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Die Entstehung des Kuhreihens

Wissenswertes

4 Min.

20.06.2017

Foto: Switzerland Tourism - BAFU

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In einigen Bergkantonen der Schweiz ist das Kuhreihen heimisch – ein besonderer Jauchzergesang, den die Senner ursprünglich einsetzten, um die Kühe leichter zusammentreiben und melken zu können. Eine faszinierende Sage klärt uns darüber auf, wie das Kuhreihen auf die Alpen kam.

  • Gebirge: Urner Alpen
  • Ort: Balisalp/ Hasliberg, Bern

Als ein Berner Senn namens Res eines Abends auf der Balisalp am Hasliberg sein Vieh gemolken hatte und sie wieder in die Weiden hinausziehen ließ, schritt er in die Hütte, trank noch ein Näpflein Milch und schlief sogleich im Wildheu ein.

Doch mitten in der Nacht weckte ihn das Aufschlagen der Hüttentüre und ein seltsames Knattern im Herd. Verwundert richtete er sich auf, und nun sah er zu seinem Erstaunen unten in der Hütte drei fremde Männer, die eben den großen Kessel zum Käsen über das aufflackernde Feuerlein der Wellgrub rückten.

Erst wollte er auffahren – als er aber den riesenhaften Mann, der am Herd stand, näher betrachtete, blieb er mäuschenstill. Der zweite der unheimlichen Gesellen – ein blasser, goldgelockter Jüngling – trug jetzt in einem runden Holzgefäß die Milch herbei und leerte sie in den Kessel. An der Feuerplatte schließlich hockte ein grüngekleideter Jäger, der grimmig in die Glut starrte und ab und zu ein Holzscheitlein ins Feuer schob. Erschrocken schaute der Senn von seinem Heulager aus dem Treiben der nächtlichen Gäste zu.

Jetzt begann der Riese mit einem Stab bedächtig die Milch umzurühren. Der junge, blasse Knecht aber ergriff ein gewundenes Horn und schritt zur Tür der Hütte. Nun hörte der aufmerksam lauschende Res wundersame Töne, wie er sie bisher noch nie gehört oder geträumt hatte. Ein grenzenloser Jubel, der von der Hütte über alle Berge hinausschallte, war in dem wundersamen Lied. Dann wieder hallte daraus eine bodenlose Schwermut. Es war ein unsäglich schöner Gesang – oder waren es Alphornklänge? Res wusste es nicht, doch das Herz ging ihm vor Lust schier über. Deutlich hörte er, wie seine Herde, von den zauberhaften Klängen angezogen, sich der Sennhütte näherte. Und nun bemerkte er auch, wie das helle Klingen der Schellen und das dumpfe Läuten der großen Kuhglocken gar seltsam hineinstimmten in das schöne Lied. Es war ihm, als höre er seine Herde um den Sänger herumgehen. Tränen standen ihm in den Augen – etwas so Schönes hatte er noch nie gehört.

Unterdessen hatte der riesenhafte Senn am Herd seine Verrichtung beendet. Er schöpfte die Schotte in drei bereitstehende Gepsen hinein. Aber seltsam, in der einen Gepse erschien die Milch blutrot, in der zweiten grasgrün und in der dritten schneeweiß.

Plötzlich schrak der Res, der sich unbeobachtet gefühlt hatte, zusammen, denn der riesige Senn rief mit fürchterlicher Stimme zu ihm hinauf: „Steig jetzt herunter, Menschlein, du sollst dir eine Gabe wählen!“

Zitternd, aber gehorsam stieg der Res herab, denn der blasse Jüngling hatte ihm freundlich zugenickt. Dann sprach der riesenhafte Senn: „Sieh, aus einer dieser drei Gepsen musst du trinken. Du hast die Wahl, aber überlege dir's wohl, ich rate dir's. Die rote Gepse ist meine Gabe. Trinkst du daraus, so wirst du stark und gewaltig wie ein Riese und so mutig, dass dir kein Mensch auf Erden wird widerstehen können. Zudem gebe ich dir noch hundert schöne rote Kühe, die schon morgen früh auf deiner Alp grasen sollen. Greif zu, Bürschlein!“ Darauf sagte der Grüne: „Trink lieber aus der grünen Gepse! Ich schenke dir hundert Taler und klingendes Gold. Hör, wie es lieblich klingelt!“ Unversehens schüttelte er einen ganzen Haufen Silbertaler und Goldstücke dem Hirten vor die Füße, dem die Augen vor ihrem Glanze fast übergingen. Der blasse, goldgelockte Jüngling aber stand ruhig, auf sein Alphorn gestützt, da und sagte dann weichen Tones: „Trink aus der weißen Gepse, so wirst du schon am kommenden Morgen singen und jodeln und dies Alphorn blasen können, so schön, wie du's eben von mir gehört hast.“ Da rief der Res: „So will ich lieber die Riesenkraft und die goldenen Schätze nicht, ich wähle dein Lied und dein Alphorn und trinke aus der weißen Gepse!“ Damit hob er das Mutteli (rundes Holzgefäß) an den Mund und trank. Es war nichts anderes als frische, würzige Milch in dem Gefäß, mit einem seidenzarten Rahmschäumlein darauf.

„Du hast gut gewählt“, sagte der Goldlockige. „Hättest du anders gewählt, so wärst du dem Tod geweiht gewesen, und viele hundert Jahre wären vergangen, bis ich mein Geschenk den Menschen wieder hätte anbieten dürfen. Nimm also das Alphorn, und morgen wirst du singen, jodeln und blasen können wie ich.“

In dem Moment, in dem Res das wundersame Horn in die Hand nahm, waren die drei unheimlichen Gesellen plötzlich verschwunden; das Feuer erlosch, und Res fühlte sich von unsichtbaren Händen auf sein Wildheulager emporgehoben.

Als er am Morgen erwachte, hielt er alles für einen Traum. Aber neben ihm lag das Alphorn. Und als er nun vor die Hütte hinaustrat, begann er das Horn zu blasen und zu singen und zu jodeln. Das klang so schön, dass es schien, als beeile sich die Sonne noch schneller als sonst über die Schneeberge aufzugehen.

Die anderen Hirten auf den Alpen lauschten mit Verwunderung und großer Freude dem wunderbaren Gesang. Und nicht lange dauerte es, so antwortete die Liebste des Res ihm von der Seealp in den gleichen Tönen. Und so hat sich der Kuhreihen in den Alpenländern der Schweiz bis zum heutigen Tag von Geschlecht zu Geschlecht vererbt.

(Gekürzte Version. Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915; www.sagen.at)

Die Sage heute: Der Kuhreihen wurde anfangs nur instrumental gespielt, später auch gesungen. Das älteste überlieferte Kuhreihen ist der „Appenzeller Kureien Lobe lobe“ aus dem Jahr 1545. Heute existieren in der Schweiz noch verschiedene Versionen des Kuhreihens – so etwa der „Ranz des vaches“ im Greyerzerland.

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