Der Wildnis so nah: Wandern in Neuseeland
Im Norden Neuseelands beginnt das ungezähmte Land gleich am Stadtrand. Unterwegs am Hillary Trail, wo man an steilen Klippen und durch verwachsene Wälder wandert.
Text: Tristan Berger, Fotos: Sebastian Gabriel
Am anderen Ende der Erde liegt ein Land, das eine Welt für sich ist: Neuseeland. Der unterste Zipfel der Südinsel wird von majestätischen Fjorden zerklüftet. An den gletscherbedeckten Flanken des 3.724 Meter hohen Aoraki bereitete sich Edmund Hillary auf die Erstbesteigung des Mount Everest vor. Die Nordinsel ist geprägt von vulkanischer Aktivität, die dem Zentrum bunte Seen, Geysire, aber auch einen gewöhnungsbedürftigen Schwefelgeruch beschert.
Wer diese unterschiedlichen Klima- und Vegetationszonen erleben will, muss die Wanderschuhe schnüren. „Man kann auf unzähligen Hikes, Walks und Trails in wenigen Tagen die unterschiedlichsten Landschaften erkunden“, sagt Sebastian Gabriel, 30. Für den Münchner Fotografen ist Neuseeland seit jeher ein Sehnsuchtsort. Wie gut, dass sein Freund Stefan Klitzsch hier gerade ein Auslandssemester seines Fotografiestudiums verbringt. Ein Grund mehr, um mit Sebastians langjährigem Reisepartner Carlo Nestler und Stefan den Norden des Landes im Camper-Van zu entdecken, wo gut ein Viertel der 4,3 Millionen Einwohner Neuseelands im Ballungsraum der Metropole Auckland leben. Doch selbst von hier ist die Wildnis keine Autostunde entfernt.
Die Waitakere Ranges, im wilden Westen Aucklands, sind bekannt für ihre raue, ungezähmte Schönheit: Hier brechen sich die hohen Wellen der Tasmanischen See an steil abfallenden Klippen, sanft laufen sie an langen schwarzen Sandstränden und den von Felsen umrahmten wildromantischen Sandbuchten von Karekare und Piha aus.
Neuseeland outdoors bedeutet, sich der ursprünglichen Natur auszusetzen. Für einen Kiwi, wie sich die Neuseeländer nach ihrem Nationaltier nennen, beginnt das bereits in der Schule. Fast jeder Neuseeländer ist von klein auf zum Tramping, zu Wandertouren in der Wildnis, unterwegs. Kein Zufall, dass 1894 mit dem Tongariro-Park im Zentrum der Nordinsel einer der ersten Nationalparks weltweit errichtet wurde.
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Wie im Freilichtmuseum
Besonders intensiv lässt sich dieses Gefühl auf dem Hillary Trail erleben. Der nach dem neuseeländischen Bergsteiger Edmund Hillary (1919–2008) benannte Track verbindet ein Netzwerk von zuvor bereits existierenden Wanderwegen und Backpacker-Zeltplätzen. Er führt in vier Tagen vom Arataki Visitor Center in das 77 Wegkilometer nördlich gelegene Küstennest Muriwai. Man könnte meinen, dass man in eine andere Welt eintaucht. Und tatsächlich stimmt das ja auch: Rund 85 Prozent der höheren Pflanzen Neuseelands gibt es nirgendwo sonst auf der Welt.
Die Strecke wurde ganz im Geiste des Everest-Erstbesteigers angelegt; breite und bestens gepflegte Pfade, wie sie auf anderen Trekkingklassikern des Inselstaates die Regel sind, gibt es hier nicht. Schon nach wenigen hundert Metern führt nur noch ein schmaler Weg in stetem Auf und Ab über Wurzeln und Felsblöcke durch die zerklüfteten Hügel.
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Wesentliche Teile der einheimischen Vegetation stehen unter Naturschutz, selbst einen Ast abzubrechen oder Fundholz mitzunehmen ist verboten. Am Zugang zum Trail muss man eine Desinfektionsstrecke durchlaufen, um keine Neozoen in ein Freilichtmusem der Natur einzuschleppen, das vereinzelt noch aus den alten Wäldern des vor 70 Millionen Jahren zerbrochenen Südkontinents Gondwanaland besteht. Demselben Zweck dienen 30 Zentimeter hohe Holzstege, die über dem eigentlichen Pfad liegen.
