Der Weg zum Bergsteiger
Kann man das „Bergsteigertum“ lernen? Das Junge Alpinisten Team der Österreichischen Alpenvereinsjugend versucht es.
Welch ein Ziel hat man als Jungalpinist vor Augen? Die großen Legenden und mächtigen Wände? El Capitan und Eiger? Sharma und Shiraishi? Große Sponsoring-Verträge, ein Leben als Bergführer?
Wer schon in seiner Jugend nur die Berge im Kopf hat, hat zumindest seit 2014 eine außergewöhnliche Möglichkeit, ihnen auf lange Sicht nahe zu sein. Damals suchte die Österreichische Alpenvereinsjugend erstmals junge Menschen zwischen 18 und 22, die als Team Junge Alpinisten zwei Jahre lang von erfahrenen Mentoren in allen Bergsport-Disziplinen ausgebildet werden. Um aufgenommen zu werden, müssen Bewerberinnen und Bewerber ein umfangreiches, selektives Auswahlverfahren durchlaufen. Ehrgeiz ist also Grundvoraussetzung – doch was ist eigentlich das Ziel einer Ausbildung zur Alpinistin oder zum Alpinisten? Schließlich ist, im Gegensatz etwa zur Bergführerausbildung, am Ende nicht klar, ob der Alpinismus nun Beruf oder Hobby ist.
Felix Gruber aus dem Salzburger Lungau ist ein ruhiger, besonnener Typ. 23 Jahre alt, wuschelige Locken, der Dreitagebart gekrönt von einem dichten Schnauzer. Wie sein zwei Jahre jüngerer Bruder Simon hat er es 2020 ins Team geschafft. Er lässt sich Zeit, bevor er antwortet: „Es klingt vielleicht brutal, aber mein Ziel ist es, alt zu werden. Ich will gesund vom Berg zurückkommen. Ich möchte nicht meinen Hals für eine krasse Wand in Pakistan riskieren. Aber es juckt mich natürlich, mich in spannendem Gelände zu bewegen, in dem auch ein hohes Grundrisiko herrschen kann. Dafür trainiere ich.“
Es ist eine reflektierte Antwort – und durchaus auch eine Antwort, die überrascht. Letztendlich ist der Bergsport eben das: ein Sport. Und im Sport geht es unweigerlich um das Erbringen von Leistung und sich ständig zu verbessern. Da sind Schwierigkeitsgrade, die geklettert, und Gipfel, die bestiegen werden möchten. Erstbegehungen locken, und Speed-Rekorde sollen fallen.
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Bei einem Nachnamen, wie Felix und Simon ihn mitbringen, wäre das doch ein Traum: Möchten sie nicht als „Gruberbuam“ in die Fußstapfen der berühmten Huberbuam treten? Felix muss schmunzeln. „Vom Talent her sind wir eher die Decathlon-Version der Huberbuam“, grinst er. „Das Profi-Bergsteigertum reizt mich nicht.“
Sein Blick wird wieder ernst, als er versucht, seinen Zugang zum Bergsport zu definieren. „Die Alpinisten, die ich am spannendsten finde, sind nicht die Show-Typen. Natürlich sind Leistungen faszinierend und inspirierend, aber mich beeindruckt immer das Menschliche. Das Feuer und die Einstellung.“ Und wofür brennt Felix, der Student der Atmosphärenwissenschaften? Für ästhetische Routen, sagt er, für Wände, die er einmal gesehen hat und die ihn einfach nicht loslassen.
Das Handwerk Bergsteigen lernen
Vielleicht kann man die zwei Jahre bei den Jungen Alpinisten als eine Art Handwerksausbildung verstehen. Alle zwei Monate bricht das Team gemeinsam auf, um seine bergsteigerischen Fähigkeiten zu erweitern. In jeweils drei bis fünf Schulungstagen, die im Team-Jargon „Updates“ und „Next Steps“ heißen, geht es auf Hochtour, zum Eisklettern oder Trad Klettern, auf Gletscher und Grate, in die Kletterhauptstadt Arco am Gardasee und schließlich im Herbst 2022 auf Abschlussexpedition – zu einem noch unbekannten Ziel.
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Begleitet werden sie unter anderem von Matthias Wurzer, Bergführer aus Kals am Großglockner. Er ist einer der Mentoren bei den Jungen Alpinisten, und ihn kann man fragen, ob man das Bergsteigertum eigentlich wie ein Handwerk erlernen kann. Matthias überlegt länger. „Ja, ich denke schon“, sagt er schließlich. „Aber neben dem handwerklichen Fundament braucht es noch einiges mehr, um selbständiger Alpinist zu sein. Die alpinistische Ausbildung passiert fast schon automatisch. Aber der Berg fordert den Menschen in seiner Gesamtheit. Und dementsprechend haben wir einen ganzheitlichen Anspruch, der weitaus mehr als das Handwerk umfasst. Es geht um mentale Stärke und Reife. Darum, Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können und zu wollen.“
Der 37-Jährige war am Auswahlverfahren des Teams beteiligt. Aus 50 Bewerbungen wurden im Oktober 2020 zwanzig Anwärter und Anwärterinnen zu einem Wochenende persönlichen Kennenlernens eingeladen. „Und in den Tagen haben wir natürlich geschaut, wer technisch versiert ist und ein alpinistisches Grundniveau mitbringt. Aber der soziale Aspekt stand eigentlich im Vordergrund: Wie fügt sich der Charakter in das Team ein, welche Rolle könnte sie oder er einnehmen?“ Schlussendlich ist daraus das zehnköpfige Team des dritten Jahrgangs junger Alpinisten geworden, das mittlerweile die Halbzeit der Ausbildung erreicht hat.
