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Hinter den sieben Firsten: Die Churfirsten

Regionen

7 Min.

17.10.2021

Foto: Elias Holzknecht

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Jeder steht für sich, und dennoch bilden sie eine unverrückbare Einheit. Die Churfirsten sind schräge Berge – stark, stattlich und sieben an der Zahl.

Sissi Pärsch für das Bergweltenmagazin Februar 2019

Wir sind schon etwas verschwitzt, als wir in Tonis alter Stube ankommen. Hinter uns liegt die weite, saftig-grüne Ebene der Alp Sellamatt. Vor uns spitzt sich ein Churfirst nach dem anderen zu. Sieben Stück sind es an der Zahl, einer wunderlicher als der andere: grün und schräg steigen ihre Rücken von der Toggenburger Seite auf, felsig und steil stürzen sie auf der anderen Seite 1.800 Meter zum Walensee ab. So weit sind wir allerdings noch nicht.

Noch stehen wir im Brisizimmer, so der Name der Alp am Fuße des Brisi, dem breitesten Berg der Churfirsten, der ihre Mitte füllt. Über Jahre war dieser Fleck das Zuhause unseres Begleiters Toni Grob. Die Alp, sie hat seinem Großvater gehört, und als „Springbub“ verbrachte Toni hier viele Sommer, melkte am Berg und trug die Milch nach unten.

Heute noch setzt der 75-Jährige so vertraut wie sicher Fuß auf Stein. Das eine oder andere mag sich verändert haben – vieles aber sei geblieben so wie immer, lächelt Toni und blickt hinauf zum markanten, formschönen Brisi.

Langsam beginnen wir den Aufstieg. Barfuß seien sie damals hier entlang gesprungen, erzählt Toni: „Durch unsere Lederhautsohle konnte kein Stein, kein Nagel stoßen.“ Sie hatten nicht viel damals, aber immer zu essen, „also waren wir nicht wirklich arm“.

Der kleine Bub ist zu einem stattlichen Mann mit lebhaften Augen und ruhigem Gemüt herangewachsen. Erst war er Bauer, dann hat er als Geschäftsführer der Raiffeisen-Genossenschaft die Milch entgegengenommen. Heute kümmert er sich um die Wanderwege, geht jedes Frühjahr gute 100 Pfadkilometer ab, kontrolliert den Zustand und die Markierungen.

2.279 Meter ist der Brisi hoch. Das weiche Moos federt unsere Tritte ab – „wie Schall- und Stoßdämpfer“, sagt Toni. Tonis Hund Rocky spurtet vor und zurück, als gäbe es keinen Anstieg und keine Unwegsamkeiten – so macht er einen Churfirst siebenmal an einem Tag. Toni erklärt derweil die Vielfalt an Fauna und Flora und entdeckt Gämsen und Schneehühner. Die Schafe und ihre Lämmer braucht man hingegen nicht zu suchen, die stellen sich uns in den Weg und bimmeln nur langsam weiter. „Sollen wir dem Gipfel die Aussicht stehlen?“ fragt Toni. Unbedingt.

Die Chufirsten fallen steil ab, der Brisi bricht ins Leere. Welche Aussichten! Tief, tief unter uns blendet das Blau des Walensees herauf. Links die Berge des Engadins, die Schneeberge Palü, die Bernina-Gruppe, weiter rechts der Glarnisch. „An manchen Tagen sieht man den Mont Blanc“, sagt Toni und krault Rocky am Kopf. Es ist schwer, sich von diesem Blick loszureißen. Aber es lohnt, wenn man die Blickrichtung auch einmal wechselt: Wir sehen den Säntis und dahinter den Bodensee, linker Hand tief hinein ins Toggenburg, und rechter Hand windet sich der Rhein.


Wenn der Bestatter kommt

Der Abstieg führt in die andere Richtung. Am Füße der Churfirsten führt Toni uns bis zu ihrem Rechtsaußen, dem Selun. Zur Schonung der Gelenke und Muskeln – und weil es eine Schau ist – geht es von den Alpwiesen auf 1.579 Metern mit der Selunbahn wieder ins Tal – und das auf sehr rustikale Art. Die 1911 errichtete, aber zwischenzeitlich sanierte Bahn besteht aus einer einzigen offenen Kiste und fordert den Passagieren mehr Schwindelfreiheit ab als so manch spektakulär inszenierter Aussichtsbau in den Alpen. Vor der Steilfahrt ins Tal steht jedoch die Einkehr in der Ochsenhütte an.

Bald kommt der Bestatter, sagt Mirta, die Wirtin der Ochsenhütte am Fuß des Selun. Sie lacht, denn Grund zur Trauer gibt es glücklicherweise keinen. Eine Folge der TV-Serie „Der Bestatter“ um Luc Conrad soll bei Mirta gedreht werden. Die Kulisse rund um die urige Ochsenhütte ist jedenfalls definitiv Filmreif. Mirta schüttelt zweifelnd den Kopf. „Ich kenne die Serie ja nicht“, meint sie.

„Ich sehe nicht fern, sondern schau mir Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an. Die sind jeden Tag anders, jeden Tag schön.“ Schön sind auch die 49 Stück Vieh, die sie hier oben auf 1.677 Metern hat, schwarze und rote Angus-Rinder.

„Wozu braucht man eine Inszenierung, wenn man eine solche Landschaft hat?“, wird auch Mélanie Eppenberger ein paar Tage später fragen. Sie zeigt hinüber auf die Churfirsten und zeichnet deren Konturen mit dem Finger nach. Dann bittet sie uns hinein in ihre Stube in Wildhaus. Wir müssen uns tief ducken für das 250 Jahre alte Haus, „bei dem alles genau so angelegt und gebaut ist, wie es sein soll: der Platz des Kachelofens, die Ausrichtung der Fenster, die Linde davor“.