Anfangs führt der Weg durch schroffes Vulkangestein, je nach Höhenlage ändert sich die Vegetation. Einmal herrschen Büsche und ein Macchiaähnlicher Bewuchs vor. Dann wieder wandert man unter einem derart dichten Blätterdach, dass kein Fleckchen Himmel mehr zu erkennen ist. „Bush“ nennen die Neuseeländer die Wildnis, die sich nach der Abholzung der Kauri-Wälder im 18. und 19. Jahrhundert regenerierte. Die Luft ist erfüllt vom Rascheln und Zwitschern der einzigartigen Vogelwelt Neuseelands – und oft auch voller Mücken, was zur frühen Flucht vom Karamatura Campground führt, dem ersten Tagesziel nahe dem Örtchen Huia.
Am zweiten Tag der Wanderung führt ein steiler Anstieg aus dem Karamatura-Tal auf einen Kamm, wieder abwärts, dann weiter über drei steile Hügel. Sebastian und Carlo, die beiden pakeha, wie die Maori die Europäer nennen, sind inzwischen auf dem spektakulärsten Teil des Hillary Trail unterwegs, dem Omanawanui-Abschnitt. Fantastisch ist der Rundblick, tiefblau leuchtet das Meer. Ein Abstecher zu den Seehöhlen am Fuß des Felsens lohnt sich.
Die Kiwis scherzen, dass man in Neuseeland an manchem Tag vier Jahreszeiten erleben kann, denn das Wetter ist hier unberechenbar. Wenn die Wolkenmassen nach ihrer Reise über die Tasmanische See auf Land treffen, öffnen sie ihre Schleusen; die nur 300 Meter hohen Hügel und Klippen, die schwindelerregende 100 bis 150 Meter ins Meer stürzen, sind dann nebelverhangen, die Wege matschig.
Wildnis mit Handyempfang
Am dritten Tag der Wanderung muss aber die Sonne scheinen. Viele Strände warten am Weg, ständig ist man versucht, ins Wasser zu springen. „Am schönsten ist Karekare“, sagt Sebastian – mit seiner atemberaubenden natürlichen Schönheit und der abgeschiedenen Lage einer der malerischsten Strände der Waitakere Ranges. Etwas weiter nördlich wartet Piha. Der Ort ist ein bekannter Surfspot mit guter Infrastruktur, aber während der Sommermonate ziemlich voll.
„Auf dem Trail fühlt man sich der Natur sehr nah“, sagt Sebastian, an manchen Tagen begegnet man kaum einem Wanderer – und trotzdem ist die „sichere“ Zivilisation immer nah. Jederzeit gibt es Handyempfang, der vor allem dazu führt, dass die zu Hause verbliebenen Freunde allmorgendlich von Fernweh gepackt werden, wenn Sebastian atemberaubende Fotos vom anderen Ende der Welt schickt.
Wo die Seelen starten
Zum Beispiel von Cape Reinga, dem nordwestlichsten Punkt von Mainland, wie die beiden Hauptinseln auch genannt werden. Einen Teil der Strecke kann man direkt auf dem Strand fahren, dem legendären, wie mit einem Lineal gezogenen Ninety Mile Beach. „Je nördlicher man ist, desto karger wird die Vegetation“, sagt Sebastian. „Innerhalb von 250 Kilometern durchfährt man mehrere klimatische Zonen, von subtropisch bis fast steppenartig.“
Carlo kann sich vor allem für das Wasser begeistern. „Direkt vom Auto aufs Brett ins Meer, so etwas gibt es sonst nirgends“, schwärmt er – und davon, dass es hier die besten linkshändigen Surfwellen der Welt gibt, von den imposanten Sonnenuntergängen ganz zu schweigen. Sollte das Meer einmal nicht mitspielen, gibt es in der Nähe immer noch die 100 Meter hohen Te-Paki-Sanddünen. Auf ihren steilen Hängen kann man mit Surfboards gut hinuntergleiten.
Am Cape Reinga geht der Blick auf die spektakulären Strömungen, mit denen die Wassermassen der Tasmansee und des Pazifiks aufeinanderklatschen. Hier startet der mehr als 3.000 Kilometer lange Fernwanderweg Te Araroa, der die Nordspitze des Landes mit Bluff ganz im Süden verbindet. Doch auch rund um Cape Reinga gibt es eindrucksvolle Wanderungen, von denen der viertägige Cape Reinga Coastal Walk sicherlich der abwechslungsreichste ist.
Für die Maori beginnt am Cape Reinga jedoch eine ganze andere Reise, die letzte nämlich: Von hier, so glauben sie, starten die Seelen der Toten den langen Pilgerweg zurück ins mythische Land Hawaiki, von wo aus sie einst nach Neuseeland aufbrachen.
Infos, Adressen und Touren: Wandern in Neuseeland
Die Reise-Story ist im Bergwelten-Magazin (Dezember/Jänner 2018) erschienen.