennen es Valle dei Mòcheni, die Bewohner selbst sagen Bersntol dazu. Vor mehr als tausend Jahren kamen Einwanderer aus dem heutigen Bayern in die Gegend und ließen sich in den Bergtälern nieder.
Dass die fersentalerische Sprache über die Jahrhunderte nicht verloren ging, ist nicht zuletzt der Natur geschuldet. Die oft lange schneebedeckten Bergpässe, die schwer zugänglichen Talschlüsse, aber auch die Tatsache, dass in manche Gemeinden bis in die 1960er-Jahre keine asphaltierte Straße führte, halfen dabei, diese altbairische Sprachform zu konservieren.
Heute ist das die Aufgabe engagierter Menschen, denn nur in drei Dörfern hört man die Sprache noch auf den Straßen: in Palai und auf der anderen Seite des Tals, in Florutz und Gereut. Bloß etwa tausend Menschen leben hier zusammengenommen. Und es werden immer weniger.
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„Jetzt ist die Wirtin vom Gasthof schwanger“, erzählt Sara. „Wir haben Angst, dass sie weggeht. Wo sollen wir dann Feste feiern?“ Für junge Menschen gibt es in den Bergdörfern wenig Arbeit, Sara selbst arbeitet beim lokalen Tourismusverband, aber bald fängt sie außerhalb des Fersentals in Trient bei der Gemeinde an. „Papierarbeit“, sagt sie.
Um die Sprache zu erhalten, gibt es ein Kulturinstitut, Sara ist bei einem Volkstanz-Verein. Aber es müssten auch Einrichtungen wie das Wirtshaus bestehen bleiben, in dem sich die Dorfbewohner treffen können. Andere Herausforderungen sorgen für amüsantere Geschichten, etwa die Frage, wie man in einer Sprache, die im Grunde tausend Jahre alt ist, über Themen des 21.Jahrhunderts reden soll. Und da geht es noch nicht einmal um Computer.
„Es gibt im Fersentalerischen kein Wort für Turnhalle“, sagt Simone, „also muss man sich überlegen, wie sich die Sprache weiterentwickeln kann. Lehnt man sich eher ans Deutsche an oder ans Italienische?“ Schon zwischen den wenige Kilometer entfernten Fersentaler Dörfern gibt es Unterschiede: Florutz am Taleingang ist eher italienisch geprägt, in Palai orientiert man sich am Deutschen.
Um die Turnhalle zu benennen, einigte man sich übrigens auf „meivernse kòmmer“, übersetzt heißt das „eine Kammer, um sich zu bewegen“. Uns reicht die Bewegung nach diesem aufregenden Abstieg jetzt erst einmal, und zum Glück ist das Rifugio Sette Selle nicht mehr weit. Die kleine Hütte mit den blauen Fensterläden riecht man beim Abstieg, bevor man sie sieht, dank des Holzofens, auf dem Hüttenwirt Lorenzo Ognibeni dampfende Polenta rührt.
An den holzgetäfelten Wänden der winzigen Stube hängen gerahmte Fotos von Gämsen, Schneehühnern, Füchsen und Auerhähnen. Lorenzo hat die Aufnahmen selbst geschossen, seine Kamera mit dem großen Objektiv liegt griffbereit auf dem Tisch. „Die meisten Bilder sind in der Nähe der Hütte entstanden“, erzählt Lorenzo, denn hier habe er viel Zeit: „Seit neun Jahren sind wir hier, 240 Tage im Jahr.
Nur im November sind wir auf den Kanaren, da brauchen wir es ein bisschen wärmer.“ Seine Lebensgefährtin Lisa lacht und fügt hinzu: „Wenn wir auf La Gomera sind, hat es am Meer 28 Grad und hier am Berg 6 Grad. Nach vier Stunden am Meer will Lorenzo garantiert wieder in die Berge.“
Von Bären und Wölfen
Neben Lorenzo und Lisa wohnt nahe dem Rifugio auch eine Fuchsfamilie, deren Mitglieder man im selbst gestalteten Bildband bewundern kann, den Lorenzo zur Begrüßung auf die gänseblümchenverzierte Tischdecke gelegt hat. „Die kommen jeden Abend, und wir füttern sie ein wenig“, sagt Lorenzo.
