Wandern auf Mallorca: Und unten das Meer
Foto: Susanne Einzenberger
von Simon Schöpf
Türkisblaue Wellen, ockerfarbene Bergdörfer, graue Hochebene: Farbenreich durchquert der GR 221 den Norden Mallorcas. Eindrücke von einem der schönsten Fernwanderwege Europas.
Text: Simon Schöpf, Fotos: Susanne Einzenberger
Mallorquiner spielen gern Tetris. Seit fünftausend Jahren schon, auf rund 30.000 Kilometern. Anders kann man sich das Gesamtkunstwerk der Trockensteinmauern nicht erklären, die sich abenteuerlich über Steppen und Bergrücken ziehen und für die größte Baleareninsel ebenso charakteristisch sind wie die traumhaften Badebuchten mit türkisblauem Mittelmeer. Stein für Stein, Meter für Meter: ein Tetris-Level für Großmeister.
„Wenn du einmal selbst probiert hast, mehr als drei Steine zu stapeln, fallen sie sofort wieder zusammen. Das ist richtige Handwerkskunst, ein Kulturerbe der Araber“, weiß Patrick John und streicht dabei respektvoll mit seiner Hand an einer der Steinmauern entlang, die sein Grundstück, seine Finca, durchziehen.
Vor sechzehn Jahren kam er nach Mallorca. Mit zwanzig wollte er raus aus Dresden, das mediterrane Flair hat ihn sofort gefesselt. Mitten auf seiner Finca hat er vor zwei Jahren das Refugi de Ses Fontanelles eröffnet, die erste Schutzhütte auf der Ruta de Pedra en Sec, dem Weg der Trockensteinmauern quer durch die Serra de Tramuntana, den mächtigen Gebirgszug im Norden Mallorcas.
Wandern im Welterbe
Wir sind auf dem GR 221 unterwegs, wie der Weg offiziell heißt. Die Bezeichnung lässt allerdings eher Assoziationen mit einer polnischen Waschmaschinentype aufkommen als mit einem der schönsten Wanderwege Europas. Führt der GR (Gran Recorregut auf Katalanisch) doch durch lieblich terrassierte Olivenhaine und süß duftende Orangenplantagen, durch lichte Waldstriche voller Steineichen und Johannisbrotbäume. Über die kargen mallorquinischen Hochebenen, drapiert mit den hüfthohen Büscheln Càrritx, dem Schneidgras, das der Mittelmeerinsel sogar im höchsten Sommer und im tiefsten Winter ihr immergrünes Kleid überzieht. Durch Täler mit ockerfarbenen Bergdörfern und einsamen Bauernhöfen, vorbei an grasenden Schafen und wilden Ziegen. Durch eine Karstlandschaft, die aussieht, als hätte ein Riese über das ganze Gebirge überdimensionale Steinhäufchen verteilt.
Dabei immer in der Nase: eine frische Brise Mittelmeerluft, die man auch tausend Höhenmeter über der Küste noch genüsslich einatmet. Auf der Haut die schmeichelnde Frühlingssonne, die auch den letzten Gedanken an den heimischen Winter verblassen lässt. Es muss wohl die perfekte Kombination aus all dem sein, die die UNESCO dazu brachte, die Serra de Tramuntana 2011 zum Welterbe zu erklären.
Wege à la carte
Wenn eine jeden Stein, jeden pedra, auf der Ruta de Pedra en Sec kennt, dann ist das Aina Escrivà. Die charismatische Mallorquinerin mit deutscher Mutter ist seit 30 Jahren Wanderführerin auf der Insel. Dass sie seitdem fast jeden Tag in den Bergen verbracht hat, erkennt man an ihrem ausgeglichenen, natürlichen Wesen. Den Weg der Trockensteinmauern ist sie bereits über 50 mal gegangen. So gut kennt sie die Gegend, dass sie ihr Wissensgebiet gleich mitkartografiert: Zusammen mit ihrem Mann Jaume – ebenfalls begeisternder Wanderführer – erstellt sie nun schon in dritter Auflage detailverliebte Wanderkarten von der Serra.
„Ihr müsst euch den GR 221 als Projekt in Arbeit vorstellen, nicht als fertiges Produkt“, betont sie, „der Weg ist erst im Aufbau.“ Noch ist nicht die gesamte Strecke offiziell ausgeschildert, ein Großteil des Gebirges ist auf Mallorca nämlich Privatbesitz. So muss die Regierung Abschnitt für Abschnitt, Kilometer für Kilometer mit den Grundstücksbesitzern aushandeln, „ein langsamer und komplizierter Prozess“, meint Aina und verdreht theatralisch die Augen.
Doch das Wunderbare am GR 221: Er lässt sich à la carte zusammensetzen und komplett individualisieren. Wer es wirklich wissen will und bereits den ganzen Weg gehen möchte, packt Karte und GPS ein und schultert den 75-Liter-Rucksack ganz im Westen, im mondänen Port d’Andratx. Von hier geht es in neun sportlichen Tagesetappen über 130 abwechslungsreiche Kilometer bis Pollença ganz im Osten des Gebirges, dem vorläufigen Endpunkt der Route. „Irgendwann wird der Weg zum Grande Finale ins Cap Formentor einlaufen, aber noch fehlt ein vernünftiger Wanderweg dorthin“, bemerkt Aina. Für das Dessert muss man sich also noch ein wenig gedulden.
