Argentinien: Im Tal des Kondors
Argentiniens unbekannter Nordwesten: Wir wandern in bizarren Landschaften, reiten durch wilde Steppen, radeln über Salzseen und verkosten in Weingärten kühlen Torrontés. Die Story ist im Bergwelten Magazin (Februar/März 2018) erschienen.
Text: Sissi Pärsch, Fotos: Sebastian Doerk
Ständig muss man trinken. Wasser, weil die Sonne stark und der Regen rar ist, hier in der Andenprovinz Salta im äußersten Nordwesten Argentiniens; Kokatee, weil es hoch hinausgeht und die Blätter schon die Inkas vor der Höhenkrankheit bewahrt haben; und Wein, weil wir uns nah dem Städtchen Cafayate mitten in einem der berühmtesten Weinanbaugebiete Südamerikas befinden.
An diesem frühen Morgen haben wir Wasser im Rucksack, roten Fels vor den Augen und Guide Jorge an unserer Seite. Was wir nicht wirklich haben, ist eine Ahnung, wie dieses Seitental heißen mag, in das wir von der Quebrada de las Conchas abgezweigt sind. Argentinien ist schlichtweg zu groß. Man würde mit dem Taufen gar nicht mehr nachkommen, wollte man jeden Berg, jede Schlucht und jedes Tal benennen.
„Tal des Kondors“, sagt Jorge schließlich, als wir auf einem feuerroten Bergrücken stehen. Er schmunzelt, und wir trinken auf die spontane Namensgebung einen Schluck – vorerst einmal nur Wasser.
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Stein-Pilze in Pink
Jorge ist ein Glücksfall für uns. Er spricht fließend Englisch, hat ein strahlend weißes Lächeln – unter den Koka kauenden Guides der Anden eine Rarität – und ist allwissend. So erscheint es uns zumindest, während wir durch die dornenreiche Menschenleere wandern. Er erklärt tektonische Überschiebungen, die diese Landschaft aufgetürmt und gefaltet haben, kennt sich aus mit Mineralogie, Inka-Historie und Iron Maiden – wer braucht Google, wenn er Jorge hat? Außerdem weiß er, wo’s langgeht.
Wir wiederum sind ein Glücksfall für Jorge. Viele seiner Gäste wollen kaum von der Straße weg. Die Ruta 68, die das Cafayate-Tal durchschneidet, gilt als eine der schönsten Strecken Argentiniens und bietet praktische Hotspot-Stopps für Gehfaule. Ein paar hundert Meter durch ein Spalier an Souvenirständen und Panflötenpfeifern, und schon steht der Tourist im Fotogenen Anfiteatro oder vor El Obelisco.
Unseren Weg flankieren hingegen „brennende“ Felsen und Stein-Pilze, die wie von Kinderhänden aus rot-braun-pinker Knetmasse geformt scheinen. Einmal wirken sie massiv und monumental, dann wieder wackelig und fragil.
Man kennt diese unwirkliche Szenerie aus Arizona, aber hier, in Argentinien? Bei Südamerikas zweitgrößtem Land denkt man an Tangotänzer und Fitz Roy, an Buenos Aires und Patagonien. Der Nordwesten hingegen – die Provinzen Salta und Jujuy, die an Chile und Bolivien grenzen – ist für die meisten unbekanntes Terrain, auch wenn die Region sensationell schön ist und die Sonne gerade dann strahlt, wenn Schmuddelwetter Europa fest im Griff hat. Und neben dem Wein gibt es gerade für Outdoor-Sportler viel zu tun: Man wandert in bizarrer Landschaft, reitet durch wilde Steppen, radelt über Salzseen.
Dazu kommt dieses besondere Kulturgemisch: „Ich habe indigene und spanische Wurzeln“, zählt Jorge auf. „In mir fließt aber auch arabisches und afrikanisches Blut. Wir sind eben ein Land der Einwanderer. Die Inka kamen 1400 von Peru, die Kolonialzeit begann 1516, aber bei uns findest du auch Gauchos wie Griechen, Türken und Polen.“
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Nach der morgendlichen Wanderung kehren wir zum Mittagessen wieder nach Cafayate zurück. Das Städtchen ist das Herz der Region. Es schlägt kräftig, aber zur stressfreien Siesta-Zeit sehr entspannt. Der alte Dorfpolizist gähnt, ein Dreadlockiger flicht seine Armbändchen, ein Esel rupft am Gras. Die bunt bemalten Fassaden verleihen dem Ort zusätzliches Hippie-Flair.
