Wandern auf Madeira – Wo immer Frühling ist
Madeira, die portugiesische Insel im Atlantik: zerklüftet und felsig im Norden, sonnig und sanft im Süden. Wir folgen den alten Wasserkanälen, die die Insel durchziehen.
Text: Sibylle Hamann, Fotos: Andreas Jakwerth
Wenn ein Wanderer oben am Berg steht, hat er zwei Möglichkeiten. Entweder er stürzt sich auf dem kürzestmöglichen Weg ins Tal hinunter. Dann wird’s ziemlich steil. Er rutscht halsbrecherisch über Stock und Stein bergab, und ziemlich bald tun ihm die Knie weh. Oder aber, zweite Möglichkeit: Er lässt sich Zeit. Wählt einen längeren, aber flacheren Weg, setzt bedächtig einen Fuß vor den anderen, bleibt an manchen Stellen vielleicht sogar stehen, streckt sich und genießt die Aussicht.
So ähnlich ist das mit dem Wasser, auf der Insel Madeira zumindest. Es regnet hier ausgiebig in den Bergen; ginge es nach den Gesetzen der Schwerkraft, würde sich dieses Wasser auf der Direttissima in Richtung Meer hinunterstürzen, in Wasserfällen über steile Klippen. Doch das madeirische Wasser nimmt den zweiten Weg. Es fließt langsam und gemächlich. Es wird durch gemauerte Kanäle geleitet, die man „Levadas“ nennt. 2.880 Kilometer davon durchziehen die Insel – manche sind in Beton gefasst und mehr als einen Meter breit, andere schmal und von Pflanzen gesäumt. Das Wasser fließt stets mit geringem Gefälle annähernd die Höhenlinie entlang, nährt auf seinem Weg Blumen und Gemüsegärten, labt Durstige, sammelt frische Quellen ein, verzweigt sich wieder und legt hunderte gemütliche Umwege zurück, ehe es irgendwann unten ankommt.
Die längeren Wege sind – beim Menschen und beim Wasser – fast immer die schöneren. „Vom Wasser haben wir’s gelernt, vom Wasser!“ So beginnt die zweite Strophe von Franz Schuberts berühmtem Lied über das Wandern. „Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht, Ist stets auf Wanderschaft bedacht, Das Wasser, das Wasser.“ Wanderer, folge dem Wasser: Was Madeira betrifft, ist das ein großartiger Ratschlag. Christa weiß das schon lang. Christa heißt mit Nachnamen Dornfeld-Bretterbauer, doch auf Madeira kennt sie jeder nur per Vorname. Und beinahe jeder kennt sie. Seit zwanzig Jahren lebt sie hier auf der Insel, aus Liebe zum Wasser, aus Liebe zur Natur und aus Liebe zum Wandern. Sie kennt hier jeden Stein. Sie stapft an der plätschernden Levada entlang, ihre Schritte sind fest und tänzelnd zugleich, und überall gibt es irgendetwas zu sehen, was ihr Freude macht.
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Zu Besuch bei einem wichtigen Mann
Hier die intensiv duftenden Rosmarinstauden. Die werden an den Eingängen zu den Gemüsegärten gepflanzt, damit sie alles Böse fernhalten. Christa reibt ein Zweiglein zwischen den Fingern und riecht daran. Da das fette Dickblattgewächs, das im Frühjahr zigtausendfach rosa blüht. Vor religiösen Festen werden die Blüten geerntet und in dichten bunten Teppichen auf die Straßen gelegt. Links und rechts, an den Ecken der niedrigen Hausdächer: Das sind die Schutzgeister. Dann zeigt sie den Hang hinauf, über das grün schattierte terrassierte Gelände. „Dort oben“, sagt sie, „wohnt mein Freund Fernando, der Levadeiro. Schauen wir einmal, ob er zu Hause ist.“
Der Levadeiro ist ein wichtiger Mann auf Madeira. Er ist dafür verantwortlich, dass das Wasser fließt. Täglich geht er prüfend zehn bis fünfzehn Kilometer weit seinen Abschnitt der Levada entlang. Er achtet darauf, dass es keine Behinderungen gibt, dass kein Abfluss verstopft ist und dass der Trampelpfad entang des Wassers nicht überwuchert wird. Man erkennt den Levadeiro sofort. In der einen Hand trägt er stets eine Laterne, er muss auch Tunnel durchqueren. In der anderen Hand hält er die traditionelle kleine, gezahnte Sichel, „Fusi“ genannt, die er benützt, um Gräser oder kleine Äste abzuschneiden.