Wer die Ursprünge des Wanderns auf Mallorca verstehen will, der hört einen Namen immer wieder: Paco Ponce. Der temperamentvolle Mallorquiner gilt als Wanderpionier der Insel, 1976 veranstaltete er erstmals für deutsche Gäste die legendäre Neckermann-Wanderwoche.
Das Angebot schlug ein, Paco brauchte Verstärkung: 1995 überredete er seinen Freund Salvador Suau, sich als Flugbegleiter ein Jahr Auszeit zu nehmen, um mit ihm Touristen über die Insel zu führen. Tomatensaft mit Pfeffer servierte Salvador seitdem nie wieder – er war nun im Bergfieber. Und 1996 schaffte er gleich im ersten Anlauf die Bergführerausbildung; „aus purer Leidenschaft für die Natur“, wie er schwärmt.
Salvador, groß gewachsen und mit ungemein gutmütigen Wesenszügen, stammt aus Fornalutx, einem 700-Einwohner-Nest, das „bereits zweimal zum schönsten Dorf Spaniens gekürt wurde“, wie er nicht ganz ohne Stolz betont. Im Jahr 2004 ging Paco schließlich in Rente, und Salvador ist seither dessen Nachfolger. Wer mit ihm unterwegs ist, der wandert meistens auf Trampelpfaden, die nicht einmal auf Ainas Wanderkarte markiert sind.
„Ich nenne die Gegend die mallorquinischen Alpen. Die Alpen mit Meerblick“, schwärmt er in exponierter Lage am Felsenkamm, 400 luftige Höhenmeter über seinem Heimatort, der seinerseits 400 Meter über dem Meer liegt. Das Mittelmeer liegt weit unter uns, am Horizont verschwimmt es mit dem wolkenlosen Himmel zu einer blauen Endlosigkeit.
Ab dem Städtchen Sóller geht es mit dem GR 221 dramatisch steil bergauf: Die Etappen durch die Schlucht von Biniaraix, über die karge Hochebene des Cúber-Stausees und zum Kloster Lluc sind das Herzstück der Route.
Und über allem thront mächtig der Puig Major, der Große Berg, mit 1.445 Metern die höchste Erhebung der Insel. „Der Gipfel ist leider seit 1958 militärisches Sperrgebiet, ganz oben steht eine Radarstation der NATO“, sagt Salvador und zeigt dabei auf die leicht außerirdisch anmutende Kuppel in der Ferne. Zum Trost gibt es aber noch 53 weitere „Tausender“ in der Serra de Tramuntana.
Auch das macht den GR 221 so spannend: Es lohnt sich immer wieder, einmal kurz vom Weg abzuzweigen und die Umgebung zu erkunden. Zum Beispiel an den Steilklippen unterhalb des Refugi de Muleta, nur ein paar Meter abseits des offiziellen GR-221-Wegs, bei Port de Sóller, wo Wagemutige an den Felsen Deep Water Soloing versuchen können, oder, wie es auf der Insel so charmant heißt: Psicobloc. Im Falle eines Sturzes gibt es kein Seil, das einen hält, dafür eine garantierte Abkühlung beim Eintauchen in das tiefblaue Mittelmeer.
Oder ein Exkurs zu einer Landschaft, die tief unter den Wegmarkierungen schlummert: Schwer behangen mit Karabinern, seilen wir uns mit Patrick John in die Cova de Sa Campana, die tiefste Höhle der Balearen. Unvorstellbare 358 Meter geht es hier in die Tiefe, Kammer um Kammer, Schacht um Schacht. Am Ende wartet ein riesiger Höhlensee, drei Tage braucht ein Expeditionsteam, um diesen Punkt zu erreichen.
Wir begnügen uns fürs Erste mit der obersten Höhlenkammer, der Sala Gràcia. „Die ganze Kathedrale von Palma würde hier reinpassen“, schwärmt Patrick und schaltet die Stirnlampe auf maximale Leistung. Vom Lichtkegel erhellt, zeigt sich eine märchenhafte Welt unter der Erde: Meterhohe Stalagmiten, Sinterbecken voll mit glasklarem Wasser, verwunschene Kammern, bis oben gefüllt mit fragilen Kristallstrukturen. „Aber das Beste“, sagt Patrick, „ist die absolute Stille hier unten.“
Zurück an der Erdoberfläche, fragt Patrick: „Wollt ihr meinen neuen Song hören? Nächste Woche ist der Release!“ – und dreht die Musikanlage seines Geländewagens auf Anschlag. Clubtechno dröhnt aus den Boxen, die Ruhe der Höhle ist plötzlich ganz weit weg. Fast hätten wir vergessen, dass Mallorca auch solche Stücke spielt. Aber wir schalten den Ballermann aus und gönnen uns einen entspannten Tagesausklang mit Sangria, Strand und Sonnenuntergang. Das kann die Insel auch ganz wunderbar.
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