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Den Achensee umrunden

Regionen

5 Min.

10.09.2021

Foto: Elias Holzknecht

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Wer Tirols größten See besucht, der lernt, dass Glück sich messen lässt – es ist neun Kilometer lang.

Wolfgang Wieser für das Bergweltenmagazin September/Oktober 2019

Ein feiner Sprühregen kühlt unsere Haut. Überzieht Arme, Beine und Gesichter. Wir schließen die Augen, strecken die Köpfe in die Höhe und genießen das Nieseln des Wassers. Unser Lachen geht im Rauschen der tosenden Gischt unter. Aus 60 Meter Höhe donnert das Wasser hier auf die Felsen – mit solch unbändiger Wucht, dass die Tropfen zu einem angenehm prickelnden Hauch zerstieben.

Wir stehen am Ende eines schmalen Trampelpfades, der uns an die senkrecht aufragende Wand herangeführt hat, so nah, dass die Gischt fast zu greifen ist. Wer jetzt noch höher wollte, müsste den 150 Meter langen Klettersteig Buchau nützen, der entlang des Dalfazer Wasserfalls verläuft. 

Stattdessen klettern wir die nahe Aussichtsplattform hoch und sehen, wie sich das gerade noch wilde Wasser in ein sanftes, immer schmäler werdendes Bächlein verwandelt, das sich aus 1.300 Meter Höhe talwärts schlängelt – runter zum See. 

Eine neun Kilometer lange Schönheit räkelt sich selbstbewusst in der Sonne und erobert pfeilschnell unser Herz. Hochgefahren sind wir mit der Rofanseilbahn. Exakt sechs Minuten und 39 Sekunden dauert die Fahrt. An diesem Tag haben die Gondeln bereits 1.422 Menschen zur Bergstation (1.840 m) hochgebracht.

„Hier an diesem Platz verweilte er gern“, steht auf einem Schild, „und möglicherweise war es auch hier, wo ihm der Gedanke kam, eine Passagierschifffahrt auf dem Achensee ins Leben zu rufen.“ Ob das tatsächlich so war, ist nicht überliefert. Fest steht aber, dass der Geistliche von seiner Idee so überzeugt war, dass er sich 23.500 Gulden borgte, um das erste Schiff anzuschaffen. 


Der Plan des Prälaten 

„Das wären heute 500.000 Euro“, rechnet uns Kapitänin Daniela Neuhauser vor: „Der Plan des Prälaten ist aufgegangen. Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die bis heute – 130 Jahre danach – anhält“, sagt sie lachend. Wer hierherkommt, wird sich seiner selbst bewusst. Lässt das Auto stehen. Geht zu Fuß. Fährt mit dem Rad, der dampfenden Zahnradbahn oder dem Schiff. Selbst wenn das schnellste, die „MS Achensee“, im Höchsttempo über den See rauscht, erreicht es nicht mehr als 28 Stundenkilometer. 

„Aber die fährt man nicht“, sagt Kapitän Robert Martschin. Weil es hier nicht darum geht, die Zeit hinter sich zu lassen, sondern jeden Augenblick zu genießen. Wir sind zurück aus der Zukunft. Packen auf der Dalfazalm unsere Sachen und brechen auf. Wandern weiter Richtung Wasserfall. Bald werden wir das Tosen des stürzenden Wassers hören. Und bald werden wir die Gischt spüren. Herrlich kühl auf unserer Haut.

Hier ragen Hochiss und Gschöllkopf, wo Adler ihre Horste haben, Spieljoch, Seekarlspitze und Rosskopf empor. Wir beschließen, es nicht zu übertreiben, zur Dalfazalm und von dort weiter zum Wasserfall zu wandern. Die Alm liegt auf 1.693 Metern, was bedeutet, dass es einen gemütlichen Weg entlanggeht, der zum größten Teil bergab führt. Steinmanderl weisen uns den Weg.

Ein Schild erinnert daran, dass der Mensch in den Bergen erstens ein durchaus heiterer Gesell mit Hang zu flotten Reimen ist und – zweitens – weiß, was guttut. Zum Beispiel: „Obstler, Most und Apfelsaft gibt dem Körper ganze Kraft.“

Oder, noch etwas holpriger: „Ziegen-, Butter-, Sauermilch von der Kuh – da gibt der Magen Ruh’!“ Von hier heroben wird klar, dass der Achensee nicht nur von einzigartiger Schönheit (und deshalb so anziehend) ist. Er ist das Herz, das die Täler rundum pulsieren lässt. Ein sanftes Herz, das den Tirolern nie Ungemach beschert hat. 