Das Gespräch kommt aber schnell auf andere Wildtiere, die das gesamte Trentino vor allem in den letzten Jahren beschäftigen. In Norditalien wurden im Rahmen des Projekts „Life Ursus“ um die Jahrtausendwende zehn Bären im nahe gelegenen Naturpark Adamello-Brenta angesiedelt. Mittlerweile streifen rund sechzig Braunbären durch die italienischen Berge, manche davon wandern bis nach nach Österreich oder bis in den Kanton Graubünden im Osten der Schweiz.
„Angeblich wurden jetzt auch Wölfe in der Gegend gesichtet“, sagt Lorenzo. Ob das nun gut oder schlecht ist, darüber wird heftig diskutiert zwischen Umweltschützern, die die Wiederansiedlung begrüßen, und manchen aus der Bevölkerung, die sich vor den Wildtieren fürchten. Im Fersental brauche man keine Angst zu haben, meint Lorenzo, denn aufgrund der natürlichen Grenze durch den Fluss Etsch würden die Bären nicht bis in diese Region kommen.
„Der einzige Bär, den es hier gibt“, lacht der Hüttenwirt und tippt sich auf die Brust, „bin ich!“
Sich klein fühlen – Klettersteig Via Ferrata Burone
Mit einer einzigen kurzen Kletterstelle ist der Klettersteig Burrone eher eine anspruchsvollere Wanderung, dafür aber eine der imposantesten Touren der Region, durch eine Schlucht mit hundert Meter hohen Felswänden. Der Einstiegspunkt ist in den Weinbergen um Mezzocorona, man kann allerdings auch im Ort selbst starten, was sich besonders empfiehlt, wenn man sich den Abstieg ersparen möchte.
Erst geht es seilversichert in Serpentinen nach oben, bis man endlich in die Schlucht einsteigt. Hier wartet eine kurze Schlüsselstelle (B), die dank Stahlstiften aber leicht zu schaffen ist. Nun beginnt der atemberaubende Wanderweg durch die Schlucht, auch an einem hohen Wasserfall vorbei, bis man schlussendlich im Wald aussteigt. Hier kann man bald entweder über eine sehr steile Straße zum Parkplatz zurückgehen oder noch über die Hochfläche wandern und mit der nostalgischen Seilbahn nach Mezzocorona zurückschweben.
Ausgangspunkt: Mezzocorona
Dauer: 2,5–4 h, je nach Weg
Höhendifferenz: ca. 700 m
Die Seen sehen – Auf den Pizzo di Levico
Schon die Anfahrt zum Ausgangspunkt über den Kaiserjägerweg, eine in den Fels gehauene Straße, ist spektakulär, der Ausblick vom Pizzo di Levico (Cima Vézzena) steht dem um nichts nach. Vom Parkplatz auf der Passhöhe geht es erst zur Busa Verle, einer Festungsruine aus der Zeit des Ersten Weltkriegs.
Von hier führt der Weg über Almwiesen, dann in Serpentinen durch den Wald, bis man die felsige Gipfelfläche des Pizzo di Levico erreicht. Auch auf dem Gipfel steht eine historische Festungsanlage, seit kurzem gibt es auch eine Panoramaterrasse – allerdings keine Einkehrmöglichkeit. Hier kann man den Blick auf Caldonazzo- und Levicosee genießen, bevor man entweder auf demselben Weg oder über die alte Militärstraße wieder absteigt.
Ausgangspunkt: Passo di Vézzena
Strecke: 6,5 km
Dauer: 3 h
Höhendifferenz: 500 m
Der Gipfel der Sprachinsel
Auf dem „Nuovo sentiero Delio Pace“, dem neuen Friedensweg, wandert man durch die wenig erschlossene Bergwelt am Ende des Fersentals. Vom Parkplatz Frotten in der Nähe des Schaubergwerks folgt man den Wegweisern bis zum Rifugio Sette Selle. Wer vom ersten Anstieg noch nicht munter genug ist, kann hier mit einer Tasse Espresso nachhelfen.
Von der Hütte geht es in Richtung Talschluss, wo es etwas steiler unter der Cima di Sette Selle zu einer Scharte und von hier aus zur Cima d’Ezze geht. Hie und da muss man die Hände zu Hilfe nehmen. Der Abstieg erfolgt entweder auf demselben Weg oder in einer großen Schleife über den Bergkamm und den Monte Slimber zurück zum Ausgangspunkt.
Ausgangspunkt: Frotten, Fersental
Strecke: 8 km
Dauer: 3,5 h
Höhendifferenz: 780 m