Simon Messner: Vier Türme, vier Routen, ein Alleingang
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von Simon Messner
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner, Sohn der Bergsteigerlegende Reinhold Messner, von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: Über das Potential von Möglichkeiten, die sich spontan ergeben.
Natürlich sind gründliche Planung und eine gute Vorbereitung am Berg wichtig, damit Vorhaben gelingen können. Wer aber flexibel bleibt, ohne sich ausschließlich auf das eine „große Ziel“ zu fixieren, wird auf die Dauer mehr erreichen. Denn das Gebirge, das unberechenbar bleibt, lehrt uns, dass wir schlicht und einfach nicht alles planen können.
So fuhr ich am Morgen des 3. Juli mit einem großen Becher Kaffee als Begleitung in Richtung Dolomiten, um mir eine Route für eine mögliche Erstbegehung aus der Nähe anzuschauen. Doch bei „Plan de Gralba“ im Grödnertal war die Straße gesperrt. Ein Polizist sagte mir, dass ein Radrennen stattfinden und die Straßen um den Sellastock bis zum frühen Nachmittag gesperrt bleiben würden. Hier war also erstmals Endstation und so stand ich – einige Minuten später und ein wenig verloren – auf einem überdimensionierten Parkplatz. Dieser Ort, der von Minute zu Minuten hektischer wurde, war so ziemlich das Gegenteil von dem, worauf ich mich eingestellt hatte. Sollte ich heimfahren, schwimmen gehen, mir ein Eis holen? Nein, das konnte es nicht sein – jedenfalls nicht für mich.
Neue Ziele
Dann aber – zuerst zaghaft, dann immer klarer – skizzierte ich in meinem Kopf eine Idee, die zur Sehnsucht wurde: An gewöhnlichen Tagen waren die Sellatürme, die vom Parkplatz aus zu sehen waren, um diese Jahreszeit zumeist überlaufen. Doch heute, dank der Straßensperre, dürfte dem nicht so sein. Was, wenn ich von hier zu Fuß losgehen würde, um an den Sellatürmen eine oder zwei Route Solo zu klettern? Zum Beispiel die „Messner Führe“ von 1968, welche in direkter Linienführung durch die Nordwand des zweiten Turms führt. Diese Route hatte mich immer schon gereizt und nun war die Zeit dafür gekommen. Positive Nervosität stieg in mir auf. Eilig stopfte ich einen Gurt, eine dünne 50-Meter-Reepschnur, ein paar Karabiner sowie einen Riegel und einen Liter Wasser in meinen Rucksack und ging los.
Eine gute Stunde später stand ich bereits unter der steilen Nordwand des vierten Sellaturms und versuchte mich an eine Durchsteigung der „Malsiner/Moroder“ (300m, VI+) zurückzuerinnern, die ich vor einigen Jahren zusammen mit einem Freund gemacht hatte. Grob konnte ich mich noch erinnern, das reichte mir und ich stieg ein.
Heute war mein Tag, das spürte ich. Nur der kalte Fels so früh am Morgen ließ meine Finger einfach nicht warm werden. So kam es, dass ich in den ersten 100 Metern öfter stehen bleiben musste um meine gefühllosen Finger zu wärmen. Dann aber kam ich in Fahrt und kletterte mit großem Selbstvertrauen höher. Immer mal wieder hielt ich inne um meine verkrampften Unterarme zu lockern, aber dann stand ich auch schon auf dem morgendlichen Gipfel. Ich fühlte mich der Welt entrückt.
Der Tag war noch jung und etwas in mir wollte weiter! Also seilte ich mit der 50 Meter langen Reepschnur ab, welche ich genau für diesen Zweck bei mir trug. Wenig später war der „Vinatzer“ (350m, VI-), am Wandfuß des 3. Sellaturms, erklommen.
