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Der Tourist im Erlebnis-Burnout

Regionen

5 Min.

23.02.2016

Foto: Lukas Gansterer

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Von der schönen Kulisse zum funktionellen Sportgerät: über die Zukunft der Alpen und was Europa von seinem zentralen Hochgebirge lernen kann. Ein Gespräch mit dem Kulturgeografen und Alpenforscher Werner Bätzing.

Bergwelten: Beginnen wir ganz grundsätzlich: Was sind die Alpen?

Werner Bätzing: Die Alpen sind das einzige Hochgebirge im Zentrum Europas, vergleichbare Ge­birge haben wir nur noch in der äußersten Peripherie des Kontinents: im Kaukasus oder in Nordskandinavien. Der Punkt ist, dass dieses Hochgebirge mitten in dicht besiedelten Regionen liegt, im Einflussbereich großer Städte. Das ist auf der ganzen Welt einmalig. Wenn Sie an Gebirge wie den Himalaya oder die Rocky Mountains denken, die liegen weit entfernt von den Zentren. Deshalb waren die Alpen nie abgeschnitten und immer in die kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklung mit eingebunden.

Ihr 1984 erstmals veröffentlichtes Standardwerk „Die Alpen“ ist dieses Jahr neu überarbeitet erschienen. Was hat sich verändert in den letzten 30 Jahren?

Die Verstädterung und die ­Zersiedlung in den Talachsen der Alpen haben zugenom­men. Im Gegenzug sind in den Rand­berei­chen viele Strukturen zusammen­gebrochen und die Bevölkerung ist weiter zurück­gegangen. Positiv ist aber, dass in den letzten Jahren die kulturelle Identität auf regionaler Ebene eine Renaissance erlebt hat.

Haben die Alpen eine kulturell verbindende oder trennende Funktion?

Die Alpen waren immer stark durch Gren­zen geprägt. Ich würde jedoch schon meinen, dass der verbindende Charakter der Alpen die stärkere Kraft ist, trotz der kulturellen Grenzen, trotz der Sprachgrenzen, die mitten durch die Alpen laufen.

Gibt es eine gemeinsame Identität für den Alpenraum?

Im kulturellen Sinn kaum. Eine verbindende Identität kristallisiert sich eher an den Problemen heraus, die den gesamten Alpenraum betreffen und nur gemeinsam lösbar sind, Umweltprobleme etwa. Die Transitprobleme sind am Brenner in Österreich die gleichen wie am Gotthard in der Schweiz. Was können die Alpen in dieser Hinsicht leisten? Die Alpen können zeigen, dass es möglich ist, Natur zu nutzen, ohne Natur zu zer­stören. Das glaubt ja heute keiner mehr.

Dieses unwirtliche, unzugängliche Hochgebirge?

Ja, das ist eine meiner zentralen Thesen: In den Alpen werden Grundsatzprobleme des Umgangs mit der Natur sichtbar und fassbar, die überall in Europa verdrängt werden können, nicht aber in den Alpen. Aufgrund des steilen Reliefs, der hohen Niederschläge, der labilen Geologie kann man in den Alpen die Natur nie ganz im Griff haben. Die Konsequenzen und die Auswirkungen von Fehlern zeigen sich hier sehr viel schneller und direkter.

Was könnte man daraus lernen? Dass die Natur unbeherrschbar ist?

Nein. Zu den größten Irrtümern gehört die Ansicht, die Alpen seien eine reine Naturlandschaft. Die Alpen sind spätestens seit dem Mittelalter eine Kulturlandschaft, die die Menschen für ihre Bedürfnisse verändert und ökologisch umgebaut haben. So wurde aus einer Waldlandschaft eine kleinräumige offene Landschaft – eine Produktionslandschaft, kann man sagen. Aber die Menschen wussten immer, wie man sie nutzt, ohne große Katastrophen auszulösen.

Und zwar?

Indem sie die Nutzung den ­vorhandenen, meist sehr kleinräumigen Flächen an­passten; indem sie eine maßvolle Almwirtschaft betrieben, die der Natur immer ge­nug Zeit zur Regeneration gab; indem sie sehr viel Arbeit investierten, Schäden – etwa nach Gewittern oder Lawinen­abgängen – schnell zu reparieren.

Wie könnte denn heute in dieser kleinräumigen Kulturlandschaft ein rücksichtsvolles Wirtschaften aussehen?