Ganz anders präsentieren sich die herrschaftlichen Wein-Haciendas in den Hügeln ringsum, allen voran das leuchtend weiß getünchte Gut El Esteco, in das uns Jorge zur Verkostung entführt – damit wir auch ja stets ausreichend trinken. Iris Estrada leitet uns auf einer Führung durch die Rebzeilen und schwärmt von dem ausschließlich in Argentinien gekelterten Weißwein Torrontés . Der Wein ist fruchtig und sanft, und wir müssen uns ein wenig zügeln zu dieser Stunde. Es liegt aber nicht am Wein, dass die Felsen zu leuchten beginnen. Am späten Nachmittag wird das Licht wieder weicher und verführt uns zu einer Wanderung zum monumentalen Felsblock Los Castillos.
Am Ende des einsamen Wegs waten wir barfuß durch ein seichtes Flussbett und werfen den Kopf weit in den Nacken, um die vor uns senkrecht aufragenden Wände zu erfassen. Ständig muss man staunen hier. Und natürlich trinken. Inmitten der Castillos entkorken wir einen Torrontés und packen Empanadas aus.
In Saltas Nachbarprovinz Jujuy wird kein Wein angebaut. Dafür wird in den gleißend weißen Wüsten der Salinas Grandes Salz abgebaut. Dort, verspricht Jorge, führen die Wanderrouten durch surreal schöne Landschaften und hoch hinauf. So machen wir uns auf gen Norden. Schon der Roadtrip bietet ganz großes Kino. Wir passieren Kakteenwälder, Tabakplantagen, Weideland und weiß-grau-grüne Berge, zerfurcht wie Elefantenhaut.
In Tilcara erwartet uns David, ein Freund von Jorge, der in dem Städtchen der Mann für die Berge ist. Sein Rücken ist breit, wie es sich für einen Kletterer gehört; seine Backe ist dick gefüllt mit Kokablättern, wie es sich für einen Andenmann gehört. Er hat die Beine eines Gauchos und schießt aus der Hüfte freche Sprüche.
„Cafayate“, meint David, „hat den Wein, aber wir die Wege. Wenn du wirkliche Treks suchst, dann kommst du nach Tilcara.“ Seine Lieblingsroute führt von der steinigen Steppe seiner Heimat über vier Tage und 4.200 Meter hohe Pässe bis in den Dschungel nach Calilegua. Das Gepäck transportieren die Esel.
Uns transportieren Davids Pferde. Auf ihnen reiten wir Richtung Cerro Negro. „Das macht man hier so“, meint David und setzt uns ohne Diskussion auf breite Rücken. Die Tiere bewegen sich eigenständig durch das Gelände. Das Gesäß ist dennoch dankbar, als wir nach einer Stunde wieder auf eigenen Füßen stehen, um in die Garganta del Diablo zu wandern.
Der staubige Weg windet sich um Kakteen in die Tiefe, hinab in den Schlund des Teufels. Die perfekte Gelegenheit, David die Gretchenfrage zu stellen: Sag, wie hältst du’s mit der Religion? David zuckt mit den muskulösen Schultern: „Bei uns fließt alles zusammen. Wir im Norden leben den Synkretismus. Wir sind Katholiken, die zu Pachamama beten.“ Demonstrativ zeigt er hinauf zum Himmel und hinunter zu Pachamama, zur Mutter Erde. Ihr wird an den zig Apachetas gehuldigt – aus Stein aufgetürmten Gebetsstätten, die hier die Wege und Pässe markieren.
In Purmamarca begegnen uns einige Steinmale. Postkartenidyllisch schmiegt sich der Ort an die bunten Wände des Cerro de los Siete Colores; wir zählen weit mehr als die sieben Farben, von denen der Bergname kündet. Als wäre ein Maler mit gigantischem Pinselstrich über den Fels gezogen.
Erde, Himmel, Mond
Am nächsten Tag bleiben die meisten Touristen im Dorf und shoppen Indio-Produkte. Wir jedoch brechen unter der flirrenden Mittagssonne zu den Salinas Grandes auf. Die Sonne auf der argentinischen Flagge, so klärt uns David auf, repräsentiere den gemeinschaftlichen Aufbruch in die Unabhängigkeit – die geraden Strahlen stünden für die indigene Bevölkerung, die gewellten für die Eroberer der Neuen Welt.
Am Pass stoppt David an einer Apacheta, um Pachamama Kokablätter zu opfern. Vertieft in ein Gespräch über Himmel und Erde, landen wir schließlich auf dem Mond – auf der riesigen flimmernden Salzebene der Salinas. David meint, dass wir statt kleiner Schritte lieber eine Bike-Tour über die 30 Zentimeter dicke Salzkruste machen sollten. Also pedalieren wir auf 3.600 Metern und gegen den Wind über den Salzsee. Der Sinn erschließt sich uns nicht ganz, aber es macht Spaß.
An den Ojos de Agua, den tiefblauen Seen inmitten der weißen Weite, rätseln wir, wie diese sensationelle Landschaft so unbekannt sein kann. Davids breite Brust schwillt voll Stolz. „Ihr dürft es ja weitererzählen“, sagt er großzügig und prostet uns zu: „Vergesst nicht zu trinken.“