David Lama: Die großen Zahlen
Foto: S.Voitl-Mammut Archiv
von David Lama
Extremes Bergsteigen ist gefährlich: David Lama macht sich über Risiko und Statistik Gedanken und erklärt uns warum es sich lohnt, nach wilden Touren, wie jene auf den Lunag Ri, ruhigere Phasen einzulegen.
Ich hatte mich 2012 nach meiner Rückkehr aus Patagonien, wo mir die freie Begehung des Cerro Torre gelungen war, noch gar nicht wieder in Tirol eingelebt, da zog es Peter Ortner und mich schon weiter nach Slowenien, zur Nordwand der Loska Stena.
Eigentlich hätte ich ein Interview mit dem Journalisten Andreas Kubin gehabt, aber die Wand war zu verlockend, und ich schob das Treffen auf. Andreas, selbst Bergsteiger, konnte das nur zu gut verstehen. Als wir uns danach zusammensetzten, redeten wir auch über meine zwei letzten, nicht ungefährlichen Unternehmungen.
Kubin sagte damals: „Pass ja auf, David, vor dem Gesetz der großen Zahlen!“ Für mich klang das nach Mathematik, und seine theoretischen Ausführungen hatten nicht meine volle Aufmerksamkeit. Die Zusammenhänge erschienen mir etwas abstrakt. Mittlerweile habe ich verstanden, was er meinte: Wer oft würfelt, nähert sich dem Erwartungswert des Würfelns. Oder für uns Extrembergsteiger gesagt: Wer zu oft ans Limit geht, wird es überschreiten, wird „Pech“ haben, weil er sich dem nichtkalkulierbaren Risiko einmal zu oft aussetzt oder einfach einen Fehler macht.
Dass etwas Wahres dran ist, liegt auf der Hand und manifestiert sich in der Statistik: Seit es den Alpinismus gibt, verunglücken Alpinisten in den Bergen. Man kann nicht ignorieren, dass Bergsteigen gefährlich ist – es liegt in der Natur der Sache. Und genauso muss man sich vor Augen halten, dass einen das „Pech“ eher trifft, wenn man öfter im gefährlichen Gelände unterwegs ist.
Letztes Jahr im Herbst versuchte ich den Lunag Ri im Alleingang, nachdem ich im Frühjahr auch schon auf Expedition gewesen war. Obwohl ich den Gipfel nicht erreichte, war das der wohl extremste Grenzgang meines Lebens, eine absolute Ausnahme-Erfahrung. Mir ist klar, dass ich so etwas nicht unendlich oft machen werde.
Heute weiß ich, dass ich bei der Tour am Cerro Torre nicht so am Limit war wie am Lunag Ri, sonst wäre ich damals nicht gleich nach Slowenien, zur nächsten großen Wand, gefahren.
Diesen Winter war es für mich undenkbar, sofort wieder zum nächsten Ziel aufzubrechen. Ich spürte nach der Expedition, dass ich fürs Erste genug hatte und Zeit vergehen musste, bevor ich wieder alles geben konnte. Das zu erkennen lehrt einen die Erfahrung, und ich dachte zurück an mein Gespräch mit Andreas Kubin vor vier Jahren. Wer die Zahl der extremen Ereignisse in kurzer Zeit zu sehr in die Höhe treibt, der erhöht die Chancen, „Pech“ zu haben.
Deshalb bin ich es in letzter Zeit ruhiger angegangen. Ich war weiter bergsteigen, aber ich habe bewusst nicht die höchste Intensität gesucht. Auf die Erfahrungen, die mir nur die Berge bieten, möchte ich – Statistik hin oder her – natürlich auf Dauer nicht verzichten. Denn auch das beschreibt das Gesetz der großen Zahlen: Je länger man lebt, desto eher stirbt man.
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