Der heiligste Berg
Foto: Mauritius/Alamy
von Christina Geyer
Der Staub wirbelt auf – jedes Mal, wenn sie sich zu Boden werfen und im Kies eine Länge vorwärts robben. Aufstehen, niederwerfen, robben. Aufstehen, niederwerfen, robben. Diese Art der Fortbewegung erfordert nicht nur physische und mentale Stärke – sie kostet auch Zeit.
Während die 53 km lange Kora (Umrundung) um den heiligen Berg Kailash für unsereins problemlos in drei Tagen zu schaffen ist, brauchen die überwiegend buddhistischen Pilger bis zu zwei Wochen für ihre aus fortwährenden Niederwerfungen bestehende Umrundung. Doch damit nicht genug. Zur Erleuchtung gelangt erst, wer den Kailash ganze 108 Mal umrundet hat.
Angesichts solcher Unternehmungen darf man schon einmal fragen, was diesen Berg mitten im Nirgendwo so besonders macht – wo er noch nicht einmal bestiegen werden darf.
Der Kailash (6.714 m), der übersetzt „kostbares Schneejuwel“ heißt, liegt in der tibetischen Region Ngari im Gangdise-Gebirge, das mit einer durchschnittlichen Höhe von 4.500 m lange Zeit als eines der unzugänglichsten Gebiete der Welt galt. Besonders macht den Kailash nicht nur seine außergewöhnlich symmetrische Spitze, die ganzjährig von Schnee bedeckt ist, sondern vor allem seine religiöse Bedeutung: Der Berg gilt als heilig und wird von Buddhisten und Hinduisten gleichermaßen als Berg Meru, als Weltenberg im Zentrum des Universums, erachtet.
Was den Kailash heilig macht
Die geographische Lage des Kailashs dürfte diese Ansicht maßgeblich stützen, liegt der heilige Berg doch im Zentrum von gleich vier bedeutenden Wasserläufen. Hier entspringen der Indus (3.180 km lang), der Brahmaputra (3.100 km lang), der Satluj (1.450 km lang) und der Ganges-Zufluss Karnali (300 km), von denen alle essentiell an der Wasserversorgung des gesamten indischen Subkontinents beteiligt sind.
Der Kailash ist aber nicht nur „irgendein“ heiliger Berg, er hat den Ruf als heiligster Berg überhaupt. Als solcher ist er jungfräulich – heißt: unbestiegen. Nur der Yogi Milarepa soll auf einem Sonnenstrahl sitzend um 1100 den Gipfel des Kailashs erreicht haben, ohne den Berg selbst dabei allerdings berührt zu haben.
Der unbestiegene Berg
1985 wurde keinem Geringeren als Reinhold Messner die Besteigung des Kailashs gewährt, dieser verzichtete allerdings auf die Ausführung. Es wäre ein Sakrileg, den Berg mit Seil und Haken zu erobern, begründete Messner seine Entscheidung: „Die Einheimischen wollen das nicht“ (Geo Saison 3/14). Und so begnügte sich der Extrembergsteiger mit der Umrundung des heiligen Bergs, von der er selbst sagte, es wäre „eine der stärksten Wanderungen, die man machen kann.“
Das ist sie zweifelsohne immer noch, wenngleich auch die mit der chinesischen Annexion Tibets verbundene touristische Öffnung der Region bereits erste Spuren kommerzieller Nutzung hinterlassen hat: Seit einigen Jahren gibt es einen Flughafen, nur 200 km vom Kailash entfernt, und auch eine asphaltierte Straße wurde gelegt, um den Ausgangspunkt der Kora, das Dorf Darchen, anstrengungsfrei erreichen zu können. In Darchen werben bereits Leuchtreklamen mit dem heiligen Berg, riesige Baustellen lassen überdies das Ausmaß der Erschließung erahnen: Hier sollen annehmliche Hotelkomplexe entstehen.
Es bleibt zu hoffen, dass der Zauber dieses besonderen Orts davon unberührt bleibt. Denn bereits Milarepa, der Yogi, der vor knapp 1000 Jahren in völliger Abgeschiedenheit am Fuße des Kailashs gelebt haben soll, hat festgestellt, dass kein Ort wundervoller als dieser sei. Dem kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen.
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