Im Reich der Gletscher: Das Allalinhorn
Im Sommer ist das Allalinhorn für viele Alpinisten der erste Viertausender. Im Winter kann man den 4.027 Meter hohen Gipfel über Saas-Fee ganz für sich allein haben, wenn man es denn hinaufschafft.
Caroline Doka für das Bergwelten-Magazin Schweiz Dezember 2019/Jänner 2020
Das fahle Licht des Mondes fällt in klaren Nächten auf das Allalinhorn und erleuchtet die zauberhafte Gletscherwelt hoch über dem Saas-Tal. Am Weihnachtsabend und an anderen Feiertagen überlassen die Saaser allerdings nichts dem Zufall.
Dann wird der markante Viertausender mit Scheinwerfern in Szene gesetzt wie der Hauptdarsteller auf einer riesigen Bühne. Gestern Abend jedoch war der Gipfel hell erleuchtet, obwohl ein ganz normaler Wochentag war. Wobei – eigentlich war es schon ein Ausnahmetag, denn zwei in Not geratene Bergsteiger mussten nachts geborgen werden.
Die sonst festlichen Flutlichtanlagen wurden eingeschaltet, um die Retter zu unterstützen. Bergführer Michi Schwarzl war einer von ihnen, somit war die Nacht kurz für den 51-Jährigen. Als er früh am Morgen mit uns in die Gondel der Spielbodenbahn steigt, kann er den Schlafentzug nicht ganz kaschieren.
Die frische Luft wird ihn hoffentlich wieder munter machen, denn Schwarzl ist unser Bergführer bei einer Trekkingtour über den Feegletscher. Beim Ausstieg an der Bergstation Längfluh befinden wir uns inmitten der faszinierenden Eiswelt und schauen hinab nach Saas-Fee.
Der Ort liegt auf rund 1.800 Metern ganz hinten im deutschsprachigen Saastal. Eine atemberaubende Kulisse für den autofreien Ferienort mit seiner familiären Atmosphäre bilden dreizehn Viertausender – zusammen mit dem Feegletscher, der einst bis zum Dorfrand hinunterreichte und auch heute noch die Hälfte des Talkessels bedeckt.
Mit seinen sonnenverbrannten Stadeln zur Unterbringung von Heu und Vieh sowie seinem charmanten Dorfcharakter verzaubert Saas-Fee im Winter über 120.000 Feriengäste. Viele vergnügen sich auf Ski oder Snowboard auf den 150 Pistenkilometern, die zwischen 3.600 und 1.800 Meter Höhe angelegt sind.
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„Vermehrt suchen die Gäste aber das Erlebnis abseits der Piste und buchen einen Bergführer“, sagt Michi Schwarzl. „Skialpinismus wird immer beliebter.“ An der Bergstation schnallen wir uns für das dreistündige Gletschertrekking die Schneeschuhe an. Michi Schwarzl führt uns am Seil gesichert über die im Sonnenlicht glitzernde Schneedecke des Feegletschers.
Schritt für Schritt stapfen wir in seiner frisch gelegten Spur immer steiler bergauf zu den bizarren Türmen aus hellblauem Eis, die in den letzten Tagen allesamt eine weiße Haube aus frischem Pulverschnee verpasst bekommen haben. Auf schmalen Schneebändern geht es zwischen den wild aufgetürmten Eisbrocken hindurch.
Auf einer Kuppe halten wir inne, schnaufen der Höhenlage wegen etwas schneller und tiefer als sonst und genießen die Aussicht über das Saastal. Um uns herum herrscht absolute Stille. Das Allalinhorn scheint zum Greifen nah, wir bleiben bei unserem Trekking aber auf Abstand.
Mit Riesenschritten laufen wir durch den federleichten, knietiefen Schnee den Hang hinunter, hinter uns eine Wolke aus stiebendem Weiß. Das Allalinhorn (4.027 m) gehört zu den meistfrequentierten Viertausendern der Alpen. Zum ersten Mal bestiegen wurde der markante Berg in der Mischabelkette am 28. August 1856, als Franz Josef Andenmatten den Engländer Edward Levi Ames auf den Gipfel führte. 51 Jahre später erfolgte die erste Winterbesteigung.
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Steil auf dem Ski
Seit dem Bau der Metro-Alpin-Bergbahn 1984 sind es von der Bergstation nur noch rund 500 Höhenmeter bis zum Gipfel. Die Standseilbahn wird gerne als höchstgelegene U-Bahn der Welt bezeichnet und ist ein beliebtes Fotomotiv. Durch ihren Bau wurde die Besteigung des Allalinhorns zur Tagestour und der erste Viertausender für zahlreiche Alpinisten zum realistischen Ziel.
