In Plastikschuhen am Everest
Foto: Elias Holzknecht
Eine Innovation als Teil der Sensation: Bei der ersten Besteigung des höchsten Berges ohne künstlichen Sauerstoff entschieden sich Reinhold Messner und Peter Habeler gegen Stiefel aus Leder – den Zehen zuliebe.
Text: Reinhold Messner
Der Artikel ist im Bergwelten Magazin Dezember/Januar 2018/19 erschienen.
War es wirklich eine gute Idee? In Stiefeln aus Plastik auf den Mount Everest zu steigen? Wenn ich das moderne „8.000er-Schuhwerk“ betrachte, war es eine Schnapsidee. Heutige Modelle sind weich, aus Kevlar und leichtesten Materialien gefertigt, dazu bestens isoliert und als Ganzes – Gamasche und Schuh – rasch an- und ausziehbar.
Am Nanga Parbat 1970 hatte ich mir im ledernen Bergschuh die Zehen erfroren – dritten Grades. Sieben Zehen mussten ganz oder teilweise amputiert werden. 1972 am Manaslu hatten wir mit ähnlichem Schuhwerk – Leder außen, Filz innen – wieder Erfrierungen, wenn auch nicht so schlimme.
Je höher der Berg, umso problematischer die Durchblutung der Extremitäten. Daher die Idee zum Plastikschuh. Plastik außen, Alveolit innen. Die Manschette aus Leder wegen besserer Bewegungsfreiheit. Ich wusste, dass Plastik schlecht isoliert, aber es lässt sich im Zelt über der Flamme trocknen. Leder, einmal nass, wird in der Höhe zum Eispanzer.
„Alveolit als Innenschuh ist der Schlüssel“, wiederholten die Techniker bei Kastinger, der österreichischen Schuhfabrik am Mondsee, die bereit waren, uns zu helfen. Ganzfußgamaschen von Karrimor hatten wir schon.
Unsere Strategie sollte aufgehen. Natürlich hatten wir kalte Füße – vom Südsattel bis zum Gipfel und zurück.
Am 8. Mai 1978 zwischen ein und zwei Uhr nachmittags erreichten Peter Habeler und ich den Gipfel des Mount Everest. In Plastikstiefeln! Wir fotografierten uns gegenseitig am Tripol, dem Vermessungsstativ, das eine neunköpfige chinesische Expedition 1975 auf dem Gipfel hinterlassen hat. Die Spitze, an der ursprünglich eine Fahne hing, war inzwischen ab- gebrochen. Peter und ich waren damit die Ersten, die, ohne Sauerstoff aus Flaschen zu atmen, vom Basislager bis zum Gipfel gestiegen sind.
Durch den Schneesturm
Und das auf allen vieren zum Teil durch den Schneesturm. Immer wieder mussten wir uns in den Schnee legen, um nach Luft zu schnappen. Nur so ließ sich das Sauerstoffdefizit ausgleichen. Meine Füße waren gefühllos.
Mehr als 60 Bergsteiger hatten vor Peter Habeler und mir den Gipfel des Mount Everest erreicht. Alle mit Sauerstoffgeräten. Trotzdem hatten sich einige von ihnen Erfrierungen geholt.
So romantisch wie solche Bergabenteuer oft klingen, war die Wirklichkeit nicht. Es war kalt, stürmisch und sehr, sehr anstrengend.
Als Peter und ich vom Gipfel abstiegen, war uns nicht bewusst, was uns gelungen war. In unserer Müdigkeit kam kaum Er- folgsstimmung auf. Wir hatten beide leichte Erfrierungen an den Fingerspitzen davongetragen, unsere Nasen schälten sich, die Füße aber waren heil – dank trockener Schuhe. Nachdem uns Bergsteiger und Ärzte ein Scheitern prophezeit hatten, war das Tabu, das wir ausgelöscht hatten, so sensationell, dass niemand auf die Idee kam, nach erfrorenen Zehen zu fragen. Mir fehlten ja schon die Hälfte.
Reinhold Messner, geb. 1944 in Brixen, stand als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern der Erde. Er ist erfolgreicher Buchautor und baute das Messner Mountain Museum an mittlerweile sechs Standorten in Südtirol auf.
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