Die 40-Jährige, die ursprünglich aus Lyon stammt, ist heimisch geworden in diesen kleinen Zimmern, die ihr „so viel Raum und Luft zum Atmen“ geben. Ihr Mann, ein geborener Toggenburger, hat sie mit nach Hause geführt, und Mélanie hat schnell bemerkt, „wie wunderbar es ist, wenn man entschleunigen muss“. Sie deutet auf die aus- und eingetretenen und unebenen Holzdielen unter unseren Füßen: „Auf diesem Boden kann man nicht rennen.“

Anfangs hat sich die Französin aber vor allem gewundert: „Wie kann sich eine Region ihre Ursprünglichkeit und Natürlichkeit so bewahren, wo es von hier doch nur eine Stunde nach Zürich ist?“ Inzwischen trägt sie selbst bei zu einer bedächtigen Entwicklung des obersten Toggenburgs. Den Anfang machte sie auf 2.262 Metern: Auf dem Hochplateau des Chäserrugg, dem östlichsten der Churfirsten, steht seit 2015 ein Bauwerk, das so schlicht wie spektakulär ist – und das Mélanie für die Toggenburg-Bergbahnen initiierte, denen sie gemeinsam mit ihrem Mann vorsteht.

Auf den Chäserrugg gelangt man ab Unterwasser zunächst mit der 1934 errichteten Standseilbahn, die über ein Viadukt den Iltios erklimmt. Von dort dann schwebt man über die weite Grasflanke hinauf und schließlich hinein in die Bergstation.

Wie ein schützendes Zelt spannt sich das Holzdach über das Gebäude. Auch die Ummantelung besteht aus hellem heimischem Holz – und viel, viel Glas. Weit, offen und hoch ist das Restaurant, mittendrin ein Kamin mit Sofas. Von den Decken fallen zig Leuchten schnurgerade herab. Es ist ein besonderes Berghaus – entworfen von den Basler Stararchitekten Herzog & de Meuron.


London, Hamburg, Toggenburg

Tate Modern in London, Elbphilharmonie in Hamburg, Allianz Arena in München – und Chäserrugg im Toggenburg? Mélanie Eppenberger lacht. Sie hatte Pierre de Meuron zufällig auf einer Feier entdeckt, sich ein Herz gefasst und ihn einfach angesprochen. „Ich hatte mir Architekten gewünscht, die nicht für sich, sondern für den Ort bauen“, erklärt sie. Und tatsächlich: de Meuron „war sofort neugierig, kam kurzfristig und sagte prompt zu“.

Der helle, großzügige Gipfelbau scheint zunächst wenig gemein zu haben mit den traditionellen Häusern und Höfen im Tal. Doch auf den zweiten Blick eröffnen sich die Referenzen, ob in den unscheinbaren Nischen, in die man sich zurückziehen kann, oder beim unbehandelten Holz, das von Toggenburger Handwerkern verbaut wurde. Nicht nur als Arbeitgeber hat der Bau mit seinem flügelförmigen Dach der Region zusätzlich Schwung verliehen.

Mit sehr viel Schwung – speziell am Berg – sind auch Denise Steiner und Roger Fuchs unterwegs. Und auch bei ihnen gab letztendlich ein Gebäude den Anstoß, ihr Leben in eine ganz neue Richtung zu lenken. Eine alte Metzgerei markierte 2004 den Anfang ihrer Biker-Karriere. Die Immobilie schien perfekt. „Wir schoben die Kühltheken raus und stellten die Velos hinein“, erzählt Denise, während wir mit E-Bikes zur Sellamatt hochtreten. „Natürlich war das ein großes Wagnis, aber wir wollten unsere Leidenschaft zum Beruf machen.“

Der Erfolg gibt ihnen recht: Ihr Shop, die „Velo-Metzg“, läuft so gut, „dass wir selbst allzu selten zum Biken kommen“.

Umso freudiger sitzen sie jetzt auf dem Sattel und fahren mit uns die gesamte Churfirsten-Kette ab. Die Motorunterstützung lässt Roger ausreichend Luft, um uns die einzelnen Firsten zu charakterisieren. Vom relativ flachen, „gut machbaren“ Selun zum fordernden Zuestoll, auf den man mit „Händen und Füssen hochkraxeln muss“.

Der Frümsel ist „streng und ausgesetzt“, der Schibenstoll „der Außenseiter“. Ist die Region im Oberen Toggenburg vielleicht auch ein wenig Außenseiter? So ohne große Touristenströme und Unterhaltungsspektakel als Land hinter den sieben Bergen, wo es noch sehr ursprünglich zugeht?

„Für mich ist die Ruhe durchaus mehr Segen als Fluch“, sagt Denise, „auch wenn es manchmal mühsam ist, Dinge anzuschieben.“ Wie auf Kommando richtet sich eine steile Rampe vor uns auf, und wir schalten kollektiv auf Turbo. Oben muss Denise lachen: „Ich wollte gerade noch sagen: Das Gute bei uns ist, dass man nicht immer Gas geben muss.“

Ab und zu aber offensichtlich schon. Roger grübelt: „Es ist schon gut, dass wir hier ein wenig anders sind – wenn das bedeutet, dass die Kinder noch zu Fuß zur Schule gehen können und dass sie im Winter beim Skifahren nicht verloren gehen. Oder dass man ein soziales Zusammenleben hat und das Brauchtum pflegt.“

Der ehemalige Kaminfeger mit dem roten Rauschebart kann auch von Konflikten und zermürbenden Diskussionen erzählen. „Aber vielleicht“, sagt er schließlich, „ist das mit uns wie mit unseren Firsten: Jeder steht markant für sich, aber sie bilden eine feste Einheit.“


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