Hinter den sieben Bergen: Klettern im Gesäuse
Foto: Bernhard Fiedler
Das große Gesäuseproblem: 1925 haben es die Münchner vor den Wienern gelöst, heute gehört es zu den Klassikern des Kletterns. Eine Spurensuche im wilden Herzen der Steiermark.
Klaus Haselböck für das Bergweltenmagazin April 2016
Mönche und Kletterer haben im Gesäuse eines gemeinsam: Ihr Tag beginnt früh. Während sich in Admont die einen im Stift zur Morgenandacht versammeln, fahren die anderen auf leergefegten Straßen entlang der Enns nach Gstatterboden.
Der Fluss macht dabei klar, wem die Ewigkeit gehört: Über die Jahrtausende hat die Enns eine 15 Kilometer lange Schneise durch den mächtigen Kalkstock gegraben.
Die Schluchtstrecke, die von Admont bis nach Hieflau führt, trennt die Buchsteingruppe im Norden von der Gipfelkette des Hochtors, der mit seinen 2.369 Metern der höchste Punkt der Ennstaler Alpen ist, und dem Reichenstein-Massiv im Süden.
Zudem gibt der Fluss dem wilden Herzen der Steiermark den Namen: „Xeis“ zischen die Einheimischen, wenn sie von den bizarren Zinken, Graten und Platten sprechen, und ahmen damit das Gurgeln, Schäumen und Brausen der Enns nach. Selbst hoch oben im steilen Fels ist es immer noch zu hören.
Bis dahin braucht es aber noch Geduld. Denn vor das Klettern im Gesäuse hat Gott den Zustieg gestellt. Und der fällt im steirischen Kernland fast so lange aus, wie hier die Wände hoch sind.
Der mit Schotter und Geröll durchsetzte Steig ist der klassische Anstieg zu den nordseitigen Klettertouren, der Weg der Pioniere. Jürgen Reinmüller verkörpert die nächste Generation leistungsfähiger Alpinisten und hat längst vergessen, wie oft er den Weg ins Haindlkar schon gegangen ist.
„Ich bin in der Wand groß geworden“, sagt der 33-Jährige mit den blitzblauen Augen. Und das ist kein Understatement: Der aus Admont stammende Bergführer und Alpinschulleiter blickt bereits auf zwanzig Jahre eigene Klettergeschichte in den abgelegenen Gesäusebergen zurück.
Initiation in der Wand
In die wuchtige Planspitz-Nordwestwand, die von Gstatterboden aus als markantes Dreieck gut sichtbar ist, nahm ihn der Onkel, damals Obmann der Bergrettung, noch als Kind mit. Mehr als 600 Meter ragt der Felsschild auf, an seiner Basis ist er über einen Kilometer breit.
Den Tag in der riesigen Wand erlebte Jürgen wie eine Initiation: „Alles lief wie im Film ab.“ Es dürfte aber kein Horror-Movie gewesen sein: Denn drei Jahre später, mit zarten 15, durchstieg er die Dachl-Nordwand, den Heiligen Gral des Gesäuses. Und unser heutiges Ziel, die Nordwestkante der Roßkuppe, kletterte er ebenfalls als Jugendlicher.
Wie trotzige Riesen stehen die drei Berge vor uns, als wir sie nahe der charmanten Haindlkarhütte, dem traditionsreichen Basislager für alle nordseitigen Touren, auf den Ausläufern des „Peternpfades“ traversieren. Es ist noch kühl hier, denn bis zum späten Vormittag hat die Sonne nicht einmal eine Chance, den Fels mit ihren Strahlen zu verwöhnen.
Lange Zeit schien diese kompakte Mauer undurchdringlich. Im 19. Jahrhundert fand der Holzknecht und Wilderer Andreas Rodlauer einen Weg über das Gebirge.
Waren die Jäger dem „Schwarzen Peter“ – Rodlauer konnte seine Identität zeitlebens verbergen – dicht auf den Fersen, so verschwand er vor ihren Augen in den Felsen und war längst wieder in Johnsbach, wenn diese dort auftauchten. Später ermöglichte er Heinrich Hess, dem „Vater des Gesäuses“, Begehungen des nach ihm benannten Peternpfades und des Kleinen Buchsteins.
Die Wiener Schule im Gesäuse
Die Erschließungstätigkeit von Hess machte die abgeschiedene Region auch für Menschen reizvoll, denen es nicht ums Wildbret ging. Und die kamen vor allem aus der Bundeshauptstadt: Die Elite der „Wiener Schule“ des Bergsteigens – Männer wie Hubert Peterka, Hans Schwanda oder Fritz Kasparek – begann, die abweisenden Wände, Pfeiler und Grate ab den 1920er-Jahren systematisch zu erschließen, und erlebte hier eine neue alpine Dimension.
Für Kletterer, so sagte man damals, war der Peilstein die Volksschule; in die Hauptschule ging man auf der Rax; und maturiert wurde am Wilden Kaiser. Aber wer in die Hochschule wollte, der pilgerte ins Gesäuse.
