Vom Tiefschnee der Rockies in die Wüste von Utah
Foto: Ana Zirner
Ana Zirner folgt zurzeit dem Colorado River – 2.330 km, von seinem Ursprung in den Rocky Mountains bis an den Golf von Kalifornien in Mexiko. Auf ihren ersten Wegstrecken im tief winterlichen Colorado macht sie interessante Bekanntschaften: mit dem zugefrorenen Fluss ebenso wie mit betenden Truckern.
Ich mache einen Schritt aus dem Wald hinaus in das weiße Feld, das sich weit und sacht ansteigend vor mir ausbreitet. Fast bis zur Hüfte sinke ich in den pulvrigen Schnee ein. Ich schnalle mir die Schneeschuhe wieder an die Füße und mache die ersten Schritte in das unverspurte, glitzernde Weiß. Die Luft ist kristallklar und eiskalt. Der Himmel strahlt in einem Blau, das er nur im Winter kennt. Als ich die Mitte des Hochplateaus erreiche, bleibe ich stehen und sehe mich um. Ich bin allein, weit und breit keine Menschenseele. Unten im Zentrum des Rocky Mountain-Nationalparks, wo ich mich ins Registerbuch eingetragen habe, um hinauf zur Quelle des Colorado River zu wandern, konnte ich lesen, dass ich seit vier Tagen die Erste bin, die sich hier hinaufbegibt.
Zur Quelle des Colorado
Die Weite um mich herum reicht bis in mich hinein und schafft so viel Raum, dass ich mich fast leer fühle. Aber kaum nehme ich diese Leere wahr, füllt sie sich mit einer tiefen Freude. Ich bin endlich wirklich hier. Alles worauf ich mich seit Monaten vorbereite, beginnt nun Wirklichkeit zu werden.
Da höre ich deutlich ein leises Plätschern. Gespannt gehe ich weiter und tatsächlich, neben einem einzelnen Baum ist ein Loch im Schnee und da fließt Wasser. Das muss er sein, denke ich aufgeregt. Der Colorado River, der mächtige Fluss, der hier noch ganz jung und zart ist. Ich knie mich in den tiefen Schnee und lasse das eiskalte Wasser durch meine Finger fließen. „Hallo“ sage ich unbeholfen. Wir kennen uns noch nicht, der Colorado und ich. Aber wir werden uns kennenlernen, in den nächsten Monaten werden wir viel Zeit zusammen verbringen.
In den zwei Wochen, die auf unsere erste Begegnung folgen, verläuft vieles anders als erwartet. Der außerordentlich heftige Winter hat hier dieses Jahr noch alles fest im Griff. Auch der Colorado selbst schläft noch in einer dicken Eisschicht und ich habe keine Chance zu paddeln. Ich werde also vor allem zu Fuß unterwegs sein. Ein Stück, zwischen Granby und Glenwood Springs nehme ich den legendären alten Zephyr Zug. Er bietet eine aussichtsreiche Möglichkeit im sonst unzugänglichen Gore Canyon direkt am Flusslauf unterwegs zu sein. Auf dem gefrorenen Fluss sehe ich eine Herde von Rentieren, die sich auf dem Eis liegend auszuruhen scheinen.
Trampen statt Paddeln
Später versuche ich wieder zu Fuß mein Glück. Aber es macht einfach keinen Spaß am Highway, der hier in Colorado noch direkt neben dem Fluss verläuft, entlang zu gehen. Um den Abgaswolken der endlosen Pickup-Trucks zu entfliehen, gehe ich dazu über, ab und an zu trampen.
An einer Tankstelle in dem kleinen Ort De Beque lerne ich den Trucker Mark kennen. Er kommt direkt auf mich zu und sagt entschieden und freundlich, dass Jesus ihm gesagt hat, dass er mit mir sprechen soll. Ich bin amüsiert und irgendwie gerührt und frage ihn nach der Stimme von Jesus oder wie genau er ihn gehört hat. Mark lacht und sagt, dass er ihn einfach manchmal sehr deutlich hören kann, weil Jesus auch in ihm ist. Er fragt ob ich gläubig bin und es folgt ein langes, angeregtes und emotionales Gespräch über Götter, Geister und Glaubensformen. Ich erzähle ihm von Erlebnissen in der Natur und meinem Gefühl für das „Irgendwas“, das größer ist. Er erzählt mir, wie er im Gefängnis den Glauben an Gott entdeckt hat. Am Ende bitte ich ihn um ein Foto. Er willig ein, aber nur, wenn ich davor mit ihm bete. Ein seltsamer Deal, aber ich habe das Gefühl, dass genau das jetzt das Richtige für die Situation ist, und zudem, dass ich ihm damit wirklich einen Wunsch erfülle. Wir beten also und machen ein Foto. Dann steigt Mark wieder in seinen Mega-Truck und aus dem Fenster ruft er strahlend: „Take care, Sister!“
Fluss des Lebens
Trucker Mark ist nur eine von vielen sehr bereichernden Begegnungen auf meiner Reise bisher. Anstatt der erwarteten Abgeschiedenheit stehen Menschen und ihre Geschichten ganz klar im Zentrum meiner ersten zwei Etappen. Und nachdem ich anfangs ungeduldig war, habe ich inzwischen den Wert dieser Begegnungen erkannt und verstanden, dass es eben genau das ist, was mir der Colorado River hier ermöglicht.
Schließlich ist es der Fluss, der hier alle Menschen miteinander verbindet. Er erlebt die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen und Handlungen: Respekt und Missbrauch, Freude und Zerstörung, Streit und Versöhnung. Er ist hier die Lebenslinie der Gesellschaft und die Arterie der Landschaft. Nicht nur versorgt er im Verlauf seiner 2.330 Kilometer 40 Millionen Menschen mit Trinkwasser (einer von zehn Amerikanern ist auf ihn angewiesen), mit seiner Hilfe werden auch 15% der Lebensmittel in den USA hergestellt. Für eine indigene Schamanin ist er ein heiliger Ort, für einen Cowboy ein lebenswichtiger Quell, für einen Staudamm-Bauer der Beweis des menschlichen Triumphs über die Natur, für Städter ein wertvoller Ort der Erholung und für die Natur- und Tierwelt ein unersetzbarer Lebensraum. Die Navajo-Ureinwohner schließlich sehen den Colorado River auch selbst als eine Art Lebewesen an. In ihrer Sprache ist er weiblich und trägt den Namen „life without end“ (Leben ohne Ende).
Der Weg hat erst begonnen
Auch für mich ist hier in Moab, wo ich jetzt angekommen bin, noch unvorstellbar, dass der Fluss und meine Reise irgendwann enden kann. Jetzt freue ich mich mal auf die nächste Etappe, die mich endlich in infrastrukturarme Gebiete führen wird. Ab morgen geht es in den Nationalpark Canyonlands und dann nehme ich mir paddelnder Weise den 350 Kilometer langen Lake Powell vor. Ich werde euch hier davon berichten.
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