Vor 10 Jahren am Cerro Torre
Vom Shitstorm zur Weltklasse-Leistung: wie David Lama 2012 den Cerro Torre bezwang und vom Sportkletter-Champion zum Alpinisten wurde.
Als David Lama 2009 verkündete, er werde den Cerro Torre im Freikletterstil besteigen, ging ein Raunen durch die alpine Szene. Der damals Neunzehnjährige war zwar nicht irgendwer, aber der Cerro Torre auch nicht irgendein Berg: Der Tiroler, der 2019 bei einem Lawinenabgang in den kanadischen Rocky Mountains ums Leben kam, galt als Wunderkind des Kletterns. Mit zehn Jahren schaffte der Sohn eines Sherpa aus Nepal und einer Österreicherin seine erste Route im elitären Schwierigkeitsgrad 8a, und fünf Jahre später heimste er gleich in seiner ersten Weltcup-Saison – als bisher Einziger – sowohl einen Sieg im Bouldern und als auch im Vorstiegsklettern ein.
„Ich habe alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt“, resümierte David Lama später über seine Wettkampfkarriere. Der Tiroler wurde allerdings der Kunststoffgriffe bald müde und sehnte sich nach richtigen Bergen: „Das Klettern am Fels war für mich immer schon das richtige Klettern, das wahre Klettern.“ Um seinen nächsten Schritt auf höchstem Niveau zu untermauern, brauchte der jugendliche Champion ein ikonisches Ziel, und das schien er mit dem Cerro Torre gefunden zu haben – eine 3.128 Meter hohe, als „Schrei aus Stein“ bezeichnete und für ihr schlechtes Wetter berüchtigte Granitnadel in Argentinien.
Ein Gipfelsieg mit vielen Fragezeichen
Die prekäre Besteigungsgeschichte hat das von allen Seiten unnahbar wirkende Felsgebilde zum Mythos gemacht. In den 1950er-Jahren galt es als schwierigster Berg der Welt und zog europäische Spitzenbergsteiger magisch an: Der Italiener Cesare Maestri kam 1959 mit der verhaltenen Jubelmeldung zurück, dass er es mit Toni Egger, seinem Osttiroler Seilgefährten, unter desaströsen Bedingungen durch die Ostwand auf den Gipfel geschafft habe. Egger war aber beim Abseilen unter eine Lawine gekommen, und die Kamera mit den Beweisfotos wurde nie gefunden.
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Bald tauchten Zweifel an Maestris Besteigung des Cerro Torre auf. So entdeckte die nächste Seilschaft in der Route keinerlei Begehungsspuren im oberen Teil der Wand. Um den Vorwurf der Lüge zu entkräften, kehrte der verbitterte Maestri 1970 ins sturmumtoste Patagonien zurück. In übermenschlicher Anstrengung bohrte er sich mithilfe eines 180 Kilogramm schweren Kompressors über Wochen über die Südostkante bis zum Ende der Headwall. „Wir hatten gewonnen“, schrieb Maestri später. „Wir hatten der Welt auch bewiesen, dass es keine unmöglichen Berge mehr gibt.“ Glücksgefühle sollten bei dem Italiener, der den Cerro Torre mittlerweile abgrundtief hasste, abermals nicht aufkommen. Der Kompressor verblieb in der Wand und gab der Route den Namen.
Maestris Bohrhaken-Leiter wurde in der alpinen Community schon damals als Anachronismus, ja als Frevel gegen den Zeitgeist eines Kletterns ohne technische Hilfsmittel empfunden – Haken durften lediglich als Sicherungsmittel und nicht zur Fortbewegung genutzt werden. Und doch fand keiner der Spitzenbergsteiger über die kommenden Jahrzehnte einen freien Weg durch diese Seite des Berges. War dies vielleicht tatsächlich unmöglich?
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Die größte Geschichte des Alpinismus
Entsprechend unbedarft, wenn nicht großkotzig, muss die Ankündigung des „Hallenkletterers“ David Lama gewirkt haben. Setzte sich der Jungspund doch ausgerechnet auf die größte Geschichte, die der Alpinismus zu bieten hatte. Der kecke Zugang passte zum Selbstverständnis des Tirolers: Er reizte gerne Grenzen aus, war für seine Ziele nie zu jung, zu schwach oder zu klein gewesen und sollte mit dieser Einstellung – zumeist – recht behalten. Nun würde er halt dieses legendäre Problem des Alpinismus lösen. Dass David Lamas Plan der ersten freien Besteigung der Kompressorroute noch dazu mit einem kinotauglichen Filmprojekt und entsprechendem medialen Wirbel verbunden war, hatte auf die Community auch keine kalmierende Wirkung.