Das erinnert an Felix und wie sehr er den Gemeinschaftssinn des Teams betont. „Wir sind nicht zehn individuell starke Kletterer, die nicht zusammenarbeiten können“, hatte er gleich zum Auftakt des Gesprächs unterstrichen, „wir sind komplett unterschiedliche Typen mit ganz unterschiedlichen Stärken – und ich kann von jedem andere Sachen mitnehmen. Der eine ist ein Top-Tourenplaner, der Nächste ist brutal stark in der Wand, der andere ist ein superwitziger Typ, mit dem man immer Spaß hat.“
Eine Schule fürs Leben
Hanna Löberbauer scheint in diesem Team ein wichtiger Kitt zu sein. Wer mit ihr auf Skitour geht, lernt eine zurückhaltende Frohnatur kennen, die ihr Lächeln selbst im knackigsten Steilstück nicht verliert. Ihr Atem geht ruhig, während sie redet und man merkt, dass das auch noch bei doppelt so schnellem Tempo der Fall wäre. „Das Team“, sagt sie, „ist für mich der absolut wichtigste Gewinn, den ich aus dem Projekt mitnehme.“ In ihrer Heimat Mondsee waren die Möglichkeiten für sie begrenzt. „Mir hat vor allem auch das Umfeld gefehlt.“
Dabei hatte sie sich schon als Sechsjährige nichts sehnlicher gewünscht, als in den Kletterkurs gehen zu dürfen. Den gab es aber nur für Erwachsene, samstags um 20 Uhr. So musste sie sich noch ein paar Jahre gedulden, bevor sie mit dem Klettern loslegen konnte. Seitdem verfolgt sie ihren Sport ambitioniert und diszipliniert. Dennoch hatte die Sportwissenschafts- und Lehramtsstudentin ursprünglich niemals gedacht, dass sie es ins Team schaffen könnte. Beworben hat sie sich dennoch. Wieso es nicht versuchen? Was hat man zu verlieren? Mit der gleichen Einstellung nimmt sie neue sportliche Herausforderungen an: „Wenn man nix kann, kann man nur besser werden.“
Was sie nicht konnte: eisklettern. Beim sogenannten Update im März 2021 im Eispark in Osttirol war es dann ihr Ausbildungskollege Felix, der auf sie zukam und anführte. Mentor Matthias nahm sich hingegen zurück. „Es ist auch für mich eine spannende Sache, weil meine Rolle nicht die des Führers ist, sondern des Begleiters auf Augenhöhe. Das ist ganz entscheidend. Ich gebe Verantwortung ab und bin nicht der, der als Erster einen Hang hinauf spurt.“ Die Jungen Alpinisten sollen nicht nur von den Mentoren, sondern auch voneinander profitieren.
Was zeichnet für Hanna eine gute Alpinistin aus? „Das Können, die Erfahrung, das Einschätzungsvermögen. Aber vor allem musst du in heiklen Situationen Ruhe bewahren und mit Selbstvertrauen und Selbstsicherheit agieren.“ Das Selbstvertrauen spielt auch für Felix eine entscheidende Rolle – und das auch in dem Sinne, wenn es gilt die Entscheidung zu treffen, dass ein Hang nicht befahren oder ein Ziel nicht erreicht wird. „Ich kann sehr gut umdrehen“, betont er. „Ich brauche keine Entschuldigung. Ich kann einfach sagen, dass ich Angst hatte. Das auszusprechen fühlt sich gut und richtig an. Man hat die richtige Entscheidung getroffen, wenn man gesund nach Hause kommt.“ Frust über das Scheitern, so sagt er, empfinde er nicht. „Enttäuschung vielleicht, aber der Erfolg ist nicht zwingend, wenn man auf dem Gipfel steht. Schon allein wenn man es probiert, macht man seine Erfahrung und hat somit einen Gewinn.“
Ein Ziel hat Felix dann doch noch: Er möchte versuchen, Bergführer zu werden. Nicht hauptberuflich, aber als zweites Standbein. Und Hanna? Sie hatte nie im Sinn, Bergführerin zu werden. Bisher. Langsam keimt jedoch der Gedanke, es doch zu probieren. Nicht als Kür ihres Junge-Alpinistinnen-Daseins, sondern um noch umfassender zu lernen und anderen prägende Bergerlebnisse zu ermöglichen.
Es sind keine Erstbegehungen, Speed-Rekorde oder Social-Media-Likes, die das Junge Alpinisten Team antreiben. Es geht um Selbsterfahrung und Identitätsfindung, um Grenzüberschreitung und Umkehr, um Leidenschaft und Leistung, um Gemeinschaft und Naturerfahrung, um Freiheit und Naturgesetze. Das Bergsteigen, das kann man aus den Gesprächen mit Hanna und Felix mitnehmen, ist eine Schule fürs Leben – und eine Schule ohne Abschluss.
Infos: Der vierte Durchgang von Junge Alpinisten Teams wird im Herbst 2023 starten und bis 2025 dauern. Bewerben kann man sich ab Frühling 2023 auf der Website des Programms.