„Wenn im Sommer bei guter Witterung gegen hundert Personen aufsteigen, gibt es manchmal Stau auf dem Gipfel“, erzählt Michi Schwarzl, während wir am Rande einer spektakulären Spalte pausieren. Im Winter dagegen gehe tagelang niemand hinauf. Jahrzehnte ist es her, als ich im Winter auf der Haute Route von Chamonix nach Saas-Fee zum krönenden Abschluss das Allalinhorn erklommen habe.
An riesigen Gletscherspalten vorbei, stiegen wir auf unseren Tourenski immer steiler bergauf, bis wir nach mehreren Spitzkehren das Feejoch erreichten und uns am Blick auf das ikonische Matterhorn kaum sattsehen konnten. Wir deponierten die Ski und stapften in den Spuren unseres Bergführers eine knappe Stunde zum Gipfel hinauf. Der Aufstieg war einfach, das Panorama atemberaubend – so jedenfalls meine Erinnerung.
„Das Allalinhorn ist steil und kein typischer Skitourenberg“, sagt Bergführer Michi Schwarzl, während wir nach der Schneeschuhtour mit Längfluh- und Spielbodenbahn zurück ins Tal fahren. „Es wird gerne unterschätzt. Lange galt es als einfacher Viertausender. Doch das hat sich durch den Rückgang der Gletscher verändert. Die Besteigung ist schwieriger geworden.“
An einer heiklen Stelle unterhalb des Feejochs wurde inzwischen eine Leiter installiert. Einmal gab es sogar ein Projekt, die Metro Alpin bis hinauf zum Feejoch (3.807 m) zu verlängern. „Jeder hätte so vom Feejoch den Traumblick aufs Matterhorn geniessen können“, sagt Schwarzl. „Und zum Allalingipfel wäre es nur noch ein 45-minütiger Spaziergang gewesen.“ Daraus wurde aber nichts, und so bleibt der Gipfel weiterhin den Alpinisten vorbehalten. Wir hoffen darauf, ihn am nächsten Tag besteigen zu können.
Der Berg an der Quelle
Zuvor treffen wir aber noch Dominik Gnos – pensionierter Bergrettungschef und wandelndes Lexikon – in der Popcorn!-Bar auf einen Apéro. Er kennt die Geschichte des Ortes wie kein Zweiter, spickt seine Erzählungen mit Legenden und Anekdoten. Die Menschen im Saastal, bestehend aus den Gemeinden Saas-Fee, Saas-Grund, Saas-Almagell und Saas-Balen, stammen von den Walsern ab, die einst über die Pässe ins Tal kamen.
In ihren Adern fließt laut einer These des Strassburger Gelehrten Christian Moritz Engelhardt aus dem Jahr 1840 sogar sarazenisches Blut, weil Menschen arabischer Abstammung das Tal besiedelt haben sollen. Einige Flur- und Bergnamen leitete Engelhardt vom Arabischen her: „Allalin“ etwa von „ala ain“, was „an der Quelle“ bedeutet – der Berg an der Quelle. Waren damit auch die imposanten Gletscher gemeint? Was, wenn sie eines Tages geschmolzen sind?
„Der Gletscher ist für den Saas-Fee-Tourismus wichtig“, sagt Dominik Gnos. „Doch viele Touristen ahnen nicht einmal, dass sie auf dem Gletscher Ski fahren – im Sommer werden die Spalten gefüllt, damit sie im Winter keine Gefahr darstellen.“
Als Mitte des 19. Jahrhunderts der Priester Johann Josef Imseng aus Saas-Fee das Skifahren «erfand», konnte sich noch niemand vorstellen, dass man dereinst Gletscherspalten füllen, Pisten präparieren und rein zum Vergnügen auf Ski talwärts gleiten würde. Unter den Saasini – den Saastalern – gilt Imseng als erster Skifahrer der Schweiz. Um einst rechtzeitig für die letzte Ölung zu einem Sterbenden nach Saas-Grund zu gelangen, schnallte er sich Holzbretter unter die Schuhe und sauste zu Tal.
Freilich beanspruchen die Lorbeeren der ersten Skischwünge auch andere Orte in der Schweiz für sich – wie das aber so ist mit identitätsstiftenden Legenden, halten die Saasini an ihrer Version fest. Der Priester war auch der Erste, der einen Hotelbau in Saas-Grund anregte. „Mit seinem Knecht führte er außerdem Gäste in die Berge“, ergänzt Dominik Gnos. „Das passte den lokalen Bergführern nicht.