Weil es neben jedem Kanal einen Weg für den Levadeiro geben muss, gibt es auf Madeira heute tausende wunderschöne öffentliche Wege, die auch von Wanderern genützt werden können. Wenn man sich erst einmal an das sanfte Plätschern gewöhnt hat, das einen auf Schritt und Tritt begleitet, will man es irgendwann gar nicht mehr missen. Es ist jedoch etwas grundlegend anderes, an einer Levada entlangzugehen als an einem Bach. Denn sie ist nicht Natur, sondern Kultur. Sie verbindet Menschen. Immer wieder öffnen sich an ihrem Rand steinerne Bottiche, in denen Wäsche gewaschen wird. Alle paar Meter gibt es Verzweigungen, die durch Steine geöffnet oder verschlossen werden können. Zu einem genau festgelegten Terminplan wird das Wasser so in die einzelnen Gärten geleitet. Auch dafür ist der Levadeiro verantwortlich. Er ist nicht nur der Wächter der Wege; er hält auch den gesellschaftlichen Mikrokosmos dieser Insel zusammen.
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Ein bisschen unheimlich
„Auf dieser Insel ist alles mit allem verbunden“, sagt Christa. Um zu verstehen, wie sie das meint, geht man am besten mit ihr hinauf auf die Hochebene Paul da Serra im Westen der Insel, wo der Weg des Wassers beginnt. Wolken hüllen das Hochplateau ein, trotzdem spürt man, wenn der Nebel kurz aufreißt, die Weite in alle vier Himmelsrichtungen. Die Paul da Serra trennt die beiden grundverschiedenen Teile der Insel: zerklüftet, felsig und feucht der Norden; sonnig, sanft und trocken der Süden. Schon die ersten Siedler im 15. Jahrhundert begannen damit, das Wasser vom Norden in den Süden umzuleiten, wo es für die Landwirtschaft besser nutzbar war.
An den Nordhängen der Paul da Serra befinden sich einige von Christas Lieblingsplätzen. Hier, wo sich der Regen staut, stehen die letzten Reste der riesigen Lorbeerwälder, die einst die ganze Insel bedeckten. Knorrige, mächtige Stämme sind das, manche 600 Jahre alt, Farne hängen von krüppeligen Ästen, Flechten und dicke Moospolster bedecken sie. Ein bisschen unheimlich fühlt es sich an. Es riecht nach Pfefferminz und wildem Thymian. „Zauberwald“ nennt Christa diesen Ort.
Wasser ist hier überall, in der Luft, unter den Sohlen der Schuhe. Es macht den Boden sumpfig, staut sich in Tümpeln, sickert durchs Gestein, sammelt sich zur wichtigsten Lebensader der Insel, der Levada do Norte. Diese nimmt alles auf, was aus den Bergen kommt, wird immer mächtiger, taucht in Tunneln unter den Felswänden durch, wird dann, mit 400 Meter Fallhöhe, durch die Turbinen eines Kraftwerks geschleust, ehe sie auf den fruchtbaren Hängen des Südens ankommt – und sich auf unendlichen Umwegen durch die terrassierten Hügel schlängeln darf.
Dort warten Bananen, Zuckerrohr, Kohl, Süßkartoffeln, Mais und Bohnen. Dort warten Wiesen und durstige Tiere. Alle Levadeiros auf der langen Reise des Wassers werden ihren Dienst tun, hoffentlich, und drauf achten, dass die Wege am Wasser frei bleiben. Wanderer werden diese Wege benutzen und sich dran erfreuen, dass man hier so gemütlich gehen kann. Und Christa wird immer wieder vorbeikommen, um nach dem Rechten zu sehen.
Die Reise-Story ist im Bergwelten Magazin (Februar/März 2018) erschienen.
Information und Buchung: www.weltweitwandern.com