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Der Große und der Kleine Mythen

Regionen

5 Min.

18.10.2021

Foto: Herbert Zimmermann

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Der Große und der Kleine Mythen kratzen nicht einmal an der 2.000er-Marke. Trotzdem sind ihre Namen den Schweizern geläufiger als die der meisten Viertausender. Woran liegt das?

Gabi Schwegler für das Bergweltenmagazin März 2019

Als Erster in der Morgendämmerung auf dem Gipfel des Großen Mythen zu sein – es ist ein beinahe unmögliches Unterfangen. Denn einer ist immer schon da: Armin Schelbert, „der Mensch“, wie sie ihn in der Mythenregion nennen.

Der 75-Jährige erklomm den Gipfel letzte Saison 481-mal. Seit April 1999 führt er genau Buch: Insgesamt war er in den letzten zwanzig Jahren schon 4.668-mal oben. Es gibt Tage, da läuft er viermal die 47 nummerierten Kehren hinauf und hinunter – trotz künstlichen Kniegelenks. „Dieser Berg ist für mich ein Stück Heimat und Leben“, sagt Schelbert und wischt mit einem Lappen den Morgentau von der Festbank, die vor der Hütte steht. „Ich kenne hier so viele Leute. Und mich kennen sogar die Gämsen.“

Nur an zwei Tagen pro Woche pausiert Schelbert, um seine Frau im Zürcher Oberland zu besuchen und ihr die schmutzige Wäsche zu bringen. Seit 49 Jahren sind sie glücklich verheiratet. Als Gleisbauer war er sein Arbeitsleben lang stets in der Schweiz unterwegs. Zwei Jahre vor seiner Pension habe seine Frau gefragt, wie das wohl rauskomme, wenn er immer zu Hause sei. Schelbert antwortete: „Keine Angst, das wird nicht passieren. “Und so wurde er zum „Mensch“ und zur guten Seele am Mythen.

Der 1.898 Meter hohe Schwyzer Hausberg ist jedes Jahr das Ziel von mehr als 44.000 Wanderinnen und Wanderern. Der Berg gehört zu den bekanntesten Gebirgsformationen der Schweiz und ziert sogar das Wandgemälde im Nationalratssaal des Bundeshauses in Bern. In Sagen erscheint das Mythenmassiv als versteinertes Königspaar, flankiert von zwei Mönchen mit spitzen Kapuzen.


Berg-, Nuss und Mandelgipfel

„Der Mythen zieht Menschen in Flip-Flops genauso an wie top ausgerüstete Sportwanderer“, erzählt Frank Wullimann, der in der fünften Saison im Gipfelrestaurant bewirtet. Jeden Morgen bäckt er Nuss- und Mandelgipfel und bietet sie im offenen Hüttenfenster feil. Ihr verlockender Duft, der sanft den Hang hinabzieht, ist für viele Gäste eine Motivationsspritze auf den letzten Metern vor dem Gipfel. Was alle spüren, bringt er gleich selber über die Lippen: „Ich freue mich über alle, die kommen, und beobachte gerne, wie sie sich über diesen einzigartigen Rundblick freuen.“

Dass am Mythen ambitionierte Wanderer auf Genusswanderer treffen, ist ganz im Sinne des Vereins der Mythen-Freunde. „Wir möchten, dass der Berg für alle erklimmbar ist, und halten den Weg entsprechend instand“, erklärt Jürg Lacher, der während 30 Jahren Wegmacher am Mythen war. „Kondition und Schwindelfreiheit braucht es aber natürlich trotzdem“, ergänzt er mit einem Augenzwinkern.

Bei der großen Wegsanierung vor 15 Jahren wurden die von den vielen Gummisohlen abgeschliffenen Steine mit einem Stockhammer aufgeraut und teilweise abgeflacht. Im Frühling putzen die Mythen-Freunde den Weg heraus, räumen Schnee und ziehen Chromstahlketten in die Halterungen als Sicherung für die Bergsteigerinnen und Bergsteiger.

„Wenn es nass ist, ist besondere Vorsicht geboten. Und bei Gewittern ist der Aufstieg wie überall in den Bergen nicht zu empfehlen“, sagt Lacher. Außerdem rät er, „im Abstieg nicht zu „juflen“. Ich habe schon öfter erlebt, dass jemand stolperte oder mit den Stöcken im Mythengestein hängen blieb.“ Dann kann es in der steilen Flanke trotz gut ausgebauten Wegs durchaus gefährlich werden.