Ohne wirklich darüber nachzudenken, stieg ich abermals ein. Diese Route war ich schon öfter geklettert – einmal sogar solo – und dementsprechend gut kannte ich sie. Trotzdem würde ich nicht behaupten, die Route wäre leicht gewesen. Aber der „Flow“, der sich nun in mir einstellte, ließ mich alles um mich herum vergessen. Eine für mich unbestimmbare Zeit später spuckte er mich am Gipfel wieder aus. Ich war zwar gefordert gewesen, aber ich fühlte mich in meiner geistigen Versunkenheit kein einziges Mal überfordert. Ich hatte meinen Rhythmus gefunden, ich ging vollkommen auf in dem was ich tat. Die Frage der Sinnhaftigkeit stellte sich mir erst im Nachhinein.
Rush Hour
Unterhalb der Nordwand des 2. Turms ging es bereits geschäftig zu. Anscheinend hatte es ein paar Kletterer trotz der gesperrten Straßen hierher verschlagen. Während eine Dreierseilschaft mit Abseilen beschäftigt war, stieg eine weitere Seilschaft gerade in die „Messner“ (300m, VI-) ein. Kurz überlegte ich, ob ich nicht eine andere Route wählen sollte, doch dann entschied ich mich zu warten. Denn genau diese Route wollte ich schon immer solo klettern und ich hätte es mir nicht verziehen, hätte ich nun umgeschwenkt. Also setzte ich mich am Wandfuß hin, drehte eine Zigarette und beobachtete was um mich herum passierte.
Einer der drei Italiener, die sich abgeseilt hatten, meinte, sie hätten den Weg nicht gefunden. Hoffentlich passiert mir nicht dasselbe, dachte ich mir noch und stieg ein. Schon am ersten Standplatz überholte ich die Seilschaft vor mir und merkte gleichzeitig, dass ich langsam aber sicher müde wurde, vor allem mental. In der Nische unterhalb der Schlüsselstelle setzte ich mich hin und aß die Schokolade, doch der Zucker half nicht gegen meinen Durst, der an meiner Konzentration zu nagen begann. Und so kam es wie es kommen musste: im oberen Teil der Route verstieg ich mich. Irgendwo zwischen der „Messner“ und der „Fata Morgana“ (Eisendle & Kammerlander) musste ich sein, nur wo genau, das wusste ich nicht.
Auf gut Glück nach rechts zu queren, traute ich mich ungesichert nicht, also nahm ich meinen Mut zusammen und kletterte einfach gerade weiter. Am Gipfel musste ich mich setzen und ein wenig zur Ruhe kommen sowie ein ernstes Wörtchen mit mir reden. Bisher hatten sich alle von mir getroffenen Entscheidungen richtig angefühlt. Doch die letzten Minuten waren ein klares Zeichen von Dehydrierung: ich war müde, unkonzentriert und hatte viel zu leichtsinnig viel zu viel riskiert!
Natürlich hätte ich den Tag mit diesem einschneidenden Erlebnis ausklingen lassen können. Doch als ich kurze Zeit später unter der Südwand des 1. Sellaturms querte, konnte ich nicht anders als auch noch diesen Turm zu erklettern um mein spontanes Solo-Enchainment aller vier Sellatürme zu einem runden Ende zu bringen. In Turnschuhen (um meine schmerzenden Zehen zu schonen) stieg ich in die „Pilastrini-Führe“ (150m, V) ein und stand kurze Zeit später am höchsten Punkt.
Müde und durstig, aber getragen von jener Leichtigkeit, die sich nur dann einstellt, wenn wir zufrieden mit uns sind, stieg ich ab. Es war mir gelungen, aus einem beinahe verlorenen Tag etwas für mich überaus Wertvolles entstehen zu lassen. Eine Erfahrung, die mir einmal mehr aufgezeigt hat, dass Spontanität Erstaunliches zu Tage bringen kann.
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Seit Anfang des Jahres lest ihr auf bergwelten.com regelmäßig Simons Kolumne. Einmal im Monat erzählt er Geschichten aus seinem Leben als Alpinist und setzt sich mit den großen Themen des Bergsports auseinander. Seine bisherigen Beiträge könnt ihr hier nachlesen:
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