Die Wiener Bergsteiger genossen zudem den Vorzug der „Kronprinz Rudolf-Bahn“, die die Studierenden vom Westbahnhof nach Gstatterboden, Johnsbach oder Admont brachte. Und für Unterkünfte am alpinen Campus war mit der Ennstalerhütte, der Hesshütte, dem Admonterhaus, der Mödlingerhütte oder der Haindlkarhütte ebenfalls gut gesorgt.
Trotzdem bissen sich die Wiener an der Roßkuppenkante, dem „großen Gesäuseproblem“, lange die Zähne aus. Ausgerechnet zwei Vertretern der konkurrierenden „Münchner Schule“, Fritz Hinterberger und Franz Sixt, gelang 1925 der Durchstieg – allerdings wichen sie der Schlüsselstelle mit einem Seil-Quergang aus. Ein Umstand, den puristische Wiener mit einem abschätzigen Nasenrümpfen quittierten.
Am Zustieg zur eigentlichen Tour hat sich seitdem nichts geändert: Um zum Anseilpunkt zu kommen, müssen wir – typisch Gesäuse – noch die Aufnahmeprüfung bestehen und uns durch übles Schrofengelände hinaufarbeiten.
Dafür sind die Stände heute gebohrt – eine Konsequenz aus fatalen Seilschaftsstürzen in klassischen Routen. Wie begehrt der steirische Kalk über die Jahrzehnte gewesen ist, erleben wir an der Schlüsselstelle: Der Fels des Heinriss ist so poliert, dass wir die heikle Passage lieber mit einem beherzten Griff in die Expressschlinge überwinden.
In Sachen Bohrhaken übt man sich sonst aber in Zurückhaltung. „Das Potenzial im Xeis liegt darin, dass nicht alles saniert wurde. Auch wenn manche Bereiche zurzeit nicht genutzt werden, schonen wir die Ressource“, so Jürgen, der es für die 15 Seillängen der immerhin mit 6+ bewerteten Tour nicht für notwendig befindet, Kletterschuhe anzuziehen.
Dass es nach dem Ausstieg zum Gipfel noch seilfrei über knifflige Felspassagen geht, darf nicht stören: Das Gesäuse ist die Hochschule – und da treffen sich die gereiften Bergsteiger mit Sinn für alpine Abenteuer.
Wem der Norden zu streng ist, der rollt das Gebirge, das seit dem Jahr 2002 als Nationalpark besonderen Schutz erfährt, vom Süden auf. So wie Kristina „Krilli“ Gruber: In Admont zur Schule gegangen, liebt sie das Gesäuse gerade wegen seiner Stille.
Denn überlaufen sind die Klettertouren mit dem wunderbar rauen Fels, zu denen von Johnsbach aus gestartet wird, genauso wenig. Die Zustiege fallen zwar kürzer aus, aber einen vollen Tag muss man sich bei Klettertouren wie dem Waidhofnerweg am Kleinen Ödstein trotzdem Zeit nehmen.
Unterschätzen sollte man das Klettern im sonnenverwöhnten Süden genauso wenig: „Hier ist nichts ein Klacks“, so Kristina, die zurzeit in Innsbruck Sport studiert. Denn mit Haken wird hier ebenso gegeizt wie im Norden, und der Nervenkitzel gehört selbst bei leichten Routen immer dazu: „Bist du einmal eingestiegen, dann musst du eine Route auch zu Ende bringen.“
Dass Jürgen also den Vorstieg durch die gewaltigen Felsrippen übernimmt, freut sie sehr: „Ich bin nicht so eine wilde Henne.
Der Traum vom freien Buhlweg
Um die gut 1.000 Routen des Gesäuses zu klettern, reicht ein Leben nicht aus. Nicht einmal für Jürgen Reinmüller. Ein Traum nimmt für ihn aber schon sehr konkrete Formen an: die freie Begehung des Buhlwegs.
Diese berühmte Route hat die geniale Seilschaft Klaus Hoi und Hugo Stelzig im Jahr 1962 in einer kühnen Dreitagesaktion am berüchtigten Dachl eröffnet. Mit den in dieser Zeit beim Klettern schwieriger Routen üblichen Strickleitern, Trittschlingen und Schlaghaken, an denen man sich festhielt, kämpften sie sich durch den Überhang.
Der Admonter sieht Möglichkeiten, den Buhlweg frei – also ohne künstliche Hilfsmittel – zu durchsteigen. Die einzelnen Seillängen hat er allesamt schon geschafft, nun muss er sie noch zusammenhängen.
Drei – laut Jürgen – „brutal schwierige Klettermeter“ im 10. Schwierigkeitsgrad gelten als Schlüsselstelle. Leicht ist es aber auch davor keinesfalls: „Da kommt man schon ziemlich an’brennt hin.“ Sollte das Projekt gelingen, wird dies die schwierigste Kletterroute im Gebirge an der Enns sein.
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