„Er ist mein Freund“, wird uns Daniela Neuhauser am nächsten Morgen sagen. Sie ist die Chefin der Achenseeschiffahrt und selbst Frau Kapitän. Und sie ist es auch, die darauf hinweist, dass hier nie, niemals von einem Seeungeheuer erzählt wurde – wie andernorts, wo solche Schauergeschichten die Menschen von dunklen Gewässern fernhalten sollten. 

Gefahren birgt er also keine? „Nein“, sagt die geborene Mauracherin, „er war nie eine Bedrohung, er ist nie über die Ufer getreten.“ Nur wenn der Nordwind bläst, heißt es aufpassen; bis zu einem Meter können sich die Wellen aufrichten. „Dann ist es schwierig, am Ufer anzulegen.“


Zwischen den Bergen

Mit einer Fläche von 6,8 Quadratkilometern ist der Achensee Tirols größter See. Fünf Ortschaften (Achenkirch, Maurach, Pertisau, Steinberg und Wiesing) liegen an seinen Ufern. 133 Meter misst er an seiner tiefsten Stelle. Gespeist wird er durch Zuflüsse von Ampelsbach, Dürrach und den Achenkircher Quellen. 

Mit dem Achental bildet der See die Grenze zwischen Karwendel- und Rofangebirge. Ersteres beherbergt mit 920 Quadratkilometern den größten Naturpark Österreichs und ist ein Paradies für Alpinisten und Naturfreunde: mit rund 200 Gipfeln, einer erstaunlichen Flora mit Seltenheiten wie der Deutschen Tamariske und einer unvergleichlichen Fauna – 21 Steinadler-Paare brüten hier, so viele wie sonst nirgendwo in den Alpen.

Zweiteres ist berühmt für seine schroffen Felsformationen, zwischen denen sich Hochalmen wie die Dalfazalm erstrecken Von der aus eröffnet sich jetzt ein atemberaubendes Panorama. Die Gipfel des Karwendelgebirges leuchten angeberisch.

Wolken zaubern nette Schattenmonster auf die funkelnde Oberfläche des Sees, unversehens tauchen sie auf und verschwinden ebenso schnell wieder. Der See ist nicht nur Trennlinie. Er ist auch das verbindende Element von Karwendel und Rofan – und er macht die Region im Sommer in puncto Auslastung zur führenden Destination Tirols. Auf der Dalfazalm wird derweil der legendäre Kaiserschmarrn aufgetischt. Erbaut wurde der Gasthof in den frühen 1980er-Jahren.

Fast vier Jahre wurde gearbeitet, weil das gesamte Material mit der Seilbahn hochgebracht werden musste.


Heute, morgen, gestern

In der Sennhütte aus dem Jahr 1664 wird heute Milch verarbeitet. Kühe bimmeln über die bunte Blumenwiese, im Stall grunzen Schweine. Wir strecken seufzend die Beine aus und wagen einen Blick in die Zukunft. Denn von hier heroben ist alles zu sehen. Auch der Weg, den wir morgen nehmen werden. 

In aller Herrgottsfrühe werden wir von Pertisau Richtung Gaisalm wandern. Am Ufer entlang. Rechts wird der See strahlen, links werden – wie eh und je – Seebergspitze und Seekarspitze hochragen. Es wird eine Wanderung werden, die uns bis zurück zu den Anfängen des Achensee-Tourismus führt.

Erst ist der Schotterweg noch befestigt, bis die schmale Betonmauer unauffällig verschwindet und üppigem Grün Platz macht. Bizarr geformte Äste liegen unberührt im Gras. Auf einem Steg genießt ein junges Pärchen die ersten Sonnenstrahlen. Das Wasser in Ufernähe ist einladend türkis, zwei Fischer versenken mit leisem Ploppen ihre Haken. 

Eine Föhre neigt sich über den See – so, als wollte sie ihren Durst stillen. Wir stapfen über ein breites Steinfeld – eine Schneise, die von einer Lawine im Winter in den Hang gerissen worden ist. Den Aussichtspunkt Prälatenbuche haben wir bereits hinter uns gelassen. Ein Schild am Baum erinnert daran, dass Abt Pirmin Pockstaller der „erste bedeutende Förderer des seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden und ständig ansteigenden Achensee Tourismus“ war. Sein Nachfolger Prälat Albert Wildauer setzte diesen Weg fort. 

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