Es braucht einerseits eine dezentrale, regionale Produktion, die die Wertschöpfungskette möglichst lange im Alpenraum hält. Ich denke an die Lebensmittelerzeugung oder an die Holzproduktion. Dafür gibt es – neben dem Tourismus – auch in den großen Städten einen riesigen Markt, weil das Bedürfnis nach authentischen, nicht austauschbaren Produkten in einer globalisierten Welt ständig wächst. Klar ist jedoch, dass die 15 Millionen Menschen, die heute im Alpenraum leben, nicht nur von ihren eigenständigen Ressourcen leben können. Es braucht die Verflechtung mit und die Dienstleistung für Europa, zum Beispiel in der Energie­erzeugung. Freilich mit Maß und Ziel.

Der Tourismus spielt auch keine un­wesentliche Rolle.

Der Tourismus im Alpenraum befindet sich zurzeit in einem ruinösen Wettbewerb und stagniert seit 30 Jahren. Ich habe für alle gut eintausend Alpengemeinden in Österreich die Zahl der Nächtigungen seit 1985 erhoben, der Rückgang beträgt in diesem Zeitraum rund drei Prozent. Das Angebot wächst allerdings per­manent. Die großen Anbieter, die großen Zentren setzen die Trends und versuchen durch Zusammenschlüsse noch größer zu werden – zu Lasten der kleinen und mittleren Betriebe.

Doch auch deshalb, weil der gemeine Tourist gern die großen Zentren mit dem großen Angebot aufsucht.

Das ist der sogenannte ­multioptionale Tourist, der sich alle Möglichkeiten offen­halten, nichts von vornherein aus­schlie­ßen will. Fragt man nach, was er tat­sächlich macht, wäre er allerdings in einem kleinen Tourismusort viel besser aufgehoben.

Wieso fährt er dann nicht hin?

Der Tourismus ist heute in einer Spirale der ständigen Erlebnissteigerung gefan­gen, die irgendwann ins Leere zu laufen beginnt, wenn man die längste Hängebrücke und die spektakulärste Aussichtsterrasse auch gesehen hat. Ich habe dafür den Begriff des Erlebnis-Burnouts geprägt. Irgendwann wird dann alles langweilig und austauschbar.

Wenn man die Masse verteilt, kann das nicht erst recht zu Problemen führen? Wie viel Tourismus vertragen die kleinen Orte und die weniger gut ausgebauten Täler?

Die vertragen eine ganze Menge. Im Alpen­raum gibt es traditionelle Infrastrukturen mit Wegen und Hütten, auf denen sich Wanderer oder Skitourengeher bewegen können, ohne etwas kaputt zu machen. Für die sensiblen Bereiche muss eben die Raumordnung Ruhegebiete schaffen, Wege ausweisen, die nicht verlassen werden dürfen. Aber da mach ich mir keine großen Sorgen, weil in diese extremeren Gebiete ohnehin nur wenige kommen.

Seit wann gibt es Tourismus in den Alpen?

Seit dem 18. Jahrhundert, da begann die Pionierphase. Das war aber noch mehr Abenteuer, nicht Urlaub. Mit Urlaub geht es erst um 1880 richtig los.

Eigentlich ein junges Phänomen.

Natürlich, ja. Diese erste Phase des Massen­tourismus war von der Erschließung durch die Eisenbahn und vom boomartigen Wachstum der Städte und des Bürger­tums geprägt. Es ist das Bürgertum, das ­zuerst in die Alpen geht, die Arbeiter folgen später.

Wie hat sich unsere Sicht auf die Berge seither verändert?

Die Alpen wurden anfangs als schöne Landschaft gesehen, als Kulisse für den Städter zur Erholung vom Alltag. Diese Kompensationsfunktion der Ästhetik ver­schwindet mehr und mehr, die Alpen werden nur noch als Sportgerät, als Freizeitraum für hoch spezialisierte Interessen wahrgenommen. Die Besonderheit der Alpen – das besonders Schöne, besonders Erhabene – geht verloren und wird von funktionellen Werten ersetzt.

Die Generation Messner wird von der Generation Lama abgelöst.

So könnte man das vielleicht auch sagen.

Sie sind nicht nur Theoretiker, sondern auch Praktiker, wandern viel und gern, vorzugsweise im Piemont.

Ja. Was ich besonders mag am Wandern: wenn der Körper im Gehen seinen eigenen Rhythmus findet, die Beine, das Atmen, das Herz, man wieder offen für alle Formen sinnlicher Wahrnehmung wird. Der Mensch ist Kopf und Körper. Und beim Wandern kann man genau diese Erfahrung machen – wie man den Kopf wieder frei bekommt und den Körper wieder zu spüren beginnt.

Dieser Text stammt aus dem Bergwelten Magazin (04/2015).