Doch der erste Versuch war ein veritabler Fehlschlag: David Lama und sein Seilpartner Daniel Steurer scheiterten schon im unteren Teil des Berges. Was aber viel schwerer wog: Zur Sicherheit der Filmcrew waren Bohrhaken gesetzt worden – ausgerechnet am Cerro Torre, dem durch ein Zuviel an Eisen bereits schwer geschundenen Berg. Ein enormer Shitstorm brach los: „Das hat David schwer zugesetzt“, erinnert sich sein langjähriger Manager und Freund Florian Klingler, der ihn während dieses Projekts betreut hatte. Bis zu 1.500 Beschwerde-Mails gingen pro Tag ein und der Tiroler sah seine Karriere als Kletterer ernsthaft in Gefahr. Nach dem selbstbewussten Start herrschte nun Katerstimmung. David Lama gestand Fehler ein, gab sich aber nicht geschlagen. Ganz im Gegenteil: „Für mich war klar, dass ich über meine Grenzen hinaussteigen muss. Das war der Punkt, wo bei mir aus einem Sportkletterer ein Alpinist geworden ist.“
Zertrümmerter Helm, lädierte Schulter
Er sollte durch das Projekt nicht nur als Bergsteiger reifen: Im Winter 2010/11 kam David Lama wieder nach Patagonien, die Crew war ab sofort handverlesen, das Projekt jetzt akribisch geplant, Bohrhaken oder Fixseile ein Tabu und der Film der Besteigung untergeordnet. Gemeinsam mit dem erfahrenen Osttiroler Bergführer Peter Ortner erreichte er diesmal den Gipfel zumindest in konventioneller, also technischer Manier. Der wilde Berg hatte aber seine Krallen gezeigt und ihnen Respekt abgenötigt: Herabfallende Eisbrocken zertrümmerten Davids Helm und lädierten seine Schulter – die beiden waren mehr als froh, als sie kurz vor 22 Uhr auf dem Gipfel standen und in der Nacht wieder heil hinunterkamen.
Mit der Summe der Erfahrungen war Lama 2012 bereit für den Schlussakkord: In den Monaten zuvor hatte er an keinem Wettkampf teilgenommen und stattdessen in schweren Westalpen-Routen Selbstvertrauen und Ausrüstung optimiert. Bei einem günstigen Wetterfenster stieg er mit Peter Ortner erneut in die Wand ein. Als eigentliche Crux der Route sollte sich ein fingerdicker Riss in der Bolt-Traverse, weiter unten in der Wand, erweisen. Als er diesen nach einigen Stürzen geknackt hatte, entschlüsselte er Zug um Zug das jahrzehntealte Rätsel, welche Felsstrukturen in dem knappen Zeitkorsett tatsächlich kletterbar waren. „David kletterte ja nicht einfach einer vorgegebenen Linie nach, vielmehr musste er die frei kletterbaren Strukturen in diesem Meer aus Granit finden, sie entschlüsseln und zu einer durchgehenden Linie bis ganz nach oben zusammenfügen. Er verglich es mit der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen“, blickte Florian Klingler zurück. „Das Fragezeichen, ob er es wirklich frei schaffen würde, gab es bis zuletzt.“ Erst mit der letzten Seillänge in der Headwall war daraus am 21. Jänner 2012 ein Rufzeichen geworden: David hatte den Cerro Torre befreit, sein Versprechen eingelöst und es allen Zweiflern gezeigt.
Eine Weltklasse-Leistung
Die Community verneigte sich, damals wie heute vor ihm: „Das war eine Weltklasse-Pionierleistung“, sagt Thomas Huber, selbst ein großer Könner und Vordenker im Fels, zum zehnjährigen Jubiläum der Besteigung. Für ihn liegt Davids Cerro Torre-Vermächtnis weniger in der Schwierigkeit (bewertet hat der Tiroler die Route mit IX+/X–), sondern seinem Zugang zur vermeintlichen Unmöglichkeit der Tour: „David hatte diese ‚Des is ma scheißegal‘-Einstellung und wurde damit zu einem der Transmitter in der Evolution des Bergsteigens.“
Die Rückschläge im ersten Jahr hatten David Lama über sich hinauswachsen lassen und zum Alpinisten geformt. Es waren aber sehr wohl seine Gene als Hallenkletterer, die es ihm ermöglichten, für komplexe Kletterprobleme auch unter dem Stress eines harschen Klimas und bescheidener Absicherung spielerisch Lösungen zu finden. Mit der Route am Cerro Torre hatte Tiroler Alpingeschichte geschrieben, sie machte ihn zur Kletter-Ikone und durch den Kinofilm von 2013 auch zum Medienstar.
In Patagonien hatte David Lama zudem den Top-Alpinisten die Gewissheit gebracht, dass die Grenzen zwischen möglich und unmöglich durchlässig sind. Er selbst setzte als nunmehriger Profi-Alpinist exquisite und alpinistisch noch anspruchsvollere Projekte wie die Solo-Besteigung des 6.907 Meter hohen Lunag Ri um. Und der Cerro Torre? Die freie Kompressorroute war offenbar nicht leichter geworden: Nur einmal – 2016 von dem amerikanischen Trio Mikey Schaefer, Josh Wharton und Andrew Rothner – ist sie seitdem wiederholt worden und hat sich damit ihr volles Potenzial als großes alpines Abenteuer für die Zukunft bewahrt. Oder um es mit Thomas Hubers Worten zu sagen: „Die freie Besteigung des Cerro Torre wird eines der größten, wahnsinnigsten Ziele weit über die Generationen hinaus bleiben. Also eine ganz besondere Geschichte.“
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David Lama hat für Bergwelten regelmäßig Blogbeiträge rund ums Bergsteigen und Klettern verfasst und uns mit atemberaubenden Videos versorgt.
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