An sonnigen Wochenendtagen halten auf dem Gipfel bis zu hundert Menschen ihre Mobiltelefone der aufgehenden Sonne entgegen. Armin Schelbert steigt zu diesem Zeitpunkt oft schon ein erstes Mal ab, „um ein ‹Ründeli› zu machen“, wie er sagt. Er kennt jeden Stein, jede Kurve. „Aber die Natur verändert sich stets. Gerade haben mich die roten Feuerlilien am Wegrand erfreut. Viele übersehen die kleinen Schönheiten, die dieser Berg bietet.“

Kaum steht die Sonne über dem Horizont, werfen die Mythen ihre langen, spitzen Schatten bis hinüber nach Seelisberg auf der anderen Seite des Vierwaldstättersees. Spätestens dann herrscht an schönen Wochenenden Hochkonjunktur am Berg: Wanderer kreuzen sich auf dem schmalen Weg, manche joggend, manche keuchend.

Die Appenzellerin Ruth Fuster, die in der achten Saison das nahegelegene, urige Skihaus Holzegg führt, will fitter werden und erklimmt den Gipfel deshalb immer wieder. „Mir gefällt die Atmosphäre am Berg“, sagt die Frau mit den wilden Locken und ergänzt: „Hier sind alle gleich, egal, ob sie zu Hause Krawatte tragen oder nicht.“ Die Schwyzer hätten sie als Kantonsfremde gut aufgenommen: „Weil die Mythenregion so klein und überschaubar ist, sind wir ein bisschen wie eine Familie.“

Längst sind nicht alle, die unweit des Massivs leben, regelmäßig auf dem Gipfel anzutreffen. Bauer Martin Holdener, der unterhalb der nahen Haggenegg Land und Vieh hat, war erst viermal ganz oben. „Das reicht mir, ich sehe ihn ja jeden Tag. Mir hat’s zu viele Leute“, sagt der Mann mit weißem Bart und wettergegerbtem Gesicht. „Trotzdem ist er mein Lieblingsberg.“

Holdener ist einer der sechs Muotathaler Wetterschmöker, „Muser“ ist sein Name als Wetterprophet. „Wenn die Mäuse, das Wild, die Regenwürmer und das Vieh aktiv sind, ändert sich das Wetter“, sagt er und zieht am Ärmel seines ausgeleierten „Gnägis“, des tarnfarbenen Unterziehers aus dem Militär. Aus Erfahrung weiß er, dass der Mythen oft Nebel anzieht, besonders, wenn eine leichte Brise geht. Martin Holdener kümmert sich aber nicht nur um die lokale Wetterprognose, sondern auch um die Haggeneggkappelle mit imposanter Sicht auf den Kleinen Mythen.

Das Amt als Sigrist hat er vor elf Jahren von seinem Vater übernommen, der 50 Jahre lang Sigrist war und die typischen Schindeln für die Fassade einst eigenhändig gespalten hatte.


Das Chappeli, wie Holdener es nennt, hat eine lange Geschichte: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die französischen Truppen Richtung Einsiedeln vorrückten, wurde das Gnadenbild der „schwarzen Muttergottes“ unterhalb des heutigen Bethäuschens versteckt. 1870 schlossen sich einige Anwohner zusammen und erbauten dort die Haggeneggkappelle. Das heutige Hochaltarbild, die „braune Muttergottes“, ist ein Ebenbild der Schwarzen Madonna.

Noch heute wird jeden Sonntag eine Messe abgehalten. „Man hat für anderes auch Zeit, dann kann man auch z’Chile gehen“, sagt Holdener. Genauso wichtig sei „Nach-Chiles“, der Schwatz nach der Messe.

„Dann tauschen wir uns aus über Gott und die Welt, das Wetter, die Berge, die Lokalpolitik.“ Letzten Sommer schlug besonders die Schließung des kleinen Bergschulhauses in der Haggenegg große Wellen. „Es ist ein Jammer“, sagt Holdener mit finsterem Blick.


Alpsegen beim Eindunkeln

Wenn es rund um die Mythen eindunkelt, dann ist das die Zeit von Robert Suter. Der Älpler bewirtschaftet seit 1999 zusammen mit seinen Eltern die Alp Zwüschet Mythen, eine der kleinsten der fünfzehn Alpen der Genossame Schwyz. Suter stand noch nie auf dem Gipfel. „Ich traue mich nicht, weil ich nicht schwindelfrei bin“, sagt der mächtige Mann, im Mundwinkel die Tabakpfeife. Oberhalb der Alp grast oft eine Gämsherde.

„Mein Fernsehprogramm“, schmunzelt Suter – und stellt die Frage, auf die er sich schon längst eine Antwort gegeben hat: „Wieso sollte ich hier weg? Ich arbeite, wo andere Ferien machen.“

In der Dämmerung holt Suter seinen Trichter aus Lindenholz von der Wand in der Gaststube. „Es walte Gott“ steht in gebrochener Schrift drauf, dazu drei Enziane. Wenn der Talwind sich abends verzogen hat, singt er der Nordwand des Großen Mythen seinen Betruf, den Alpsegen, entgegen: „Vor Hagel, Blitz und Wetterstrahl und den bösen Geistern all schütze uns Gott jetzt und alle Zeit! Ave, ave Maria!“

Zum Schluss juchzt er laut, und der mächtige Mythen wirft seinen Freudenruf zurück ins Tal.