Eines Tages fand man Imseng tot im Mattmarksee. Vermutlich ertränkt. Vier Saaser Bergführer waren angeklagt und mussten in Visp vor Gericht erscheinen. Beweisen konnte man ihnen nichts. Doch die Richter sagten, wenn sie es gewesen seien, solle Gott sie strafen und in den Bergen sterben lassen.“ Gnos macht eine bedeutungsvolle Pause. „Alle vier sind sie in den Bergen umgekommen. In der Chronik des Saastals wird diese Geschichte allerdings nicht erwähnt.“
In die Tiefe statt auf den Gipfel
Der Blick hinauf zum Allalinhorn verheißt für unsere geplante Gipfelbesteigung nichts Gutes. Eine Sturmwarnung stellt das Unternehmen infrage. Immer wieder schauen wir zum Berg hoch, deutlich ist der feine weiße Schweif zu sehen, der durch den vom Sturm weggeblasenen Schnee entsteht. Einige Bergbahnen haben den Betrieb vorübergehend eingestellt.
Unser Bergführer prüft stündlich die Wetterprognosen und sagt schließlich unsere Allalin-Besteigung ab. Schweren Herzens lege ich die Skitour auf den magischen Viertausender für dieses Jahr ad acta und werde bis zum nächsten Versuch weiterhin von den lange zurückliegenden schönen Erinnerungen meiner persönlichen Erstbesteigung zehren. Das ist allemal besser, als eine Rettungsaktion mit Flutlicht am Berg zu provozieren.
Am nächsten Tag strahlt die Sonne über dem Allalinhorn – ein Bild wie auf einer Postkarte! Der Sturm hat sich gelegt, doch die Lawinengefahr ist groß. Statt hoch hinaus führt uns Bergführer Michi Schwarzl in die Tiefe. Auf dem abwechslungsreichen Klettersteig Gorge Alpine balancieren wir durch die verschneite Feeschlucht zwischen Saas-Fee und Saas-Grund.
Am Stahlseil gesichert, gehen wir vorbei an bizarren Felsformationen und riesigen Eiszapfen, über eine schwankende Hängebrücke, im Pendelsitz oder an der Tyrolienne über die spektakuläre Schlucht, in der Tiefe der wild tosende Bach. Ein Abenteuer! Drei Stunden lang sind wir auf dem Klettersteig hoch konzentriert und haben solch einen Spaß, dass wir nicht einen Augenblick der verpassten Allalin-Besteigung nachtrauern.
Wurst ohne Fleisch
Zum Abschluss unseres Aufenthalts in Saas-Fee besuchen wir den Chüestall. Als die meisten Gäste gegangen sind, gesellt sich Gastronom Rainer Gottsponer zu uns. Ein Wort gibt das andere. „Wisst ihr, warum wir Saasini von den übrigen Wallisern Wurstini genannt werden?“, fragt er amüsiert. Ihren Spitznamen verdanken die Bewohner von Saas-Fee einer aussergewöhnlichen Wurst.
Die Saaser Wurst ist nämlich die einzige ihrer Art, die man auch am Karfreitag essen kann, weil sie kein Fleisch enthält. Sie besteht aus Randen und Kartoffeln und schmeckt ganz vorzüglich. Gastronom Gottsponer serviert sie seinen verwöhnten Gästen allerdings nicht ganz vegetarisch. „Sie wird nach uraltem Hausrezept gefertigt, zu dem auch etwas Fleisch gehört", erklärt der Besitzer des Chüestalls.
Dieses und viele andere alte Rezepte von Gottsponers Vater modernisiert sein langjähriger Küchenchef Christoph Held zu himmlischen Gerichten wie Gesottenem mit braunem Kabis oder Trockenfleischtatar im Roggenbrotmantel. Müssten denn für diese wahrhaft himmlischen Gerichte dem Chüestall nicht schon längst Gault&Millau-Punkte zugesprochen werden? „Bloß nicht!“ Gottsponer verwirft die Hände.
„Ich möchte mir meine Freiheit in der Küche bewahren!“ Spät ist es, als wir gut gesättigt aus dem warmen Chüestall in die klare, kalte Winternacht hinaustreten. Es soll eine ruhige Nacht werden, das Flutlicht bleibt aus, und auch die Bergretter dürften heute genügend Schlaf bekommen. Die Bühne gehört in diesen Stunden der Natur, und die weiß sich ganz zurückhaltend in Szene zu setzen: am Himmel die Sterne und auf dem Allalinhorn nur der helle Schein des Mondes.